Geht es um Rationierung oder um Sozialraumgestaltung?
Flughäfen zu bauen dauert in Berlin bekanntlich viele Jahre. Aber auch ein Elterngeldantrag braucht bis zur Auszahlung gerne bis zu neun Monate. Grund ist die finanzielle Misere der Berliner Bezirke. Sie mussten in den letzten Jahren so viel Personal abbauen, dass Behörden und ihre Mitarbeitenden nur noch eine Minimalausstattung haben. Die Folgen sind hohe Krankenstände dort und antragstellende Familien, die teilweise in finanzielle Schwierigkeiten geraten.
In so mancher Großstadt fließen die öffentlichen Brunnen nur noch mittels privaten oder unternehmerischen Sponsorings. In Berlin werden jedoch viele Grünflächen gar nicht mehr gepflegt. Ergebnis sind ein gewisses Dschungelambiente und zahlreiche wilde Feldblumen, die nicht der outgesourcten Gärtnereitruppe zum Opfer fallen. Leere Haushaltskassen sind ein Phänomen, das viele Kommunen kennen. Die Auswirkungen sind in einer Millionenstadt wie Berlin krasser und bereits für den normalen Bürger im Alltag spürbar. Die finanzielle Misere der öffentlichen Haushalte befördert einen Trend, der auch in den neuen Bundesländern um sich greift: die Kommunalisierung.
Kommunalisierung bedeutet nicht Gestaltungsfreiheit
Immer mehr staatliche Aufgaben werden auf die Kommunen verlagert. Dieses gibt den Kommunen zwar theoretisch mehr Gestaltungsmöglichkeiten, führt aber auch häufig zu einer Überlastung und problematischen Rollenverschiebungen. Da das Erzbistum Berlin und damit auch der Caritasverband drei Bundesländer im Osten und entsprechend viele Kommunen sowie die ärmsten Landkreise der Bundesrepublik umfasst, sind hier verschiedene Kommunalisierungstrends zu beobachten.
Vor dem Hintergrund der sogenannten „Schuldenbremse“ in den öffentlichen Haushalten hat die Landesregierung von Brandenburg eine „Modernisierung“ der Verwaltung beschlossen. Neben dem Abbau von Bürokratie durch Zusammenlegung von Verwaltungen sollen Aufgaben kritisch auf ihre Notwendigkeit hin überprüft werden. Daher stehen jetzt Veränderungen in der Kinder- und Jugendhilfestruktur an. Ein Referentenentwurf liegt dazu vor. Zum einen werden darin die gesetzlichen Beteiligungsrechte des Landesjugendhilfeausschusses eingeschränkt – als eine Folge der Integration des Landesjugendamtes ins Ministerium für Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg. Dies wird von der Caritas und der ganzen Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege sehr kritisch gesehen, da es sich hier um Beteiligungsrechte der Kinder und Jugendlichen mit ihren Einrichtungen handelt. Die Zweigliedrigkeit des Jugendamtes auf Landesebene darf aus Sicht der Liga nicht durch „Umorganisationen und Integrationen“ in Frage gestellt werden.
Jugendamt im Rollenkonflikt und Sorge um Standards
Zum anderen wird überlegt, die landeshoheitlich sicherzustellende Betriebserlaubnis für und -aufsicht über die Kindertagesstätten und Erziehungshilfeeinrichtungen den Landkreisen zu übertragen. Diese Entwicklung hätte fatale Folgen zum einen für die Rolle der Jugendämter in den Landkreisen. Sind sie dann neben fallzuständigem Jugendamt und öffentlichem Jugendhilfeträger auch Kontroll- und Aufsichtsorgan für die Leistungserbringung, sowohl für die eigenen Einrichtungen als auch für die der freien Jugendhilfe?
Mit der Übertragung der Betriebserlaubnis und -aufsicht auf die Landkreise wird befürchtet, dass die erlaubnispflichtigen Einrichtungen der freien Träger zu Vereinbarungen genötigt werden, die nicht mehr bisherigen Betreuungs- und Qualitätsstandards entsprechen. Bei aller Notwendigkeit, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren, darf dies auf keinen Fall zulasten der Ärmsten, wie der Kinder und Jugendlichen aus prekären Verhältnissen, gehen. Kinder- und Jugendhilfe nach Kassenlage der Kommune gefährdet die Einheitlichkeit von Lebensverhältnissen in Deutschland. In einzelnen Kommunen ist bereits jetzt zu beobachten, wie fachliche Standards bei Ausschreibungen und anderen Vergabeformen immer mehr abgesenkt werden und Ehrenamtliche als feste strukturelle Größe eingeplant werden, um zum Beispiel Kinder- und Jugendzentren offen zu halten. Hier besteht die Gefahr einer Instrumentalisierung des Ehrenamts mit dem vermeintlichen Argument der Bürgergesellschaft.
Ein anderes Beispiel: Durch das Land Mecklenburg-Vorpommern werden Gelder zur Erfüllung von überörtlichen Aufgaben der Sozialhilfe an die örtlichen Träger, die Kreise und kreisfreien Städte, sprich kommunalen Gebietskörperschaften ausgehändigt. Der Kommunale Sozialverband als Zusammenschluss der kommunalen Gebietskörperschaften im Land hat für 2010 und für 2011 jeweils deutlich mehr Finanzzuwendungen im Bereich der Eingliederungshilfe erhalten als tatsächlich ausgegeben worden sind. Danach überstiegen die Einnahmen die Ausgaben in 2010 um rund zwölf Millionen Euro und in 2011 um rund 16 Millionen. Der Kommunale Sozialverband hat mithin in diesen zwei Jahren einen „Überschuss“ von rund 28 Millionen Euro zu verzeichnen. Aus Sicht der Caritas ist die Vergabe und Nichtausschüttung der Mittel nicht immer transparent und nachvollziehbar. Das Land entzieht sich hier seiner Steuerungs- und Gestaltungsverantwortung und seiner Aufsichtsfunktion.
Überbordende Kontrolle führt zur Bürokratisierung
In Gesprächen mit Kommunal- und Landespolitiker(inne)n werden von vielen immer wieder steigende Fallzahlen in der Jugend- und Eingliederungshilfe beklagt. Viele vermuten, dass Einrichtungen und Strukturen der freien Träger sich daran gesundverdienen. Es gehe darum, eine größere Einkaufsmacht und mehr Kontrolle und Aufsicht bis tief in die Organisationen hinein zu bekommen. Seit dem Treberhilfe-Skandal ist insbesondere in Berlin und auch weithin bis nach Brandenburg ein gewisses Misstrauen gegenüber der freien Wohlfahrtspflege zu spüren bei der Frage nach der korrekten Mittelverwendung. Die meisten Wohlfahrtsverbände haben sehr viel für die transparente Mittelverwendung getan. Der Caritasverband für das Erzbistum Berlin veröffentlicht seit 2012 seinen Jahresabschluss in Form eines Geschäftsberichts im Internet und ist der Initiative „Transparente Zivilgesellschaft“ beigetreten. Doch das Kontrollbedürfnis der kommunalen Ebene und der Bundesländer wächst stetig weiter, was wiederum zu einem steigenden Verwaltungsaufwand auf beiden Seiten führt.
Ausschreibungen sind auf der kommunalen Ebene übliche Praxis. Dabei zeigt sich, dass tarifgebundene Träger wie die Caritas häufig im Nachteil sind, weil sie im Preiswettkampf deutlich unterliegen. Zugleich ist in einigen Kommunen nach wie vor ein Vorbehalt gegenüber konfessionellen Trägern zu beobachten. Bei verschiedenen Kommunen ist auch zu beobachten, dass sie soziale Dienstleistungen selber übernehmen – oft mit dem Argument, dass sie es günstiger und zielgerichteter anbieten könnten. Dies widerspricht zum einen dem Subsidiaritätsprinzip und zum anderen der Wahlfreiheit von Klienten.
Gleichzeitig zeigt sich dabei der Etatismus, der in manchen Regionen des Erzbistums durchaus spürbar ist: die bis heute geltende Vorstellung, dass der Staat allein für soziale Dienstleistungen zuständig sei. Es gibt auch Ausnahmen. In einer Kommune in Brandenburg wurde dem Caritasverband die Allgemeine Soziale Beratung zugesprochen und sogar darum gebeten, diese auszubauen, trotz der entsprechenden Kosten.
Welche Chance birgt die Kommunalisierung?
Kommunalisierung kann dann eine Perspektive sein, wenn sie kein Sparmodell der anderen staatlichen Ebenen ist und es darum geht, sozialpolitische Wirksamkeit zu steigern. Wenn die Wohlfahrtsverbände als Partner einer Sozialraumgestaltung gesehen werden und nicht auf die Rolle von reinen Dienstleistern reduziert werden, liegen in einer Kooperation auf Augenhöhe durchaus Chancen. Für die Wohlfahrtsverbände heißt das aber auch, dass sie nicht jeder Ausschreibung hinterherlaufen dürfen. Sie müssen Entwicklungen auf kommunaler Ebene aus sozialstaatlicher Sicht kritisch hinterfragen und entsprechend argumentativ im Lobbying wirken. Dazu zählt auch, dass Interessenskonflikte zwischen Nutzer- und Trägerinteressen transparent gemacht werden müssen.
Verdeckte Rationierung im Sozialwesen
Oftmals verbergen sich hinter hochgelobten Kommunalisierungstendenzen reine Einsparinteressen, die oft in verdeckter Rationierung im Sozialwesen enden. Der Nutzer weiß oft nicht, was ihm vorenthalten wird – wie beispielsweise intensive sozialpädagogische Familienhilfen. Wenn einmal mehr in den Kooperationsgremien über die Fortschreibung im Zuwendungs- oder Entgeltbereich diskutiert wird und sich die Hilflosigkeit auf allen Seiten offenbart, stellt sich die Frage, ob die Debatte nicht ganz anders geführt werden müsste. Verteilung nach ethischen Gesichtspunkten und unter Umständen auch die Rationierung notwendiger Maßnahmen im Sozialwesen aufgrund von Mittelknappheit erfordert zunächst einmal die Offenlegung einer schleichenden Rationierung, dann die Definition von sozialpolitischen Zielen, Inhalten und Kriterien für das Sozialwesen sowie schließlich transparente Verteilungsentscheidungen und -verfahren für und mit Trägern und Nutzern.