Ein Überschuss an Traurigkeit
Das Wort UNERHÖRT lässt eine doppelte Deutung zu. Unerhört sind viele Eltern, weil sie von den Fachkräften in der Behindertenhilfe nicht gehört, nicht bemerkt, nicht beachtet werden. Andere Eltern hingegen sind unerhört - so sagten es einige Expert(inn)en aus der Behindertenhilfe -, weil sie unverschämte Anforderungen stellen. Zwischen diesen Extremen bewegen sich die Ergebnisse des Projekts "ElFamBe" - im Folgenden eine Auswahl.1
Im Mittelpunkt des Projekts standen die Eltern behinderter Kinder und ihre Bedürfnisse. Das Projektteam2 stellte sich folgende Fragen: Wie geht es den Eltern? Was bewegt sie? Welche Anforderungen stellen sie an die Behindertenhilfe? Wie gelingt es, mit den Eltern gemeinsam ein passendes Unterstützungsangebot aufzubauen? ElFamBe bat die Eltern mit Hilfe eines Fragebogens um Auskunft, mit ihnen wurden zahlreiche Gespräche geführt und gemeinsam unterschiedliche Veranstaltungsangebote organisiert. Die Ergebnisse überraschten Eltern wie Fachkräfte.3
Die befragten Familien sind zum größten Teil nicht organisiert oder in Selbsthilfevereinen tätig. Häufig nutzen die erwachsenen Söhne und Töchter mit Behinderung aber entsprechende Tagesstrukturen wie die Werkstatt für behinderte Menschen oder Tagesförderstätten. Auf diesem Weg erhielt das Projektteam Zugang zu gut 2000 Eltern in Berlin, von denen 482 Personen den Fragebogen beantworteten. Damit konnten erste Daten zur Lebenssituation der Eltern erfasst werden: Die Befragten hatten ein Durchschnittsalter von 57 Jahren, zwölf Prozent (58 Personen) waren über 70 Jahre alt. Es war auffällig, dass 27 Prozent der Eltern keine Angabe zu ihrem Alter machten. Dieses Antwortverhalten war im Vergleich zu dem bei anderen Fragen untypisch und irritierte bei der Auswertung. Was befürchteten die Eltern in diesem Zusammenhang?
In 45 ausführlichen qualitativen Interviews versuchte das Projektteam, die Eltern besser zu verstehen. Es zeigte sich, dass der meist telefonische Erstkontakt maßgeblich durch "Schlüsselwörter" geprägt war. Schlüsselwörter sind Türöffner oder Türschließer. Sie ermöglichen den Zugang in die Familien oder verhindern ihn. Typische Türöffner im Projekt ElFamBe waren Hinweise, die die gemeinsame Fürsorge in den Mittelpunkt stellten. "Wir interessieren uns dafür, wie Sie den Alltag meistern, und hören Ihnen gerne zu." - "Wir wollen gemeinsam mit Ihnen über Vorsorgepläne nachdenken." - "Wir lassen uns dabei Zeit." - "Wir bieten unabhängige Beratung."
Im Gegensatz dazu führten andere Schlüsselwörter eher dazu, dass ein Gesprächsangebot abgelehnt wurde. Typische Türschließer waren: "Wir interessieren uns für das Thema Ablösung." - "Wir fördern Selbstbestimmung und Integration." - "Wir sind von der Katholischen Hochschule." - "Kennen Sie schon das Wohnheim xy?" (s. Tabelle unten).
Die Rückmeldungen der Eltern bewirkten eine inhaltliche Verschiebung des Projekts. Das Team trennte sich von dem Wort "Ablösung" und konzentrierte sich auf Fragen rund um das Thema "Vorsorge". Gemeinsam mit den Eltern wollten wir einer diesbezüglich möglichen Akutkrise vorbeugen und im Vorhinein über verschiedene Wünsche und Optionen der Unterstützung nachdenken.
Unterschiedlich offen für Veränderung
Das Projekt ElFamBe lernte Eltern mit und ohne Veränderungswünsche kennen.
"Es ist nun der richtige Zeitpunkt für uns. Wir suchen nach einem neuen Wohnplatz für unseren Sohn." Oder: "Wir sind unzufrieden, wie es zurzeit zu Hause läuft, daher suchen wir Alternativen." Eltern mit solchen Antworten, also mit Veränderungswünschen, waren meist mobiler und leichter erreichbar.
Im Gegensatz dazu Eltern, die keine Veränderungswünsche äußerten: "Alles soll so bleiben, wie es ist", sagte die 73-jährige Mutter eines erwachsenen Kindes mit Schwermehrfachbehinderung, das zu Hause lebt. Sie weiß, dass dieser Wunsch unrealistisch ist, aber sie hat Angst vor dem, was möglicherweise kommen kann.
Minuszeichen in der Lebensbilanz
Im Rahmen des Projekts haben wir viele verletzte Eltern kennengelernt. Die seelischen Verletzungen des Lebens sind vielfältig, und sie sind im Laufe der Jahre gewachsen. Es sind vor allem Erfahrungen der Enttäuschung, der Diskriminierung, Scham- und Ambivalenzgefühle. "Ich fühlte mich oft im Stich gelassen." - "Wir haben die Hoffnung nie aufgegeben - na ja, letztlich mussten wir akzeptieren, dass …" - "Auf dem Amt muss ich immer betteln, dass ich Hilfe bekomme." - "Schulmeisterlich sind wir behandelt worden, das war das Schlimmste." - "Wenn die Tränen kommen, ist mir das peinlich und unangenehm." Diese Erfahrungen führten dazu, dass Eltern sensibel ("dünnhäutig") wurden. In manchen Beratungssituationen in der Praxis wird diese Empfindsamkeit der Eltern spürbar. Aber wird sie auch von den Fachkräften ausreichend und im Kontext der Lebensbiografie der Eltern reflektiert? Im Rahmen von Fortbildungen für Mitarbeiter(innen) der Behindertenhilfe hat sich das Projekt ElFamBe deshalb verstärkt den psychodynamischen Prozessen in Beratungssituationen mit Eltern gewidmet.
In unseren Veranstaltungen im Projekt ElFamBe gab es immer wieder Tränen von Eltern. Wir erlebten eine Traurigkeit, die offensichtlich selten den gebührenden Raum erhält. "Das Weinen hier hat gutgetan", meinte eine Mutter. Durch die Gespräche mit den Eltern konnte das Projektteam feststellen, dass in der Bewertung der Lebensbilanz meist die Verlusterfahrungen im Leben überwiegen. Verlusterfahrungen entstehen beispielsweise, wenn durch die Behinderung zeitliche und persönliche Spielräume verloren gehen oder wenn extra Geld aufgebracht werden muss, um behinderungsbedingte Ausgaben abzudecken. Dieses Geld fehlt an anderer Stelle in der Haushaltskasse. Nicht selten werden eigene Berufswünsche oder ein bereits erlernter Beruf mit der Geburt eines Kindes mit Behinderung aufgegeben. Zudem erleben die Familien häufig einen Autonomieverlust: Sie werden fremdbestimmt durch unerwartete Krisen im Kontext einer Behinderung.
Auf der anderen Seite äußerten sich Familien auch zu ihren positiven Erfahrungen: Durch die Konfrontation mit Behinderung seien sie stärker geworden. Sie hätten neue Aufgaben im Leben entdeckt, neue Wertigkeiten erfahren und einen tieferen Lebenssinn gefunden. Aber diese Erfahrungen waren im Verhältnis zu den Verlusterfahrungen im Ungleichgewicht. Die Folge ist eine Traurigkeit, die die Eltern mit sich tragen, ohne dass sie im Alltag oder in Angeboten der Behindertenhilfe berücksichtigt wird (s. Abb. links).
Kräftezehrende Betreuung
Seelische Verletzungen, Verlusterfahrungen im Leben und die langjährige Betreuung, Versorgung und Pflege des Kindes mit Behinderung haben ihren Preis. Viele ältere Eltern sind chronisch krank oder haben eine eigene Behinderung erworben. Sie sind Expert(inn)en in der Fürsorge ihrer Kinder. Dabei blieb keine Zeit für die notwendige Selbstsorge. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung kommt bei den befragten Eltern eine chronische Erkrankung oder eigene Behinderung doppelt so häufig vor. Umso wichtiger erscheint es, ältere Eltern darin zu unterstützen, dass sie gesundheitsförderliche Angebote wahrnehmen können (zum Beispiel Präventionskurse an Volkshochschulen, Sportkurse oder selbst verordnete Ruhezeiten).
Hausbesuche und Vorträge
Das System Familie ist durch vielfältige Einflussfaktoren geprägt. Die Behindertenhilfe beschränkt sich jedoch fast ausschließlich auf Unterstützungsangebote für Menschen mit Behinderung. Unterstützungsangebote für Angehörige, insbesondere für ältere Eltern, sind wenig etabliert oder werden kaum durch die Behindertenhilfe finanziert.
Im Hinblick auf die Zielgruppe der älteren Eltern, die zusammen mit ihren erwachsenen Kindern mit Behinderung in einem Haushalt leben, sollte das Hilfsangebot erweitert werden. Die Arbeit reicht dabei von aufsuchenden niederschwelligen Hausbesuchen bis hin zu zielgruppenspezifischen Veranstaltungsangeboten für und mit Eltern. Die Themen "Vorsorge", "Verletzungen des Lebens", "Trauer" oder "Gesundheitsförderung" erfordern unterschiedliche Unterstützungsstrukturen in einer geteilten Verantwortlichkeit. Nachbarschaftliche Zuwendung und Solidarität sind dabei genauso gefragt wie die Weiterentwicklung der Behindertenhilfe im Hinblick auf die bislang unerhörten Eltern.
Anmerkungen
1. "Älter werdende Eltern und erwachsene Familienmitglieder mit Behinderung zu Hause. Innovative Beratungs- und Unterstützungsangebote im Ablösungsprozess" (ElFamBe) war ein dreijähriges Projekt in Berlin, finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Siehe auch www.youtube.com/ watch?v=g5fuqm4P2H8
2. Mitarbeiter(innen) des Projekts: Thomas Schmidt, Dominique Heyberger, Judith Tröndle, Katja Driesener, Steffi Schuppan, Julia Winkler; Projektleitung: Reinhard Burtscher.
3. Vgl. Burtscher, Reinhard: Älter werdende Eltern und erwachsene Kinder mit Behinderung zu Hause. In: VHN, 2012 (81. Jg.), S. 312-324.