Auf Google die Nummer eins: das „Familienpicknick“
Stell dir vor, die Caritas plant eine bundesweite Aktion – und alle ihre Gliederungen ziehen mit! Was in einem föderalen Verband unerreichbares Ideal bleibt, gilt es dennoch anzustreben. Denn mit der Zahl der beteiligten Orte und Akteure steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Aktion mit ihrem Anliegen in der breiten Öffentlichkeit ankommt, Strahlkraft entfaltet und etwas bewirkt.
In diesem Jahr gab es unabhängig voneinander zwei großangelegte Solidaritätsaktionen der Caritas: Die Rede ist zum einen vom „Picknick für Familien und Menschen, die Zeit haben“, einer Aktion der Solidaritätsinitiative der Caritas anlässlich der diesjährigen Caritas-Kampagne1 (vgl. neue caritas Heft 22/2012, S. 16; www.caritas.de/picknick2). Zum anderen geht es um die Aktion der BAG IDA3 zugunsten langzeitarbeitsloser Menschen „Stell mich an, nicht ab!“ mit ihren lebensgroßen Pappfiguren „stumme Begleiter“ (vgl. neue caritas Heft 18/2013, S.5; www.caritas.de/stell-mich-an4). Gemessen an der Zahl der Aktionsorte und Mitwirkenden waren die Aktionen sehr erfolgreich. Bei aller Unterschiedlichkeit in Zielsetzung und Umsetzung wiesen sie viele methodische Gemeinsamkeiten auf. Welche Faktoren haben sich in beiden Vorhaben bewährt, und was lässt sich daraus für künftige Aktionen lernen?
Gemeinsame Grundform, örtlich variiert
Zunächst fällt auf, dass beide Aktionen ein gemeinsames Anliegen verfolgten: „Solidarität“ einmal mit „langzeitarbeitslosen Menschen“, das andere Mal mit Familien. Offen für Ausdifferenzierung war die jeweilige Umsetzung.
So beruhte das Picknick auf der Urform menschlicher Zugewandtheit, dem Gastmahl. In allen Kulturen und Religionen spielt das gemeinsame Essen eine zentrale Rolle, so dass eine Einladung dazu Menschen aller Altersstufen und Herkunftsländer unmittelbar erreichen kann.5 Als besonders entspannte Form des gemeinsamen Essens verkörpert ein Picknick für viele eine angenehme Erinnerung an die eigene Herkunftsfamilie.
Für die Aktion „Stell mich an, nicht ab“ nutzte die beauftragte Berliner Werbeagentur einen wahrnehmungspsychologischen Effekt: Lebensgroße Standfiguren mit menschlichem Umriss irritieren. Wer einen der Pappaufsteller hatte, konnte diese unmittelbare Wirkung an den eigenen Kolleg(inn)en ausprobieren: Wenn so ein schwarzgrauer Schattenmensch überraschend in deren Büro oder in der Fahrstuhlecke stand, gab es erst ein leicht erschrockenes Zurückweichen, danach wurde die dunkle Schemengestalt neugierig betrachtet, vor allem die vielen Begriffe (tag cloud) im Kopfbereich. Im Prinzip ist dies die natürliche Reaktion gegenüber einem Fremden: „Wer sind Sie, und was möchten Sie?“
Bei vielen Anlässen traten die langzeitarbeitslosen Menschen gemeinsam mit den Pappfiguren auf, für die sie Modell gestanden hatten. Sie traten aus ihrem Schattendasein heraus und präsentierten sich selbstbewusst als Persönlichkeiten, die den Medien Rede und Antwort stehen, die in ihrer schwierigen Lage nicht resignieren und im Gegenzug politische und arbeitsfördernde Unterstützung einfordern. Dem Hildesheimer Diözesan-Caritasdirektor und Vorsitzenden der BAG IDA, Hans-Jürgen Marcus, zufolge wurde dieser Ansatz sehr gut angenommen: „Auffällig ist die hohe Zahl von Betroffenen, die bei allen Aktionen beteiligt waren.“ Seiner Erfahrung nach erleichterten die Pappfiguren ihnen diesen mutigen Schritt in die Öffentlichkeit.
Die Grundformen „gemeinsam essen“ und „irritierende Schattengestalt“ bildeten den verbindlichen und damit verbindenden Kern einer Teilnahme an der jeweiligen Aktion. Rund um diese Grundformen wurde zentrale Unterstützung von den Caritasspitzenverbänden bereitgestellt (s. Tabelle links). Was die Akteure an den vielen teilnehmenden Orten daraus machten, blieb ihnen überlassen. Denn es ging nicht um Uniformität, sondern um die bundesweite Bündelung der Öffentlichkeitseffekte vieler Einzelaktionen, indem diese durchgehend die Grundform nutzten.
Den Reichtum an Variationen, der sich aus diesem subsidiären Ansatz ergab, spiegeln die jeweiligen Websites wider. Beispielsweise irritierten die Pappfiguren auf der Düsseldorfer Luxusmeile Königsallee die Passanten. Die dortigen Akteure konnten so schwerpunktmäßig die Ausgrenzung Langzeitarbeitsloser von Wohlstand und sozialer Teilhabe thematisieren. In Hannover waren die „stummen Begleiter“ im Publikum einer Modenschau mit anwesend, die vom Fairkauf veranstaltet und von örtlicher Prominenz mitgetragen wurde. Somit wiesen die Figuren in Hannover schwerpunktmäßig auf Chancen zum Wiedereinstieg ins Arbeitsleben hin, die Fairkaufhäuser langzeitarbeitslosen Menschen bieten (vgl. neue caritas Heft 17/2012, S. 14 ff.). Auch als sich der Berliner Kardinal Rainer Maria Woelki von langzeitarbeitslosen Mitbürger(inne)n ihre Situation schildern ließ, standen die stummen Begleiter mit dabei und stärkten so die von Düsseldorf, Hannover und über 100 weiteren Orten gemeinsam getragene Aktion.
Beim Familienpicknick zeigte sich die örtliche Kreativität vor allem in den jeweiligen Begleitprogrammen. Es gab mehr oder weniger ausgedehnte Familienrallyes, Hüpfburgen oder Ausflüge ebenso wie Beratungsangebote für Eltern oder eine Zeittauschbörse zur gegenseitigen Unterstützung im nachbarschaftlichen Alltag. Mancherorts waren selbst Therapiepferde und eine Rettungshundestaffel im Spiel.
Sozialräumliche Wirkung
Die Größe und Ausgestaltung der jeweiligen Picknicks hing entscheidend davon ab, welche Akteure sich in Vorbereitung auf diese Aktion miteinander vernetzt hatten. Die meisten Picknicks (126) fanden unter der Federführung katholischer Kitas statt, gefolgt von Orts-Caritasverbänden (71), Caritas-Konferenzen (55) und Pfarreien/ Seelsorgeeinheiten (48). Aus einer nordrhein-westfälischen Stadt meldete der Sozialdienst katholischer Frauen ans Projektbüro beim DCV zurück, aus Anlass der Picknickvorbereitungen hätten sich erstmals alle katholischen Akteure am Ort zu einer gemeinsamen Planung zusammengefunden. Oder Detlev Lins, Bürgermeister von Sundern im Sauerland, erklärte: „Es ist ein einmaliges Netzwerk entstanden. Für die Zukunft können diese Kooperationen weiter nutzbar gemacht werden.“6 Solche Rückmeldungen legen den Schluss nahe, dass eine bundesweit mitgetragene Aktion nicht nur durch die vielen teilnehmenden Orte ihre Stärke erhält. Sondern auch umgekehrt profitiert der einzelne Ort von der Gesamtaktion, indem deren Strahlkraft und auch die zentrale Unterstützung dazu motiviert, die sozialräumlichen Ressourcen für eine Teilnahme zu erschließen.
Hinsichtlich ihrer öffentlichkeits- sowie sozialräumlichen Wirkung sind beide Aktionen vor Ort ein Erfolg gewesen. Dennoch war es auch aus Sicht der spitzenverbandlichen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sinnvoll, jeweils auch eine zentrale „Flaggschiff-Veranstaltung“ durchzuführen. So gab es ein besonders umfangreiches Picknick mit rund 500 Teilnehmenden auf dem Erfurter Domberg. Hier feierte Caritas-Präsident Peter Neher am 22. September den diesjährigen Caritas-Sonntag mit. Und von den insgesamt 1700 „Stell-mich-an“-Figuren wurden 100 nach Berlin gebracht, um bei einem Pressetermin am 1. Oktober 2013 vor dem Reichstag die in Koalitionsbildung begriffenen Bundestagsparteien eindringlich daran zu erinnern, dass langzeitarbeitslose Menschen bislang nicht von der gesunkenen Arbeitslosenzahl profitiert haben.
Mitmach-Angebote
Die zentrale Unterstützung für die Akteure vor Ort bestand neben Umsetzungsvorschlägen und Checklisten vor allem in der Bereitstellung der jeweiligen Internetpräsenz im Portal caritas.de, aber auch von Aktionsmaterialien in einheitlicher Gestaltung. Die Verwendung der Materialien sollte es Besucher(inne)n erleichtern, sich als Teil der Aktion zu begreifen und etwas beizutragen. Bei der Aktion „Stell mich an, nicht ab!“ waren dies die Pappfiguren selbst sowie Aktionspostkarten.7 Wer den Umgang mit dem jeder Figur aufgedruckten QR-Code beherrschte8 – dies war rund 1000-mal der Fall –, konnte sich die Kurzbiografie einer oder eines Langzeitarbeitslosen im Videoclip anschauen. Insgesamt zehn Versionen hielt die Website bereit. Außerdem brachten Passanten und Veranstaltungsbesucher ihre Ansichten und sozialpolitischen Forderungen mittels Klebezetteln an den Figuren an.
Beim Picknick bestand eine vergleichbare Möglichkeit: Auf große Tischdecken aus Vliespapier konnten die Gäste ihre familienpolitischen Vorstellungen schreiben. Die Tischdecken wurden zusammen mit Picknick-Luftballons, -Flugscheiben, Wimmelbildblocks und weiteren Artikeln in über 450 Aktionspaketen vom DCV-Projekt Solidaritätsinitiative versandt, der Großteil kostenlos an „Frühbucher“.9
Was macht eine gute Aktion aus?
Um überregional möglichst viele Akteure ins Boot zu holen, braucht es eine Grundidee, die emotional mitnehmen oder irritieren kann. Zugleich muss diese so schlicht und offen sein, dass sie Möglichkeiten für vielfältige Ausgestaltungen bietet. Die Grundgestaltung und die Werbemittel sollten ein halbes Jahr vor den ersten Aktionen von der zentralen Ebene bereitgestellt, die Bezugsmöglichkeit sowie eine Handreichung (Leitfaden) auf vielen Kanälen kommuniziert werden. Mit einer Aktions-Website unter dem Dach von caritas.de bleiben alle organisatorischen Schritte sowie die Aktionsberichte mit Fotos und Videos jederzeit zugänglich.
Gute Kampagnen wirken ebenso wie gute Projekte über ihren Aktionszeitraum hinaus. Beispielsweise scheint „Familienpicknick“ zu einem festen Begriff geworden zu sein. Die Caritas dominiert hier bei den obersten Google-Treffern, und viele Veranstalter haben rückgemeldet, dass sie dieses Format in eigener Regie wiederholen möchten.
Anmerkungen
1. „Familie schaffen wir nur gemeinsam“. Die Familienpicknick-Aktion stellte erstmals den Caritas-Sonntag bundesweit unter ein gemeinsames Thema, auch wenn er je nach Bistum an unterschiedlichen Sonntagen Ende September bis Anfang Oktober begangen wurde.
2. Von Mai bis Mitte Oktober 2013 wurde diese Website 14.850-mal aufgerufen, davon die Deutschlandkarte mit ihren 160 eingetragenen Picknicks 4650-mal.
3. Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft „Integration durch Arbeit“ im Deutschen Caritasverband.
4. Die Aktionsseiten wurden 26.000-mal aufgerufen, die Stellungnahme 1600-mal, die Pressemeldung zum Abschluss der Aktion 800-mal und der aus neue caritas Heft 14/2013, S. 3 übernommene Kommentar 1130-mal. Dazu kamen 4400 Aufrufe der Aktion auf der Homepage der BAG IDA (Angaben vom 22. Oktober 2013).
5. Diesen niederschwelligen Ansatz nutzen seit langem die vielen Wohnungslosen-, Nachbarschafts-, Arbeitslosen-, Eltern- etc. Cafés, um zu sozialräumlicher Partizipation einzuladen.
6. Pressemitteilung des Caritasverbandes Arnsberg-Sundern vom 29. September 2013.
7. 500 handschriftliche Aktions-Postkarten sowie 400 Aktions-DVDs wurden an lokale und Bundespolitiker(innen) verschickt.
8. Wer dieses quadratische Bildelement mit einem Mobiltelefon fotografiert, kann die kodierten Informationen online abrufen.
9. Die Festlegung eines Stichtags (10. Mai 2013) für Frühanmeldungen erwies sich als gutes Mittel, um die Befassung mit der Aktion an vielen Orten beizeiten anzustoßen und die Bestellmengen einschätzen zu können.