Zeit für Familie
Die zeitlichen Anforderungen sind über den Lebenslauf und unter den verschiedenen Generationen und Lebensformen der Menschen in Deutschland ungleich verteilt, so dass in bestimmten Lebensphasen Zeitstress entsteht. So zumindest lautet der Befund der Autor(inn)en des Achten Familienberichts1, der am 14. März veröffentlicht wurde. Zeitmangel wirkt sich nachteilig auf die Lebensqualität und das Wohlbefinden aus und schränkt die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ein. Betroffen davon sind insbesondere diejenigen, die Fürsorge und Pflege für Familienmitglieder übernehmen und diese mit Erwerbsarbeit kombinieren wollen oder auch müssen, und das sind immer noch überwiegend Frauen. Lebenslaufbezogen tritt Zeitknappheit besonders in der Familiengründungsphase und bei längerfristiger Pflege im familiären Kontext auf - Phasen, die früher durch den "Zeitpuffer" der nicht erwerbstätigen Hausfrau aufgefangen wurden.
Diese "Konkurrenz" zwischen Arbeitszeit und Familienzeit ist nicht nur ein Problem des privaten Wohlbefindens, sondern hat gesellschaftliche Auswirkungen: Bereits vor einer Familiengründung nehmen junge Menschen wahr, dass ihnen durch Ausbildung und Beruf wenig Zeit für Partner, Freizeit und Freunde bleibt. Das Gefühl, keine Zeitreserven für potenzielle Kinder zu haben in Kombination mit unsicheren Zukunftsperspektiven - 44 Prozent aller Berufsanfänger(innen) sind lediglich befristet beschäftigt2 - das sind keine familienförderlichen Rahmenbedingungen. Für viele junge Menschen scheint es deshalb vernünftig, keine Kinder zu bekommen.
Auch Familien sind auf gemeinsame Zeit angewiesen, um sich durch Austausch und Zuwendung überhaupt als Familie erfahren zu können. Zeit für Partnerschaft und Familie begünstigt gleichzeitig die Entwicklung von Kindern und sichert so letztlich die gesellschaftlich unverzichtbaren Funktionen von Familien zur Bildung des sogenannten Humanvermögens.
Die Gestaltung von Familienleben um die externen Taktgeber herum - insbesondere aus der Arbeitswelt - nötigt Familien eine hohe Synchronisations- und Koordinationsleistung ab. Fehlende infrastrukturelle Unterstützung führt dazu, dass entgegen den Wünschen vieler Eltern mit der Familiengründung eine Retraditionalisierung eintritt: Entgegen der egalitären Partnerschaftsvorstellungen junger Menschen schränken zumeist die Mütter ihre Erwerbstätigkeit auf lange Sicht ein, was für sie mit biografischen Risiken verbunden ist. Auch wenn die Erwerbstätigkeit zeitlich nicht eingeschränkt wird, kümmern sich größtenteils die Mütter um Haushalt und Kinder.
Um hier Entlastung zu schaffen, fordert die Berichtskommission den weiteren Ausbau von Ganztagesbetreuung in Kindertageseinrichtungen und Schulen, weist aber auch auf die Risiken hin, wenn dies nicht in guter Qualität gelingt. Zwar könne eine frühe außerfamiliäre Kindertagesbetreuung für benachteiligte Kinder eine anregende Ergänzung zur Familie darstellen, umgekehrt gäbe es aber auch Vorteile einer häuslichen Erziehung bei Kindern aus der Mittel- und Oberschicht. Besser als eine Ausweitung der Öffnungszeiten von Kindertageseinrichtungen in den frühen oder späten Tag hinein eigne sich deshalb der Ausbau der Kindertagespflege aufgrund des familiäreren Charakters.
Entlastung für Familien kann darüber hinaus aber auch durch bezahlbare haushaltsnahe Dienstleistungen, die bessere Abstimmung von Öffnungs- und Wegezeiten im lokalen Raum und die Förderung ehrenamtlicher Netzwerke organisiert werden. Die Kommission sieht Möglichkeiten, Familien beispielsweise auch in der Pflege zu entlasten, wenn es gelingt, eine Mischung aus familiärer, professioneller und bürgerschaftlich geleisteter Hilfe im Sinne einer "Caring Community" zu organisieren.
Freiwillige unterstützen Familien
Diese "Caring Communities" spielen im Bericht gerade im Kontext der Pflege eine prominente Rolle, da der absehbare Aufwand und Zeitbedarf für Pflegeleistungen in einer alternden Gesellschaft weder organisatorisch noch finanziell durch professionelle Pflegekräfte abgedeckt werden kann. Die Zeitressourcen älterer Menschen, die hier im Blick sind, könnten mit Hilfe eines Zeitkontos durch ein Geben und Nehmen genutzt werden, indem beispielsweise im Rahmen von Zeittauschbörsen Dienstleistungen zur Verfügung gestellt und bei Bedarf auch abgerufen werden können. Geeignet scheint auch, mit der Hilfe von Freiwilligen und Ehrenamtlichen Familien in der Familiengründungs- und Elternphase zu entlasten. Diesen Ansatz verfolgt auch das Projekt: "Frühe Hilfen in der Caritas".
Den entscheidenden Handlungsbedarf sieht die Kommission beim Zeittaktgeber Arbeitswelt. Es muss Aufgabe der Sozialpartner sein, in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen familiäre Anforderungen stärker zu berücksichtigen, denn "flexible Arbeitszeiten", die heute als das Instrument familienfreundlicher Arbeitsbedingungen schlechthin gelten, werden überwiegend von den Unternehmen und nicht von den Arbeitnehmer(inne)n bestimmt. "An der Schaffung guter Rahmenbedingungen für Zeit für Familie führt kein Weg vorbei", denn "Familie gehört zu den vielfältigen Voraussetzungen, auf die der Staat angewiesen ist, ohne sie garantieren zu können. Zu deren Schutz und Gelingen gehört es auch, dass Familien Zeit finden, Familie zu leben", so ist es zu lesen im Schlusskapitel des Achten Familienberichts. Zur zeitlichen Entlastung könnte, so die Berichtskommission, eine eigenständige Familienzeitpolitik beitragen, beispielsweise durch Zeitsouveränität im Sinne frei verfügbarer Zeit (beispielsweise durch bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf), durch Zeitumverteilung zwischen Generationen und Lebenspartnern sowie durch eine bessere Zeitsynchronisation im lokalen Raum. Über mehr Zeitwohlstand soll die Wahlfreiheit in der Lebensführung erhöht, Kinderwünsche realisiert, die Entwicklung von Kindern über eine höhere Zufriedenheit der Eltern gefördert, häusliche Pflege abgesichert und über die Berücksichtigung der jeweiligen Erwerbswünsche ein Beitrag zur Gleichstellung zwischen Mann und Frau geleistet werden.
Kein Gesamtkonzept, nur einzelne Hinweise
Die Notwendigkeit und die Vorteile einer Familienzeitpolitik werden im Achten Familienbericht klar benannt. Statt hier aber ein Gesamtkonzept vorzulegen, beschränkt sich die Kommission auf Einzelvorschläge. An die Adresse des Gesetzgebers geht der Prüfauftrag, über ein spezifisch familienfreundliches Arbeits(zeit)recht zur stärkeren Erwerbsintegration von Frauen beizutragen. Die Teilzeit- und Befristungsmöglichkeiten könnten auf familienbedingte Erfordernisse konzentriert und die Option der gesetzlichen Eltern- und Großelternzeit erweitert werden. Außerdem wird im Bericht lediglich als Handlungsoption erwähnt, die Unterhaltspflichten bei betriebsbedingten Kündigungen und der Erstellung von Sozialplänen stärker zu berücksichtigen und den Ausbau haushaltsnaher Dienstleistungen zu subventionieren. Jedes Gesetzesvorhaben sollte daraufhin geprüft werden, welche Folgen es für Familien hat ("Familienfolgenabschätzung"3).
Der Appell in Richtung Unternehmen konzentriert sich auf die Empfehlung einer familienbewussteren Arbeitskultur gerade bei Arbeitszeitregelungen und einer stärker lebensphasenorientierten Personalpolitik beispielsweise durch Lebensarbeitszeitkonten. Die Kommunen werden aufgefordert, Infrastrukturen mit möglichst kurzen Wegezeiten und Plattformen für zivilgesellschaftliches Engagement anzubieten.
Die Motivlage der überwiegend aus Ökonom(inn)en und Jurist(inn)en besetzten Berichtskommission erscheint häufig uneindeutig. Einerseits plädiert sie angesichts der alarmierenden analytischen Befunde für mehr Zeitsouveränität und damit für mehr Handlungsspielräume für Familien, andererseits ist unverkennbar, dass sie sich vom Modell einer möglichst nahtlosen vollzeitnahen Erwerbsbeteiligung beider Eltern leiten lässt. In diesen Kontext reiht sich auch der Vorschlag ein, die gesetzliche Elternzeit von bisher drei Jahren auf zwei Jahre zu begrenzen, weil die dreijährige Elternzeit "nicht selten eine große organisatorische und finanzielle Belastung für die Unternehmen" bedeute.4 Es ist gerade im Kontext einer Familienberichterstattung bedauerlich, dass die Kommission in der Abwägung der spezifischen Zeitbedarfe für Familien mit den Anforderungen der Erwerbsarbeit nicht mehr die familiären Erfordernisse in den Mittelpunkt gestellt hat.
Die Vorschläge sind verhalten und kostenneutral
Ihre verhaltenen "Anstöße" sollten - und dieser Hinweis findet sich vielfach im Bericht - "selbstverständlich nicht nur im Lichte der Wirkungen auf Familie, sondern stets auch unter der Perspektive möglicher Begleiteffekte bewertet werden" um "Effizienzeinbußen" im ökonomischen Kreislauf zu vermeiden. Da seitens der Politik offenbar der Wunsch bestand, dass nur möglichst kostenneutrale Vorschläge erarbeitet werden, hat sich die Kommission gehorsam auf die sogenannten "Effizienzreserven" konzentriert. Nirgends im Bericht findet sich ein Hinweis, wie notwendige Zeit für Fürsorge oder Pflege durch finanzielle Transfers abgesichert werden kann und muss.
Der Achte Familienbericht gibt wenig neue Impulse in der zentralen gesellschaftlichen Frage, wie eine moderne Arbeitskultur mit dem Mindestmaß an Verlässlichkeit, auf die Familien essenziell angewiesen sind, vereinbart werden kann. Viele der genannten Befunde waren bereits im Siebten Familienbericht zu lesen. So fällt die Stellungnahme der Bundesregierung auch sehr verhalten aus. Sie teilt weitgehend die Analysen der Berichtskommission zu den veränderten zeitlichen Rahmenbedingungen von Familien und der Notwendigkeit, über eine Familienzeitpolitik die Lebensqualität von Familien zu erhöhen. Als konkrete Konsequenzen für die Familienpolitik werden seitens der Bundesregierung der Ausbau von zeitflexiblen Kindertagesbetreuungsangeboten, die hohen qualitativen Standards genügen müssen, und Ganztagsschulangebote benannt. Als neuen Impuls kündigt die Bundesregierung ein Konzept an, um die Inanspruchnahme haushaltsnaher familienunterstützender Dienstleistungen zu fördern und so in Familienhaushalten für mehr Zeitsouveränität zu sorgen. Ansonsten fühlt sich die Bundesregierung bei ihren Aktivitäten für eine familienfreundliche Arbeitswelt bestärkt und verspricht, unter Betonung der wichtigen Rolle der Sozialpartner, die Förderung familienbewusster Arbeitszeiten "weiterhin intensiv zu betreiben".5 Es bleibt also im Wesentlichen beim Alten. Bleiben Wissenschaft und Politik an dieser entscheidenden Stelle weiterhin so rat- und sprachlos, wird sich am Druck, der auf Familien lastet, mit all den negativen Folgen für die Stabilität von Familien und Gesellschaft wenig ändern.
Anmerkungen
1. Der Achte Familienbericht "Zeit für Familie" besteht aus einer Stellungnahme der Bundesregierung und dem Bericht der Sachverständigenkommission, als PDF unter www.bmfsfj.de/BMFSFJ/familie,did=185012.html. Eine Zusammenfassung des Berichts ist erhältlich unter www.caritas.de ("Für Profis", "Fachthemen", "Familie"). Siehe dazu auch Kommentar des Autors in neue caritas Heft 6/2012, S. 3.
2. Achter Familienbericht, S. 26.
3. Ebd., S.182.
4. Ebd., S.174.
5. Stellungnahme der Bundesregierung, S. XVI.