Jeder lebt in seiner Welt und alle im Sozialraum
Beratung ist eine vielfältige Hilfeform und eine zentrale professionelle Orientierung sozialer und psychosozialer Arbeit. Als ausgewiesenes Angebot in speziellen Beratungsstellen wird Beratung ebenso praktiziert wie als "Querschnittsmethode" in der Jugendhilfe und Altenarbeit, in der Betreuung, in Erziehung und Bildung. Sieht man auf das, was insbesondere in den Fachberatungsdiensten - zum Beispiel Ehe- und Lebensberatung, Erziehungs- und Familienberatung sowie Suchtberatung - zwischen den hilfesuchenden Personen und der/dem Berater(in) konkret geschieht, dann werden sich häufig kaum Unterschiede zwischen beraterischen und psychotherapeutischen Interventionen feststellen lassen. Hat ein Beratungsgespräch begonnen oder eine psychotherapeutische Behandlung angefangen, dann findet in beiden Fällen ein professionelles Gespräch über die seelische Verfassung, über persönliche oder familiäre Probleme sowie über die persönliche und familiäre (Vor-)Geschichte des Klienten oder der Patientin statt. Im Mittelpunkt stehen emotionale und soziale Belastungen, Konflikte und Krisen. In beiden Bereichen wird mit einem vergleichbaren Methoden-Set gearbeitet.1
Unterschiede zwischen beraterischem und psychotherapeutischem Handeln lassen sich jedoch deutlich feststellen, wenn man nicht nur das Setting des einzelnen helfenden Gesprächs, sondern das Gesamtsetting und die Zielsetzungen beider Formen psychosozialer Hilfe betrachtet. Während Psychotherapie Bestandteil der medizinischen Versorgung ist, auf Heilung und Krankheitsbewältigung abzielt, wird Beratung dagegen im Umfeld sozialer Systeme - zum Beispiel Jugendhilfe, Gefährdetenhilfe oder Familienhilfe - angeboten. Ziel von Beratung ist Orientierungshilfe bei der Klärung individueller und familiärer Probleme und Konflikte, die aus sozialen Anforderungen entstehen und den persönlichen Bereich der Ratsuchenden betreffen. Eine thematische Fokussierung entsteht durch das Hilfesystem, dem der Beratungsdienst zugeordnet ist. So bietet zum Beispiel Erziehungsberatung Hilfen bei Erziehungsproblemen und Entwicklungsschwierigkeiten der Kinder, während Eheberatung bei partnerschaftlichen Krisen und Konflikten hilft.
Aufgrund ihrer zentralen Zielsetzung, die in der Orientierungshilfe besteht, sowie ihrer Einbindung in die verschiedenen sozialen Systeme hebt Beratung zum einen den lebensweltlichen Kontext und zum anderen die sozialräumlichen Bezüge hervor, in die die hilfesuchenden Menschen eingebunden sind. Lebensweltorientierung und Sozialraumorientierung stellen Leitkonzepte der Beratung dar. In der Psychotherapie spielt hingegen die Nähe zur Lebenswelt und zum Sozialraum nicht notwendigerweise eine so bedeutsame Rolle.
Lebensweltorientierung - ein Leitkonzept der Beratung
Es ist ein zentrales Anliegen der Beratung, das biografisch-beziehungsdynamische Denken der Psychotherapie zu ergänzen um eine systematische Wahrnehmung und Analyse der unmittelbaren, alltäglichen, für die Ratsuchenden bedeutsamen sozialen Umwelt. Damit rückt die Lebenswelt als Rahmen aller unserer Erfahrungen und unseres Handelns in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Edmund Husserl versteht unter Lebenswelt einen subjektiven Sinnzusammenhang, das Produkt ausgehandelter, gemeinsamer Perspektiven der Menschen, eine "interpretierte Welt", die zugleich Grund wie auch Horizont allen Handelns bildet.
In der Lebenswelt besitzt der Alltag, die Alltagswelt, eine besondere Bedeutung.2 Alltag ist der Ort, den wir kennen, unsere sozialen Beziehungen und unsere Erfahrungen. Alltag ist die Welt, die uns vertraut ist, auf die wir uns verlassen können, in der wir Unterstützung und Rückhalt erhalten. Alltag ist aber auch ein Ort, in dem Krisen und Probleme entstehen und unmittelbar erlebt werden, wo Marginalisierung und Ausgrenzung zum Beispiel durch Armut, Arbeitslosigkeit und psychische Erkrankungen konkret geschehen. Alltag beschreibt aber auch einen Ort, wo Belastungen, Krisen und Konflikte bearbeitet werden können, wo Ressourcen zur Bewältigung identifizierbar und mobilisierbar sind.3
Für die Beratung, die Orientierungshilfe bei der Klärung individueller und familiärer Probleme bietet, bildet die alltägliche Lebenswelt, der subjektiv angeeignete individuelle Rahmen, einen zentralen Ansatzpunkt für das psychosoziale Handeln. Die Beratung kann hierbei auf unterschiedlichen Ebenen der Kommunikation verlaufen, die von der Vermittlung von Informationen, der Bereitstellung von pragmatischen Hinweisen und Empfehlungen bis hin zu psychotherapeutischen Interventionen reichen. Der Einsatz von psychotherapeutischen Interventionen in der Beratung ist aber nicht identisch mit Psychotherapie.
In der Beratung geht es zunächst einmal darum, das Anliegen des Klienten/der Klientin zu verstehen und abzuklären, inwieweit die Beratungsstelle Unterstützung bieten kann, in welchem zeitlichen Umfang und in welcher Arbeitsform der Beratungsprozess vor sich geht. Ein solches Gespräch erfordert vom Berater neben den Kenntnissen der psychotherapeutischen Methoden und der psychologischen Gesprächsführung auch fundiertes Wissen über den angesprochenen Themenbereich, wie zum Beispiel über Erziehung und Partnerschaft, Verschuldung oder Sucht.
Das psychotherapeutische Instrumentarium lässt sich im Beratungskontext kaum in "reiner" Form anwenden. Vielmehr hilft es, das kommunikative Repertoire der Berater(innen) zu erweitern, eine tragfähige Beratungsbeziehung zu entwickeln sowie Krisen und Problembewältigungsprozesse fundiert begleiten zu können.4
Sozialraumorientierung als weiteres Leitkonzept
Während die Lebenswelt den persönlichen und individuellen Rahmen bildet - Husserl spricht von der Subjektgebundenheit der Lebenswelt -, stellt der Sozialraum den öffentlichen Raum dar, in dem die Menschen leben. Es sind die Quartiere und Bezirke, die Wohnumgebungen und Nachbarschaften, die Kirchengemeinde und Schulen, alle Orte und Institutionen, in die Menschen eingebunden sind.
Sozialraumorientierung in der Beratung bedeutet, dass sich die Beratungsdienste den sozialen Gegebenheiten und Lebensverhältnissen im Stadtteil oder in den Regionen öffnen und eine besondere Sensibilität für die Belastungen und Nöte der Menschen dort entwickeln. Dies setzt die Erarbeitung von Wissen und Kompetenzen für die Besonderheiten des Sozialraums voraus, für den der Beratungsdienst zuständig ist beziehungsweise für den ein Versorgungsauftrag besteht.5
Sozialraumorientierung wird realisiert, indem Beratungsdienste ihre gesellschaftlichen Aufträge und Angebote bekanntmachen, den Zugang zu den Angeboten für bestimmte Personengruppen erleichtern (zum Beispiel für Menschen mit Migrationshintergrund oder für Kinder psychisch kranker und suchtkranker Eltern) sowie auf besondere Problemlagen mit gezielten Angeboten reagieren (zum Beispiel auf Binge-Drinking bei Jugendlichen oder auf Partnerschaftskrisen im Alter).
Um diese Ziele zu erreichen, setzen Beratungsdienste eine Reihe von Strategien und Methoden ein: Sie stellen über Info-Veranstaltungen ihre Angebote vor, sensibilisieren durch Vorträge und Seminare für Problemlagen und senken durch offene Sprechstunden in vertrauten Räumen wie Schulen, Kindergärten, Familienzentren oder Kliniken Zugangsschwellen. Für bestimmte Personengruppen bieten sie präventive Hilfen an und schaffen ihnen Begegnungs- und Kontaktmöglichkeiten.
Eine zentrale Handlungsstrategie der Sozialraumorientierung ist die interinstitutionelle Kooperation und Vernetzung, auch über die Grenzen der einzelnen Hilfesysteme hinweg. Dadurch lassen sich ein abgestimmtes und effektives professionelles Handeln und passgenaue Angebote realisieren.
Durch Ausdifferenzierung der Angebote, Pluralisierung der Anbieter sozialer Leistungen und die insgesamt zu beobachtende Expansion sozialer Dienste in den vergangenen Jahrzehnten ist eine besondere Situation entstanden. Die Fülle von Wahlmöglichkeiten ist mit teils größerer Unübersichtlichkeit verbunden und führt bei bestimmten Personengruppen zu Verunsicherung, so dass sie professionelle Hilfen weniger in Anspruch nehmen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma wird in der Kooperation und Vernetzung sozialer Dienste im Sozialraum gesehen.6
Fazit
Es ist Aufgabe von Beratung, organisatorisch-institutionelle Rahmenbedingungen und Angebote öffentlich sichtbar zu machen, Zugänge zu erleichtern sowie die interinstitutionelle Kooperation und Vernetzung zu gestalten. Zugleich soll Beratung vertrauensvolle Räume schaffen, die Menschen ermutigen, sich zu öffnen und mit der/dem Berater(in) über persönliche, manchmal schmerzliche und intime Angelegenheiten zu sprechen.
Beratung bewegt sich also zwischen Sozialraumorientierung und Lebensweltorientierung. Die Kommunikation in der Beratung wechselt daher zwischen der Vermittlung von Sachverhalten und pragmatischen Hinweisen einerseits und psychologischen Methoden der Gesprächsführung andererseits. Das Spannungsfeld zwischen Sozialraum und Lebenswelt, also zwischen öffentlichem und individuell-subjektivem Bereich, charakterisiert Beratung als eigenständiges psychosoziales Handlungskonzept. Sozialraumorientierung und Subjektorientierung sind somit keine konkurrierenden Paradigmen, sondern zwei Seiten einer Medaille.
Anmerkungen
1. Rauchfleisch, Udo: Arbeit im psychosozialen Feld : Beratung, Begleitung, Psychotherapie und Seelsorge. Göttingen, 2006.
2. Siehe Lenz, Albert: Beratung in sozialen Kontexten - Community Counseling. In: Nestmann, Frank et al. (Hrsg.): Das Handbuch der Beratung. Band 1: Disziplinen und Zugänge, Tübingen : dgvt-Verlag, 2004, S. 435-448.
3. Thiersch, Hans: Lebensweltorientierte Soziale Beratung. In: Nestmann, Frank et al. (Hrsg.): Das Handbuch der Beratung, Band 2: Ansätze, Methoden und Felder. Tübingen : dgvt-Verlag, 2004, S. 487-496.
4. Siehe dazu auch Großmaß, Ruth: Beratungsräume und Beratungssettings. In: Nestmann, Frank et al. (Hrsg.): Das Handbuch der Beratung. Band 1, a.a.O., S. 487-496.
5. Siehe Lenz, Albert: ebd.
6. Vgl. Diözesan-Caritasverband Münster: Abschlussbericht des Projekts Integrierte Kinder-, Jugend- und Familienhilfe der Caritas (InCa), 2008.