Die Quote der Schulabbrecher ist schwer zu drücken
Im Juni 2010 beschloss der Europäische Rat die sogenannte "Europa 2020"-Strategie als Nachfolge der Lissabon-Strategie. Von den ehrgeizigen Kernzielen dieser bis 2020 geltenden Langzeitstrategie sind aus wohlfahrtsverbandlicher Sicht diejenigen aus den Bereichen Beschäftigung, Armutsbekämpfung und Bildung von zentraler Bedeutung: Die Beschäftigungsquote der 20- bis 64-Jährigen soll auf 75 Prozent erhöht werden. Die Anzahl der von Armut und Ausgrenzung betroffenen oder bedrohten Menschen soll um mindestens 20 Millionen gesenkt werden. Die Schulabbrecherquote1 soll auf unter zehn Prozent reduziert und die Anzahl der 30- bis 34-Jährigen mit Hochschul- oder gleichwertigem Bildungsabschluss auf mindestens 40 Prozent gesteigert werden.
Im Hinblick auf ihre wesentlichen Ziele wurde die Lissabon-Strategie oftmals als gescheitert beurteilt. Die Umsetzung der Ziele der "Europa 2020"-Strategie steht in den Mitgliedstaaten noch am Anfang. Tendenzen, ob sie möglicherweise erreicht werden, lassen sich jedoch schon jetzt ablesen und diskutieren. So stellt eine Mitteilung der Kommission2 vom Dezember 2011 zur reduzierten Schulabbrecherquote fest, dass dieses Ziel nicht erreicht werden kann, wenn sich die aktuellen Trends fortsetzen. 2010 lag der Prozentsatz der Schulabbrecher im EU-Durchschnitt immer noch bei 14,1 Prozent und hat sich damit gegenüber 14,4 Prozent im Jahr 2009 nur leicht verbessert. Allerdings gibt es in den einzelnen Mitgliedstaaten große Unterschiede.
Schulabbrecherquote in Deutschland leicht gestiegen
"Schlusslichter" waren 2010 Malta (36,9 Prozent Schulabbrecher), Portugal (28,7 Prozent) und Spanien (28,4 Prozent). Andere Länder hingegen wie Estland (11,6 Prozent Schulabbrecher), Ungarn (10,5 Prozent) und Irland (10,5 Prozent) nähern sich allmählich der angepeilten Zehn-Prozent-Marke. Die Slowakei (4,7 Prozent), die Tschechische Republik (4,9 Prozent) und Slowenien (fünf Prozent) haben die Zielmarke bereits unterschritten.
Zum Teil stagniert jedoch auch in den Ländern mit einer vergleichsweise guten Quote der Trend. In Deutschland ist der Anteil der Schulabbrecher sogar von 11,1 Prozent (2009) auf 11,9 Prozent (2010) wieder leicht gestiegen.3 Die Kommissionsmitteilung zum Bericht weist darauf hin, dass es in allen EU-Mitgliedstaaten intensiver Maßnahmen für junge Menschen mit Schulabbruchrisiko bedarf.
Jeder fünfte Schüler hat Lese- und Schreibdefizite
Ein vor kurzem erschienener Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)4 stellt einen deutlichen Zusammenhang zwischen Schulversagen und ungünstigem sozioökonomischem Hintergrund fest. Insgesamt gelingt es in den OECD-Ländern im Durchschnitt jedem fünftem Schüler nicht, das mindestens erforderliche Grundniveau an Lese- und Schreibfähigkeiten zu erwerben. Um Schulabbruch und -versagen zu vermeiden und ein chancengerechteres Bildungssystems herzustellen, werden Maßnahmen und Empfehlungen für die Politik benannt, beispielsweise die Schüler nicht frühzeitig auf verschiedene Schultypen zu verteilen oder Klassenwiederholungen abzuschaffen. Auch der Deutsche Caritasverband setzt sich für ein Bildungssystem ein, das die Heterogenität und die individuellen Bedarfe der Kinder und Jugendlichen konstruktiv aufgreift. Er vertritt die Auffassung, dass die Dreigliedrigkeit des deutschen Schulwesens insgesamt nicht dazu beiträgt, sozialisations- beziehungsweise herkunftsbedingte Benachteiligungen auszugleichen.5
Die Frage nach der notwendigen Investition in eine neu gestaltete allgemeine und berufliche Bildung rückt auch durch die in der Krise gestiegene Jugendarbeitslosigkeit verstärkt auf die politische Agenda. Im europaweiten Durchschnitt liegt die Quote der erwerbslosen Jugendlichen und jungen Erwachsenen mittlerweile bei über 20 Prozent. In Spanien und Griechenland erreicht sie Werte über 45 Prozent.6
Beschäftigung lahmt
Nicht nur die Jugend ist von hoher Arbeitslosigkeit betroffen. Dem von der Kommission erstellten Fortschrittsbericht zur Strategie "Europa 2020"7 zufolge ist auch nicht gesichert, dass das Kernziel erreicht wird, die Beschäftigungsquote der 20- bis 64-Jährigen auf 75 Prozent zu erhöhen. Gemäß dem Bericht gab es im Beschäftigungsbereich 2011 keine bedeutenden Fortschritte. Selbst wenn es bis 2020 allen Mitgliedstaaten gelingen würde, ihre nationalen Ziele zu erreichen, würde das EU-weite Ziel einer Beschäftigungsquote von 75 Prozent immer noch um 1,0 bis 1,3 Prozentpunkte verfehlt werden. Dies betrifft auch die Armutsbekämpfung. Nach vorläufigen Schätzungen anhand der nationalen Zielvorgaben würden mindestens fünf Millionen weniger Menschen als angestrebt aus Armut und sozialer Ausgrenzung herausgeführt werden.
In einer Entschließung des Europäischen Parlaments zu den beschäftigungs- und sozialpolitischen Aspekten im Jahreswachstumsbericht 2012 äußern sich die Abgeordneten deshalb "(…) besorgt angesichts der Tatsache, dass die derzeit geltenden nationalen Ziele nicht ausreichen, um die Kernziele der Strategie Europa 2020 in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und Armutsbekämpfung zu erreichen (…)".8
In Anbetracht der Krise ist es eine große Herausforderung sicherzustellen, dass die Einsparungen der öffentlichen Hand mit der sozialen Dimension von "Europa 2020" vereinbar sind. Es ist aus den angeführten Gründen von großer Bedeutung, dass sich das im Frühjahr erscheinende nationale Reformprogramm (NRP) 2012 der Bundesregierung mit diesen Problemen auseinandersetzt. In den jährlichen nationalen Reformprogrammen wird der Beitrag der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Kernziele erarbeitet. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und damit auch der DCV haben sich deshalb frühzeitig bei der Erarbeitung des NRP 2012 eingebracht und eine Stellungnahme zur Fortschreibung des Programms 2012 erarbeitet. Im November 2011 wurden die Vorschläge mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales diskutiert. Nun bleibt abzuwarten, welche Empfehlungen übernommen werden.
Anmerkungen
1. Als Schulabbrecher gelten Personen zwischen 18 und 24 Jahren, die höchstens über einen Abschluss der Sekundarstufe I verfügen und keine weiterführende Schul- oder Berufsbildung durchlaufen.
2. Kommissionsmitteilung zum "Entwurf des gemeinsamen Berichts des Rates und der Kommission (2012) über die Umsetzung des strategischen Rahmens für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung (,ET 2020‘)" vom 20.12.2011 (KOM(2011) 902 endgültig).
3. Die Schulabbrecherquoten der EU-27 Staaten in 2000, 2009 und 2010 siehe Tabelle in SEC(2011)1607 final vom 20.12.2012. http://register.consilium.europa.eu/pdf/en/11/st18/st18577-ad01.en11.pdf, S. 41.
4. Equity and Quality in Education. Supporting Disadvantaged Students and Schools. OECD-Bericht. 9.2.2012. www.oecd-ilibrary.org, "Search", Suchbegriff "Equity and Quality in Education". Deutsche Zusammenfassung: www.oecd.org/dataoecd/48/41/49629163.pdf
5. Gleiche Bildungschancen für benachteiligte Kinder und Jugendliche. Diskussionspapier des Deutschen Caritasverbandes. In: neue caritas Heft 9/2007, S. 35 ff.
6. http://epp.eurostat.ec.europa.eu, "Statistics explained", Suchbegriff "Unemployment Statistics".
7. KOM(2011)815 endgültig. VOL 2/5 Anhang vom 23.11.2011. http://ec.europa.eu/ europe2020/, "Jahreswachstumsberichte", "Fortschrittsbericht zu Europa 2020".
8. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15.2.2012 zu beschäftigungs- und sozialpolitischen Aspekten im Jahreswachstumsbericht 2012 (2011/02320(INI))www.europarl.europa.eu, "Tätigkeiten", "Angenommene Texte", Suchbegriff "Jahreswachstumsbericht".