Bewohnerbeteiligung ernst gemacht
Sozialraumorientierte Arbeit muss im Alltag und in der Lebenswelt der Menschen verortet sein und dort ihre Aktivitäten entwickeln. Sie muss wissen, wie die Wohn- und Lebensverhältnisse im Stadtteil sind, wie die Menschen ihr Leben bewältigen, welche Interessen, Motivationen und Kompetenzen sie haben. Wie erreicht man das? Voraussetzung ist eine Anlaufstelle vor Ort, möglichst zentral im Stadtteil gelegen und möglichst niedrigschwellig zugänglich. Ebenso wichtig ist die aufsuchende Arbeit: im Stadtteil unterwegs sein, Kontakte aufbauen, informelle Netzwerke aufspüren und pflegen. Gemeinwesenarbeiter(innen) initiieren und begleiten zum Beispiel Bewohnertreffs in Gemeinschaftsräumen. Sie sind mit Beteiligungsaktionen auf der Straße und in Hauseingängen präsent. Sie klingeln an Haustüren und fragen Bewohner(innen) nach ihrer Meinung. Oder sie stehen - wie bei der Methode "Planning for Real"2 - mit einem Modell des Stadtteils auf der Straße und kommen so mit den Menschen über Probleme und Wünsche ins Gespräch.
Nicht allein die physische Präsenz schafft dabei den Bezug zur Lebenswelt, auch die Haltung gegenüber den Bewohner(inne)n ist zentral: Wirkliches Interesse an ihrer Lebenssituation, Wertschätzung ihrer Interessen und Potenziale ohne Bevormundung schaffen Vertrauen und die Basis dafür, dass die Menschen ihren Kompetenzen trauen und aktiv werden. Das ist nicht selbstverständlich. Oft genug meinen die "Profis", die Probleme schon zu kennen, und wissen am Ende auch schon die Lösung. Wer im Alltag der Menschen ankommen will, muss neugierig sein, zuhören und einen offenen Blick für andere Strategien zur Lebensbewältigung haben.
So in der Lebenswelt angekommen, richten sich die Ziele und Aktivitäten an den Bedürfnissen und Interessen der Bewohner(innen) aus. Das klingt banal. Es ist jedoch gar nicht selbstverständlich, ein Gemeinwesenprojekt nicht schon mit mehr oder weniger fertigen Ideen, Zielen, Projekten zu starten, sondern sich wirklich konsequent danach zu richten, was den Bewohner(inne)n wichtig ist.
Im Stadtteil Weingarten startete die Gemeinwesenarbeit mit einer großen Umfrage im Jahr 1990 unter den Bewohner(inne)n eines Quartiers, in dem die Probleme am drängendsten waren. Neben der dringend nötigen baulichen Sanierung wünschten sich die Bewohner(innen) ein Betreuungsangebot für Kinder. Aus diesem Bedarf heraus entstand die "Spieloffensive", die zum Forum Weingarten gehört. Es wurde ein Bauwagen angeschafft, mit dem eine pädagogische Fachkraft im Quartier unterwegs war. Direkt vor der Haustür hatten die Kinder jetzt ein betreutes Spielangebot. Nach einer Projektphase gelang es, die Finanzierung über städtische Zuschüsse zu sichern. Als das Quartier saniert wurde, entstand ein festes Haus für Gruppenangebote, der "Spielturm", mit einer langen Röhrenrutsche, die sich die Kinder bei einem gemeinsamen Planungsworkshop gewünscht hatten. Außerdem wurde ein Erlebnisspielplatz angelegt. Zu dem mobilen Bauwagenangebot sind so Gruppenarbeit, Holzwerkstatt, offene Angebote und Hüttenbau auf dem Spielplatz hinzugekommen.
Rund 20 Jahre später wurden ganz andere Bedürfnisse deutlich: Viele Bewohner(innen) sind inzwischen im Stadtteil alt geworden. Die Kinder sind ausgezogen, die Eltern wohnen allein oder mit Partner(in) in den großen Wohnungen. Ihr Wunsch ist es, im Stadtteil alt zu werden.
Die Gemeinwesenarbeiter(innen) haben gefragt, was sie dazu bräuchten, und gemeinsam mit ihnen Konzepte entwickelt. Die anstehende Sanierung eines Hochhauses bot die Gelegenheit, hier sowohl baulich als auch sozial auf die Bedürfnisse der Bewohner(innen) zu reagieren. Die Komplettsanierung machte den Auszug aller Mieter(innen) notwendig. Die ehemals 90 großen Wohnungen wurden in 140 kleinere umgebaut. Denn kleine Wohnungen fehlen im Stadtteil. Ein Teil der Wohnungen wurde barrierefrei gebaut. Ein Konzept der sogenannten "Wohnverwandtschaften" soll es älteren Menschen ermöglichen, möglichst lange in der eigenen Wohnung zu leben. Ziel ist eine gelingende Nachbarschaft mit einem Netzwerk gegenseitiger Hilfe.
Schon lange vor Einzug hat die Gemeinwesenarbeit mit Baustellengesprächen, Planungstreffen und einer "Stockwerksbörse"3 dafür gesorgt, dass sich die Bewohner(innen) kennenlernen und ein gutes Miteinander entwickeln. Die städtische Wohnungsgesellschaft ging auf die Wünsche aus den Planungstreffen ein: Eine Concierge im Eingangsbereich sorgt für Sicherheit und eine freundliche Atmosphäre im Haus. Ein großer Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss bietet Begegnungsmöglichkeiten. Außerdem steht eine Gästewohnung im Haus zur Verfügung. Wenn die Kinder und Enkelkinder zu Besuch sind und der Platz in den jetzt kleineren Wohnungen nicht ausreicht, können die Gäste im selben Haus preiswert untergebracht werden.
All dies kommt natürlich nicht nur den Senior(inn)en zugute. Auch die anderen Bewohner(innen) schätzen die Einrichtungen und die positive Atmosphäre im Haus. Wenn die nachbarschaftliche Unterstützung nicht mehr ausreicht, soll professionelle Hilfe sie ergänzen. Beratung für Senior(inn)en wird vor Ort angeboten.
Beteiligung muss ernst gemeint sein
Gemeinwesenarbeit will Menschen ermöglichen, in ihrer Lebenswelt aktiv zu werden und sie mitzugestalten. Sie will dabei gerade auch jene erreichen, die sich in öffentlichen Meinungsbildungsprozessen bisher nicht oder wenig artikulieren. Dies gelingt nur, wenn die Menschen die Erfahrung machen, dass ihre Beteiligung auch gewollt ist und ernst genommen wird. Punktuelle, formalisierte Beteiligungsverfahren im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben reichen dafür längst nicht aus. Beteiligung muss ernst gemeint, niedrigschwellig, transparent und kontinuierlich sein.
Aufgabe der Gemeinwesenarbeit ist es, geeignete Beteiligungsstrukturen aufzubauen, sie gemeinsam mit den Bewohner(inne)n politisch einzufordern und die Selbstorganisation der Bewohner(innen) zu unterstützen. Dafür gibt es keine Patentrezepte, jeder Stadtteil muss Beteiligungsstrukturen entwickeln, die auf die Gegebenheiten vor Ort passen.
Bewohner bestimmen mit: zwei Beispiele
Im Stadtteil Weingarten hat sich als eine solche Struktur eine gewählte Bewohnervertretung etabliert, die die Stadtteilbewohner(innen) in Sanierungs- und Stadtteilgremien vertritt. Die Gemeinwesenarbeit organisiert regelmäßig Wahlen im Wohnquartier, bei denen alle Haushalte die 16 Bewohnervertreter(innen) wählen. So ist gewährleistet, dass zum einen jede(r) Gelegenheit zur Mitsprache erhält, zum anderen demokratisch legitimierte Vertreter(innen) selbst die Interessen der Bewohner(innen) transportieren. Die Wahlbeteiligung hier ist deutlich höher als bei politischen Wahlen.
Ein weiteres Beispiel für ernst gemeinte Partizipation ist ein Mitbestimmungsmodell bei der Wohnungsbelegung: Wird eine Wohnung neu vermietet, schlägt die städtische Wohnungsgesellschaft den Nachbar(inne)n mehrere Bewerber-(innen) vor. Bei einem gemeinsamen, vom Gemeinwesenarbeiter moderierten Treffen stellen sich Bewerber(innen) und zukünftige Nachbar(inne)n einander vor. Danach entscheidet die Nachbarschaft, wer am besten in ihr Haus beziehungsweise auf ihr Stockwerk passt. Angesichts einer einseitigen Bewohnerstruktur, die das Zusammenleben in den Häusern oft sehr belastet, können die Mieter(innen) hier direkt Einfluss auf ihre Nachbarschaft nehmen. Diese Gelegenheit nutzen durchschnittlich 60 Prozent der Mieter(innen).
Mehr Verantwortung ist nicht immer leicht
Nicht nur Entscheidungsträger(innen) und Fachleute müssen vom Wert der Bewohnerbeteiligung überzeugt werden, sondern auch viele Bewohner(innen) selbst. Denn Partizipation ist auch eine "Zumutung". Manche Bewohner(innen) erwarten, die Gemeinwesenarbeiter(innen) würden ihr Anliegen für sie erledigen. Für viele scheint es einfacher, Probleme "abzugeben" und andere machen zu lassen, die das vermeintlich besser können oder mehr Zeit dafür haben. Aufgabe der Gemeinwesenarbeit ist es dann, nicht für die Menschen Lösungen zu suchen, sondern mit ihnen, sie zu überzeugen, dass nachhaltige Lösungen nur von ihnen selbst kommen können, und ihr Vertrauen in ihre Kompetenzen und Ressourcen zu stärken.
Reflektierte Parteilichkeit
Eine elementare Aufgabe sozialraumorientierter Arbeit ist es, strukturelle Benachteiligungen und die gesellschaftliche Dimension sozialer Probleme aufzuzeigen. Dies impliziert die Einmischung in kommunalpolitische Entscheidungsprozesse und Stadtentwicklungsfragen. Das kann unbequem sein und zu Konflikten führen. Hier liegt wohl eines der größten Spannungsfelder sozialraumorientierter sozialer Arbeit. Versucht sie in Konfliktsituationen, im Stadtteil Verständnis für politische Mehrheitsentscheidungen zu wecken, steht sie parteilich an der Seite der Bewohner(innen) oder ist sie neutrale Vermittlerin zwischen zwei Interessenparteien?
Im Stadtteil Weingarten treten diese Fragen vor allem im Zusammenhang mit der kommunalen Wohnungspolitik auf, insbesondere bei den regelmäßigen Mieterhöhungen der städtischen Wohnungsgesellschaft. Seit Auslaufen der Preisbindung für die ehemaligen Sozialwohnungen passt die Gesellschaft ihre Mieten der ortsüblichen Vergleichsmiete an. Das bedeutet, dass sich die ehemals günstigen Mieten immer mehr dem hohen städtischen Niveau angleichen. Für viele Menschen mit geringem Einkommen wird dies zu einem existenziellen Problem. Das Forum Weingarten sieht sich in der Pflicht, die Bewohner(innen) in ihrem Protest zu unterstützen. Dies hat ihm in der Vergangenheit viel Kritik von städtischer Seite eingebracht. Als Empfängerin städtischer Zuschüsse wird von der Gemeinwesenarbeit erwartet, dass sie die Politik nicht angreift, sondern vielmehr vermittelt.
Aus berufsethischer Sicht ist in solchen Fällen jedoch - reflektierte - Parteilichkeit gefragt: Wo sozialraumorientierte soziale Arbeit Benachteiligung wahrnimmt, setzt sie sich gemeinsam mit Bewohner(inne)n für deren Aufhebung und gegen die Verschärfung sozialer Notlagen ein.
Strukturen, die tragen
Wichtig für die Nachhaltigkeit der Gemeinwesenarbeit sind Strukturen, die tragen: Im Fall des Forums Weingarten ist es zum einen die oben erwähnte gewählte Bewohnervertretung, die sich als demokratische Partizipationsstruktur etabliert hat. Sie ist im Stadtteil bekannt und übernimmt Verantwortung.
Zum anderen ist es das Forum Weingarten selbst als Bewohnerverein mit seinen knapp 200 Mitgliedern, der klar im Stadtteil verortet ist. Die Tatsache, dass die Gemeinwesenarbeit von diesem kleinen Verein, also von den aktiven Bewohner(inne)n, getragen wird, trägt wesentlich zur Nachhaltigkeit der Arbeit bei: Die Identifikation ist hoch. Denn es waren die Bewohner(innen) selbst, die sich für die Einrichtung ihres Stadtteilbüros engagiert haben und dieses nun seit über 20 Jahren tragen. Andererseits aber hat der Verein als Selbsthilfeorganisation weder finanzielle Rücklagen noch einen größeren Verband als Rückhalt. Das Bangen um Zuschüsse und um das finanzielle Überleben gehört deshalb zum Alltag.
Bewohnerengagement und Beteiligung braucht dauerhaft professionelle Unterstützung. Die Erwartung, Gemeinwesenarbeit müsse nur Bewohner aktivieren und Strukturen der Selbstorganisation entwickeln, die dann irgendwann ohne Hauptamtliche auskommen, geht an der Realität vorbei. Der Arbeitsumfang ist zu groß und die Arbeit zu komplex, um sie allein ehrenamtlich zu bewältigen. Fachliches Know-how ist nötig und ein verlässlicher Anlaufpunkt, der die Bewohner(innen) in ihrem Engagement unterstützt, gerade in Krisen oder wenn die Motivation fehlt. Beenden aktive Bewohner(innen) ihr Engagement oder ziehen weg, können die Gemeinwesenarbeiter(innen) für Kontinuität sorgen, bis neue Aktive gefunden sind. All dies funktioniert nicht ohne Hauptamtliche.
Anmerkungen
1. In der Fachdiskussion gibt es unterschiedliche Definitionen und Abgrenzungen von Sozialraumorientierung und Gemeinwesenarbeit, die an dieser Stelle nicht thematisiert werden sollen. Im Folgenden werden die beiden Begriffe identisch verwendet.
2. Ein gemeinwesenorientiertes Verfahren, die Beteiligung von Bewohner(inne)n im Stadtteil zu fördern.
3. An 16 Tischen für die 16 Stockwerke konnten sich die Teilnehmer(innen) an ihre "Wunschwohnung" setzen und die möglichen Stockwerksnachbar(inne)n kennenlernen. Moderator(inn)en begleiteten das Kennenlernen und den Austausch über Wünsche und Erwartungen an die zukünftige Nachbarschaft. Moderiert durch die Gemeinwesenarbeit hatten die zukünftigen Bewohner(innen) so selbst die Grundlage für die Belegung des Hauses durch die Wohnungsgesellschaft und für eine gelingende Nachbarschaft gelegt.