Wie Hilfemix gelingen kann
Im Projekt "Hilfe teilen - Das Zusammenwirken des beruflichen und nichtberuflichen Hilfesystems im Deutschen Caritasverband" wurden für den Verband exemplarisch am Beispiel der Alten- und Behindertenhilfe die Faktoren einer gelingenden Zusammenarbeit von beruflichem und nichtberuflichem Hilfesystem identifiziert und beschrieben.
Anknüpfungspunkt für die Untersuchung im Zeitraum von April 2010 bis Dezember 2011 war die "Initiative der Caritas für selbstbestimmte Teilhabe" (2009-2011). Diese ging davon aus, dass es zur Verwirklichung selbstbestimmter Teilhabe der zivilgesellschaftlichen Solidarität im sozialen Nahraum bedürfe. Finanziert wurde die Untersuchung hauptsächlich mit Mitteln der Glücksspirale.
Thesen anhand guter Praxis untersucht
Unter nichtberuflichem Hilfesystem werden hierbei all jene solidarischen Hilfeformen verstanden, "die zwischen der individuellen Selbsthilfe der einzelnen Person und den großen institutionellen öffentlichen, staatlichen und beruflich organisierten Hilfesystemen stehen. Sie umfassen Hilfen in Familien, die Nachbarschaftshilfen, die Selbsthilfegruppen auf örtlicher Ebene in informellen und formellen Strukturen ebenso wie ehrenamtliche Hilfen und Freiwilligenarbeit."1
Aufbauend auf innerverbandlichen Grundlagenpapieren sowie Papieren der Alten- und Behindertenhilfe und entsprechenden Projekten wurden unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Situation und des sich daraus ergebenden Handlungsbedarfs für die Wohlfahrtsverbände Thesen erstellt. Für die Alten- und Behindertenhilfe wurde daraus folgender Idealtypus hinsichtlich des Zusammenwirkens des beruflichen und nichtberuflichen Hilfesystems formuliert2: "Bürger(innen) eines Gemeinwesens lassen sich vom Hilfebedarf einer betroffenen Personengruppe ansprechen und beschließen, gemeinsam mit den betroffenen Personen daran zu arbeiten, dass sie Teil des Gemeinwesens bleiben beziehungsweise wieder werden können. In ihrer Arbeit werden sie dabei auch vom beruflichen Hilfesystem unterstützt, allerdings nicht in Form eines in seinen Kompetenzen überlegenen Systems, sondern durch eine partnerschaftliche Zusammenarbeit. Das berufliche Hilfesystem ist somit Teil der sozialen Bewegung vor Ort."
Zur Überprüfung der Thesen wurden Beispiele guter Praxis gesucht, in welchen das Zusammenwirken des beruflichen und nichtberuflichen Hilfesystems bereits gelebt wird.
Elf Projekte an acht Standorten wurden für die Untersuchung ausgewählt, eines davon im Bereich der Altenhilfe im internationalen Kontext. Statt eines internationalen Beispiels in der Behindertenhilfe wurde untersucht, inwiefern sich gemeinwesenorientierte Rehabilitation ("Community Based Rehabilitation"), eine von Caritas international häufig in der Entwicklungszusammenarbeit gewählte Methode, auf Projekte in Deutschland übertragen lässt.
Um die Faktoren für ein gedeihliches Miteinander des beruflichen und nichtberuflichen Hilfesystems ausfindig zu machen, wurde als Methode das leitfadenorientierte Experteninterview gewählt. Aus jedem Praxisbeispiel wurde mindestens eine Person des beruflichen und nichtberuflichen Hilfesystems getrennt befragt.3
Es hat sich gezeigt, dass der Idealtypus keine unerreichbare Utopie ist. Stellenweise kommen die untersuchten Beispiele diesem sehr nahe. Da die Untersuchung nicht repräsentativ ist, lässt sich dazu allerdings keine Aussage für den Gesamtverband machen.
Wenn die Caritas aktiv an der Gestaltung der Bürgergesellschaft mitwirken und ihre Solidaritätsstifterfunktion stärker ausprägen will - wie im Leitbild beschrieben -, erfordert dies bei allen Untergliederungen den Mut, gegebenenfalls umzudenken und neue Wege zu beschreiten. Die untersuchten Beispiele guter Praxis haben diesen Weg - teilweise schon vor längerer Zeit - beschritten. Dabei hat sich gezeigt, dass vor allem folgende Faktoren entscheidend sind, damit sich der Idealtypus durch Mithilfe der Caritas vor Ort im Gemeinwesen entfalten kann:
Gemeinwesen
- Kommunalpolitische Weichenstellungen hin zu einem Mehr an Bürgerbeteiligung;
- verlässliche Beteiligungsstrukturen;
- Menschen, die bereit sind, betroffenen Personen zu helfen;
- wo nötig, Befähigung der Bürger(innen), ihre Anliegen zu nennen und umzusetzen;
- Vernetzung aller relevanten Akteure des Gemeinwesens.
Bürger(innen)
- Bereitschaft, ihre Anliegen selbstbestimmt in die Hand zu nehmen;
- Zugang zum beruflichen Hilfesystem in sozialen Einrichtungen/Diensten und anderen für eine Problemlösung relevanten Bereichen, die den Anliegen der Bürger(innen) gegenüber aufgeschlossen und bei einer erfolgreichen Umsetzung behilflich sind;
- Zeit;
- Aufgaben, Rollen und Verantwortung aller an einer Problemlösung beteiligten Akteure im Gemeinwesen klären;
- Durchhaltevermögen und Einsicht, dass man auch mit geringen Mitteln den sozialen Nahraum verändern kann.
Untergliederungen des DCV, Einrichtungen und Dienste
- ein geklärtes Selbstverständnis von beruflichem und nichtberuflichem Hilfesystem, das auch gelebt wird;
- Bereitschaft, sich als Teil einer Sozialbewegung zu sehen, welche dazu beiträgt, dass Menschen wieder bereit sind, Verantwortung zu übernehmen;
- neue Formen der Caritasarbeit, Bereitschaft, sich auch auf Ungewohntes einzulassen;
- Bereitschaft, sich auf das Gemeinwesen und seine Gegebenheiten einzulassen;
- zentrale Lage von Diensten und Einrichtungen;
- die Aufgaben dahingehend überprüfen, ob eine Übernahme durch das berufliche Hilfesystem nötig ist oder ob diese auch vom nichtberuflichen Hilfesystem übernommen werden können;
- Zugang zu Schlüsselpersonen im Gemeinwesen, die selbstbestimmter Teilhabe alter und behinderter Menschen zum Erfolg verhelfen können, sowie ihre Einbindung bei der Lösung sozialer Probleme von Anfang an;
- Durchhaltevermögen und Einsicht, dass man auch mit geringen Mitteln den sozialen Nahraum verändern kann.
Mitarbeiter(innen)
- Einsicht, dass nur durch die Einbeziehung des nichtberuflichen Hilfesystems selbstbestimmte Teilhabe ermöglicht wird, dass aber auch bei einem Primat selbstbestimmter Teilhabe das berufliche Hilfesystem unverzichtbar ist - es sorgt für Balance im Hilfemix;
- neue Formen der Caritasarbeit, Bereitschaft, sich auch auf Ungewohntes einzulassen;
- Fortbildung und Herausbildung neuer Kompetenzen für die Sozialraumarbeit;
- Zeit für sozialräumliche Aktivitäten und diese als fachliches Wirken anerkennen;
- Aufgaben, Rollen und Verantwortung aller an einer Problemlösung beteiligten Akteure im Gemeinwesen klären;
- wertschätzende und authentische Haltung gegenüber dem nichtberuflichen Hilfesystem;
- Durchhaltevermögen und Einsicht, dass man auch mit geringen Mitteln den sozialen Nahraum verändern kann.
Nutzer(innen)
- Bereitschaft des Einzelnen, seine Anliegen selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Dies kann auch heißen, den Hilfebedarf dem Gemeinwesen deutlich zu machen beziehungsweise Foren als Plattform zu nutzen.
- Wahrnehmung ihrer Ressourcen bei der Bewältigung sozialer Probleme sowie Anerkennung ihrer Fähigkeit zur Selbstregulation;
- unter Anwendung des Subsidiaritätsprinzips verlässliche Netzwerke.
Ein ausführlicher Projektbericht kann bei den Verfasserinnen angefordert werden.
Anmerkungen
1. Fink, Franz: Profi oder Nicht-Profi: Wer hilft, hat recht. In: Deutscher Caritasverband e.V. (Hrsg.): neue caritas-Jahrbuch 2008, S. 73.
2. Die Grundannahmen des Idealtyps sind bereits in der "Teilhabeinitiative" im Grundprinzip "Zusammenwirken von beruflichem und nichtberuflichem Hilfesystem" enthalten. Vgl. Göhring-Lange, Gabriele: Selbstbestimmte Teilhabe. Freiburg : Lambertus, 2008, Anlage 1, S. 91ff.
3. Eine Ausnahme bildete das internationale Projekt in der Altenhilfe. Hier konnte aus Gründen der Umsetzbarkeit nur eine Person des nichtberuflichen Hilfesystems befragt werden, die ehrenamtlich das Projekt unterstützt.