Migration und Entwicklung: Gegensätze ziehen sich an
In vielen Ländern wächst das Interesse an Migration und Entwicklung. Die Aufmerksamkeit für die entwicklungspolitischen Chancen von Migration steigt sowohl in Industrie- als auch in Schwellen- und Entwicklungsländern, und immer häufiger wird diskutiert, ob eine Einbeziehung entwicklungspolitischer Aspekte zu einer kohärenteren Migrationspolitik führen kann.
Dabei sind die Zusammenhänge nicht neu. Sowohl in der Entwicklungs- als auch in der Migrationsforschung wird seit langem dazu gearbeitet. Aber wie ist das aktuelle Interesse zu erklären? Und sind die Hoffnungen auf eine "Entwicklung durch Migration" überhaupt gerechtfertigt? Schließlich: Wie könnten die deutsche und europäische Entwicklungszusammenarbeit die Potenziale von Migration besser nutzen?
Wandel des globalen Migrationsgeschehens
Das neue Interesse an Migration und Entwicklung ist kein Zufall, sondern eine Reaktion auf grundlegende Veränderungen des globalen Wanderungsgeschehens. Drei Aspekte sind besonders relevant:
Erstens wandelt sich Migration allmählich zu Mobilität. Die befristete Migration ist seit vielen Jahren weltweit die am schnellsten wachsende Wanderungsform; auch die jüngste globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat diesen Trend nur leicht gedämpft. Die Vorstellung von Migration als einer dauerhaften Aus- und Einwanderung ist weitgehend überholt. Integrierte Märkte, neue Kommunikationstechniken und gute Reiseverbindungen fördern Binnenwanderungen und internationale Migration. Wanderungen sind immer häufiger temporär und zirkulär, finden also wiederholt statt. Ein befristeter Aufenthalt ist leichter zu organisieren, erfordert geringere Investitionen in die Reise und den Aufenthalt und kann das Einkommen der Migrant(inn)en beträchtlich steigern - und zwar anteilig um so mehr, je geringer qualifiziert sie sind.
Zweitens nehmen Geldüberweisungen von Migrant(inn)en in Entwicklungsländer stark zu. Im vergangenen Jahr haben Migrant(inn)en nach Schätzungen der Weltbank 351 Milliarden US-Dollar in Entwicklungsländer überwiesen - das Dreifache der öffentlichen Entwicklungshilfe. Hinzu kamen nicht offiziell erfasste Transfers in Höhe von mindestens 100 Milliarden Dollar. Nach Prognosen der Weltbank könnten diese Rücküberweisungen im Jahr 2014 auf 441 Milliarden US-Dollar steigen.2 Hinzu kommt, dass die Rücküberweisungen sich als erstaunlich krisenresistent erwiesen haben. Für einige Herkunftsländer sind sie zu einer wichtigen Einkommensquelle geworden, die bis zu einem Drittel des Bruttoinlandsproduktes ausmacht.
Drittens vergrößern und verfestigen sich die Netzwerke von Migrant(inn)en, und die jeweilige Diaspora gewinnt in der Zusammenarbeit von Herkunfts- und Aufnahmeland an Gewicht. Gut organisierte Diaspora-Netzwerke können Investitionen in den Herkunftsländern fördern, zur Verbesserung der Infrastruktur beitragen, den Wissens- und Technologietransfer vergrößern und die Einwerbung von ausländischen Direktinvestitionen ermöglichen. Außerdem können sie eine Rolle bei der Rekrutierung von Arbeitskräften spielen, zum Beispiel für in den Herkunftsländern neu gegründete Unternehmen, aber auch als Vermittler für Unternehmen im Aufnahmeland.
Bewertung fällt heute differenzierter aus
In den vergangenen Jahrzehnten fiel die entwicklungspolitische Bewertung von Migration meist kritisch aus: Eine Abwanderung von Fachkräften, so die gängige Argumentation, würde die Entwicklungschancen der Herkunftsländer beeinträchtigen und allen entwicklungspolitischen Bemühungen entgegenlaufen. Die Rücküberweisungen von Migrant(inn)en würden zwar die Zahlungsbilanzen der Herkunftsländer verbessern, aber keine Entwicklungswirkungen entfalten, weil sie in den Konsum flössen. Und schließlich müsse grundsätzlich zwischen den arbeitsmarktpolitischen Zielen der Industrieländer und entwicklungspolitischen Zielen unterschieden werden.
Inzwischen beurteilen aber viele entwicklungspolitische Akteure die Folgen von Migration positiver und fordern eine engere Verzahnung von Migrations- und Entwicklungspolitik. So propagiert die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ausdrücklich die Strategie einer "Migration für Entwicklung", eine Empfehlung, die auch von vielen UN-Organisationen vertreten wird.3
In der Migrationspolitik wiederum wurden entwicklungspolitische Instrumente bisher eher zurückhaltend eingesetzt. Inzwischen gibt es aber auch hier Bemühungen, solche Instrumente besser zu nutzen, da vielen Aufnahmeländern bewusst geworden ist, wie begrenzt ihre Steuerungsmöglichkeiten sind, wenn keine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern gelingt.
Zielkonflikt lässt sich nur pragmatisch lösen
Gleichwohl besteht zwischen Migrations- und Entwicklungspolitik auch weiterhin ein grundsätzlicher Zielkonflikt: Aus Sicht der Aufnahmestaaten dient die Migrationspolitik (im Unterschied zur Flüchtlingspolitik, die Verfolgten Schutz bieten soll) dazu, Menschen ins Land zu holen, die aus arbeitsmarktbezogenen, demografischen oder anderen Gründen gebraucht werden. Die Entwicklungspolitik hingegen soll durch Hilfe zur Selbsthilfe die Armut und Strukturdefizite in den Partnerländern nachhaltig reduzieren.
Diese unterschiedlichen Ziele erschweren die Verbindung beider Bereiche. Allerdings gibt es in der Praxis zahlreiche Überschneidungen. So dient Migration immer auch der Entwicklung der Aufnahmeländer, ebenso wie Entwicklung die Abwanderung aus den Herkunftsländern oft erst ermöglicht. Migration wird für potenzielle Aufnahmeländer attraktiv, wenn die Migrant(inn)en über die benötigten Qualifikationen verfügen - und diese stellen sich häufig erst bei einem höheren Grad an wirtschaftlicher Entwicklung im Herkunftsland ein.
Der Zielkonflikt kann nicht grundsätzlich, sondern nur pragmatisch bewältigt werden. Notwendig dazu ist vor allem ein differenzierter Umgang mit dem Braindrain. Die Aufnahmeländer von Migrant(inn)en müssten sich um eine genauere Analyse der Situation in den jeweiligen Herkunftsländern bemühen, denn in bestimmten Konstellationen ist die Verlustgefahr für das Herkunftsland geringer. Das gilt zum Beispiel, wenn dort junge Fachkräfte keine Chance haben, auf dem heimischen Arbeitsmarkt unterzukommen, und ihnen jahrelange Arbeitslosigkeit und Einkommenslosigkeit drohen (wie beispielsweise in Nordafrika).4 Oder wenn die Herkunftsländer Fachkräfte über ihren eigenen Bedarf hinaus ausbilden, in der Hoffnung, dass diese dann in anderen Ländern eine Anstellung finden (wie zum Beispiel philippinische Krankenschwestern), oder wenn es sich um kurzfristige Wanderungsbewegungen im Rahmen von Migrationsprogrammen handelt.5
In diesen und weiteren Fällen ist die Abwanderung für die Herkunftsländer nicht grundsätzlich schädlich, sondern kann die dortige Entwicklung unterstützen. Sind solche Konstellationen nicht gegeben, sollte allerdings auf eine aktive Anwerbung verzichtet werden. Generell sollten Regeln für ein "ethical recruitment" Beachtung finden. Vorschläge dafür wurden unter anderem bereits von der niederländischen Regierung und der Europäischen Kommission vorgelegt.
EU will gemeinsame, ganzheitliche Migrationspolitik
Die EU hat weitere pragmatische Ansätze zur Verbindung von Migrations- und Entwicklungspolitik vorgeschlagen und seit 2005 den "Gesamtansatz zur Migrationsfrage" erarbeitet.6 Das Ziel ist eine gemeinsame und ganzheitliche Migrationspolitik, die sowohl die Interessen der EU-Mit-gliedstaaten als auch die der jeweiligen Partnerländer berücksichtigt. Dazu sollen verschiedene Politikbereiche so miteinander verbunden werden, dass "Triple-win-Situationen" entstehen können, die für alle Akteure vorteilhaft sind. In der EU-Politik stehen derzeit drei Ziele im Mittelpunkt:
- Hochqualifizierte sollen so angeworben werden, dass der steigende Fachkräftebedarf in der EU gedeckt wird, ohne einen Braindrain in den Herkunftsländern auszulösen. Hierzu sollen unter anderem ethische Anwerbungskriterien beachtet werden .
- Temporäre und zirkuläre Migration sollen gefördert werden, um die Mobilität der Migrant(inn)en zu vergrößern. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, mehrfach und ihren eigenen Vorstellungen entsprechend zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern zu pendeln. Die Hoffnung ist, dass sie auf diese Weise ihre Potenziale besser nutzen können und zur Entwicklung der Herkunftsländer beitragen.
- Es wurden und werden sogenannte EU-Mobilitätspartnerschaften eingerichtet - bislang mit Kap Verde, Moldau, Georgien und Armenien; vorbereitet werden solche Partnerschaften unter anderen mit Tunesien und Marokko: Staaten, die migrationspolitisch und insbesondere bei der Reduzierung irregulärer Migration kooperieren, werden unter anderem Visaerleichterungen und Möglichkeiten zur Arbeitsmigration in Aussicht gestellt.
Auch in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit sind pragmatische Ansätze möglich und werden auch in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit bereits angewendet. So kann beispielsweise die migrationspolitische Beratung der Herkunftsländer gefördert werden, etwa durch Hilfe bei Migrationskonzepten, bei der Weiterentwicklung der für Migration und Diaspora zuständigen Regierungseinrichtungen oder beim Aufbau eines Statistikwesens. Darüber hinaus lassen sich Geldüberweisungen von Migrant(inn)en in die Heimatländer erleichtern, etwa durch Informationen über schnelle, preiswerte und sichere Übertragungswege. Die Selbsthilfe von Migrant(inn)en kann so gestärkt werden, dass diese sich leichter in Vereinen und Netzwerken zusammenschließen können, um Spenden zu sammeln oder Hilfsprojekte zu gründen. Schließlich ist es möglich, das privatwirtschaftliche Engagement von Migrant(inn)en zu fördern, damit diese sich aktiv für ihre Heimatländer einsetzen und dort investieren.
Die deutsche und die europäische Entwicklungszusammenarbeit könnten die entwicklungspolitischen Chancen von Migration besser als bisher nutzen. Die notwendigen Instrumente müssen nicht erfunden werden, sie sind zum großen Teil vorhanden. Voraussetzung wäre allerdings eine pragmatische Öffnung der Migrationspolitik für entwicklungspolitische Ziele und vor allem eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern.
Umorientierung von Entwicklungs- und Migrationspolitik
Generell müsste sich die Entwicklungszusammenarbeit stärker um Migrant(inn)en kümmern und im Idealfall migrationspolitische Aspekte in allen einschlägigen entwicklungspolitischen Vorhaben mit bedenken (Mainstreaming). Dafür gäbe es viele Möglichkeiten: Die Migration könnte durch eine umfassende Beratung über die Arbeitsmöglichkeiten und Lebensbedingungen im Aufnahmeland vorbereitet werden, und Qualifizierungsmaßnahmen ließen sich auf den jeweiligen Bedarf zuschneiden. Die Entwicklungszusammenarbeit könnte zudem eine Unterstützung während des Aufenthaltes leisten, insbesondere durch Förderung des entwicklungspolitischen Engagements der Diaspora-Netzwerke. Schließlich könnte auch die eventuelle Rückkehr unterstützt und Hilfe zur Wiedereingliederung geleistet werden.
Ob sich eine solche Umorientierung in den EU-Mitgliedstaaten durchsetzt, werden die geplanten Mobilitätspartnerschaften mit nordafrikanischen Staaten zeigen. Die bisherigen Pilot-Partnerschaften enthalten gute Ansätze, weisen aber auch grundlegende Defizite auf, die bei künftigen Abkommen beseitigt werden müssen. Dazu gehört insbesondere die bisherige Vorenthaltung von Zuwanderungsmöglichkeiten und Visaerleichterungen.
Anmerkungen
1. Abwerbung beziehungsweise Abwanderung gut ausgebildeter Fachkräfte aus Entwicklungsländern.
2. Vgl. Mohapatra, Sanket; Ratha, Dilip: Outlook for Remittance Flows 2012-14. World Bank, Migration and Development Brief 17, 2011.
3. Vgl. OECD: Policy Coherence for Development - Migration and Developing Countries. Paris, 2007.
4. Vgl. Angenendt, Steffen; Popp, Silvia: Jugendarbeitslosigkeit in Nordafrika. SWP-Aktuell, Nr. 35, Juni 2012.
5. Vgl. Gibson, John; McKenzie, David: The Economic Consequences of "Brain drain" of the Best and Brightest: Microeconomic Evidence from Five Countries. World Bank Policy Research Working Paper, 2010, http://go.worldbank.org/2C53KCGD60
6. Im November 2011 zum "Gesamtansatz für Migration und Mobilität" erweitert, s. Mitteilung der Kommission, Gesamtansatz für Migration und Mobilität, Brüssel, 18.11.2011, KOM(2011) 743.