Vielfalt - eine Herausforderung für gesellschaftliche Institutionen
Die Forderung nach einer "interkulturellen Öffnung" von Institutionen klingt plausibel. Eine echte institutionelle Öffnung ist im deutschsprachigen Raum aber fast nie realisiert worden, auch wenn sich die Lebenssituationen weiter vervielfältigt haben. Das Problem ist: Wenn man sich wirklich dem Alltag öffnen will, muss man sich genauer mit dem befassen, wofür man sich eigentlich öffnen will: Man muss die Alltagswirklichkeit erst einmal wahrnehmen. Man muss sie anerkennen und man muss daraus situationsadäquate Konsequenzen ziehen.
Warum "interkulturelle Öffnung" zu eng ansetzt
Auf den ersten Blick scheint die Forderung nach einer "interkulturellen Öffnung" von Dienstleistungseinrichtungen eine längst überfällige Antwort auf den Alltag einer Gesellschaft, die zunehmend von Migration geprägt ist. Schaut man genauer hin, so sieht man schnell, dass dieses Konzept zu kurz greift. Es arbeitet mit einem sehr spezifischen und ziemlich problematischen Gesellschaftsverständnis. Gesellschaft wird als Gemeinschaft definiert und als eine dichte und geschlossene Größe konzipiert, welche auf einer in sich konsistenten Tradition, einer gemeinsamen Sprache, einem christlichen Abendland, einer Hochkultur basiert. Dieses seit langem, tatsächlich schon seit weit über 100 Jahren kritisierte Modell basiert auf nationalstaatlichen Traditionen, wie sie im 19. Jahrhundert entwickelt wurden.
Besonders problematisch ist der aus dem 19. Jahrhundert stammende Kulturbegriff, der deutsch-national, das heißt volkskundlich konzipiert wurde und in den meisten Debatten bis heute unreflektiert mitgeschleppt wird. Die Veränderungen gegenüber damals sind minimal. Man ist heute immerhin bereit, auch andere - durch Zuwanderung hinzugekommene - Kulturen zu akzeptieren, zumindest wenn sie sich irgendwie kompatibel verhalten, also wenn sie sich in die bestehenden Verhältnisse einfügen beziehungsweise einfügen lassen.1 Das Grundproblem bleibt erhalten: die Vorstellung eines geschlossenen Kulturraumes. Selbst wenn dessen Öffnung unter bestimmten Bedingungen zugestanden wird, ist er damit noch lange nicht aus dem Weg geräumt. So gesehen ist die interkulturelle Öffnung von Institutionen ein sehr kleiner Schritt. Immerhin wird mittlerweile der Einpassungsvorgang nicht mehr einseitig dem Einwanderer zugemutet. Auch der eigenen Gesellschaft wird eine aktive Rolle zugeschrieben.
Das bis heute verwendete Gesellschaftsverständnis war schon zur Zeit seiner Entstehung keine adäquate Beschreibung der Wirklichkeit. Dies war damals gar nicht beabsichtigt. Beabsichtigt war, ein politisches Deutungsprogramm zu implementieren, um die Gesellschaft "top down" (von oben nach unten) neu zu modellieren, um Raum für die Errichtung und Durchsetzung eines Nationalstaates zu schaffen. Damit sollten nicht nur überkommene Strukturen und damit verbundene Privilegien über den Wandel der Zeit gerettet werden. Vor allem wollte man der Vielfalt und Heterogenität des Alltags mit all seinen spezifischen und das heißt letztlich unkontrollierbaren, nämlich zivilgesellschaftlichen Anliegen gezielt begegnen. Das national geprägte Gesellschaftskonzept war ein politisches Ordnungskonzept, das nach innen wie nach außen eingesetzt wurde und häufig auch zum Kampfbegriff gegen Fremdes mutierte. Es war vor allem eines, anti-heterogen. Selbst wenn wir also heute von interkulturellen Konzepten und von interkultureller Öffnung sprechen, so arbeiten wir letztlich mit einem im Kern durch und durch vielfaltfeindlichen Muster.
Immer wieder neue Versionen von Vielfalt verarbeiten
Tatsächlich ist also die Forderung nach einer interkulturellen Öffnung von Dienstleistungseinrichtungen paradox ausgerichtet. Sie enthält dennoch ein wichtiges Signal. Sie signalisiert die Erkenntnis, dass man sich auf die gesellschaftlichen Veränderungen besser einstellen muss. Das Problem ist, dass nicht nur die aktuellen Veränderungen, sondern auch die gesellschaftliche Wirklichkeit unangemessen erfasst werden. Folglich können die Folgerungen nicht situationsadäquat sein. Dabei liegen die Dinge auf der Hand. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, sich beispielsweise als Dienstleistungseinrichtung gezielt auf eine alltägliche Vielfalt einzustellen.2
Was sofort erkennbar ist, ist ein Alltag, der schon immer heterogen ist. Und diese Heterogenität hat seit einiger Zeit noch einmal massiv zugenommen. Es ist wichtig, sich diese Gründe vor Augen zu führen, um ein Gespür dafür zu bekommen, was zurzeit im Alltag geschieht, um welche Herausforderungen es geht.
Gesellschaften basieren auf Mobilität. Stadtgesellschaften sind entstanden, weil es darum ging, Mobilität für das Zusammenleben zu nutzen. Es ging und geht hier also nicht um die Frage "Vielfalt ja oder nein", sondern um die Frage, wie man sie am besten organisieren kann, um deren Nutzen zu sichern.3
Die Gesellschaft auf Mobilität aufzubauen, ist nicht ganz einfach. Es müssen Wege gefunden werden, die "Produktivkraft Vielfalt" zu organisieren, ohne sie einzuschränken. Dazu wurden transpersonale, in sich selbst ruhende Systeme entwickelt. Eine Herausforderung ist, dass immer wieder neue Versionen von Vielfalt zu verarbeiten sind. Strukturen und Systeme müssen immer wieder neu eingestellt werden, damit sie ihre Leistungsfähigkeit erhalten. Man kann das als "Akkommodation"4 bezeichnen.
Neue Medien und Mobilität
Die Entwicklungen werden durch zwei weitere Faktoren noch einmal massiv verstärkt, nämlich die Erfindung der neuen Medien und die neuen Mobilitätsmittel. Seitdem zeichnet sich ein Trend hin zu einer neuen "Supervielfalt"5 ab.
Wir erleben heute das erste Mal über ganze Kontinente hinweg so etwas wie eine Just-in-time-Kommunikation. Damit kippt das die Lebenssituation bislang orientierende Überlieferungsgefüge. Es gilt nicht mehr, was einstmals galt, sondern was heute und jetzt global gilt. Damit erweitert sich der Kontingenzspielraum und es entwickelt sich eine fast grenzenlose Anzahl von Mischformen. Man kann sich heute unbefangen einen persönlichen Lebensstil zusammenstellen.
Zudem erleben wir heute eine bis noch vor einer Generation unvorstellbare Mobilität, angefangen bei Mobilitätsformen, die noch standorttreu erscheinen (vom tagtäglichen Pendeln bis hin zur Urlaubsreise), und endend bei Mobilitätsformen, bei denen man kaum noch einen festen Standort kennt (von Wanderarbeit bis zur zirkulären Migration).
Die Folgen dieser Entwicklung liegen auf der Hand: Der Alltag wird nicht nur deutlich vielfältiger, sondern "superkontingent"6, wenn an die Stelle traditionsgeleiteter Arrangements global orientierte und mithin offene Arrangements treten. Die Menschen sind aber nicht nur verschiedener denn je, sie sind auch stärker informationsorientiert und sind deshalb viel weniger geduldig, wenn sie Unrecht erfahren. Und das bedeutet, dass die "Akkommodation" wichtiger gesellschaftlicher Systeme komplizierter und auch noch einmal dringlicher wird.
Auf der anderen Seite vereinfachen sich die Arrangements auch wieder - weil damit auch die sozialen Milieus global werden. Der Alltag wird einerseits undurchsichtiger, aber zugleich auch wieder berechenbarer. Zudem ermöglichen die neuen Medien und die neuen Mobilitätsmittel den Anschluss an soziale Netzwerke, globale Bezugsgruppen und aktuelle Lebensstile, die wiederum eine neue Berechenbarkeit ermöglichen.
Eine neuere Sinus-Studie belegt, dass und wie sich die gewohnten Milieus weltweit durchsetzen und dass die Bedeutung von spezifischen lebensgeschichtlichen Hintergründen ("Migrationsgeschichte") zunehmend unwichtig wird. Somit wird ausgerechnet die propagierte "interkulturelle" Öffnung von Institutionen belanglos. Die Menschen sind nicht nur unterschiedlicher denn je. Sie sind auch wieder gerade darin berechenbarer. Und sie sind mehr denn je beteiligt und damit auch gezielter ansprechbar. Man muss es nur wollen.
Auf dem Weg zu einer Neueinstellung auf Vielfalt
An dieser Stelle wäre es angebracht, sich noch genauer mit den "vielen als viele"7, also über die aktuellen Erscheinungsweisen sozialer, religiöser, kultureller, sexueller, körperlicher und anderer Aspekte von Vielfalt zu verständigen. Dabei ist auch zu prüfen, welche Formen zukunftsorientiert sind. Nicht jeder Lebensstil und nicht jede Erscheinung von Vielfalt ist unproblematisch. So ist es beispielsweise wichtig, sich mit sozialer Vielfalt, nämlich mit sozialen Unterschieden und dem zunehmenden Auseinanderdriften von Arm und Reich zu befassen. Vielfalt kann problematisch werden, wenn sich inhumane Trends entwickeln oder wenn sie die beteiligten Menschen überfordert. Sich auf Vielfalt einzustellen bedeutet also noch nicht zwangsläufig, jede neue Variante grundsätzlich positiv einzuschätzen.
Auch wenn Vielfalt im Einzelfall nicht naiv akzeptiert werden muss,8 darf nicht ignoriert werden, dass sich Mobilität und Vielfalt immer wieder als die alles entscheidenden basalen "Produktivkräfte" für die soziokulturelle, wissenschaftliche, ökonomische, rechtliche und religiöse Entwicklung erwiesen haben. Nicht zuletzt deshalb wirken Migrantinnen und Migranten oft als Modernisierungspioniere.9 Auch die Zivilgesellschaft lebt mehr denn je von den "vielen als viele", wie durch die sozialen Bewegungen im gesamten Mittelmeerraum belegt wurde. Insofern hat auch die "Akkommodation" auf Vielfalt grundsätzliche Bedeutung.
Konzentriert man sich auf Dienstleistungseinrichtungen, auf soziale Institutionen beziehungsweise Systeme, so impliziert "Akkommodation" auf Vielfalt neoinstitutionalistische beziehungsweise systemtheoretische Überlegungen in dreierlei Hinsicht, nämlich im Blick auf die interne Einstellung, das System-Umwelt-Verhältnis und die Aufgabenorientierung.
Was die interne Einstellung betrifft, so kommt es darauf an, dass die Institution noch entschiedener als bisher formal-rational orientiert arbeitet, also professionell und kompetenzorientiert. Sie muss berücksichtigen, dass sich die Kontextbedingungen immer schneller verändern. Schon lange reicht es nicht mehr aus, Lebensstile mit Hilfe des "gesunden Menschenverstandes" einzuschätzen und mit ihnen umzugehen. Es bedarf eines ausgeprägten Milieuwissens. Es geht nicht mehr, sich von unreflektierten Mittelschichtstandards leiten zu lassen. Detailliertes Alltagswissen der verschiedensten Milieus ist erforderlich, was durch nichts besser gefördert wird als durch das Zusammenspiel von Menschen unterschiedlichster sozialer, sexueller, religiöser, kultureller, politischer und altersspezifischer Orientierung.
Was die System-Umwelt-Orientierung betrifft, so geht es hier nicht nur um die Selbstdarstellung der Institution gegenüber der Bevölkerung, sondern auch um die kommunikative Einstellung. Beides hat damit zu tun, dass man die sprachliche Vielfalt des Quartiers, in dem man agiert, beherrscht und wertschätzt.
Bei der Aufgabenorientierung kommt es einerseits darauf an, die Erwartungen ernst zu nehmen, aber auch der betroffenen Bevölkerung auf Augenhöhe zu begegnen, sie nicht nur zu akzeptieren, sondern auch angemessen zu beteiligen, ohne sie beispielsweise erst einmal zur Anpassung aufzufordern.
Letztlich geht es einfach darum, sich im Quartier auf das Quartier so einzustellen, dass man in der Institution das Quartier gewissermaßen spiegelt. Und da moderne Quartiere längst zugleich zu einem Spiegel der Globalgesellschaft geworden sind, öffnet sich die Institution damit tatsächlich automatisch der Globalgesellschaft. Was die Institution dann nicht nur zusammenhält, sondern auch ihre Arbeit neu motiviert, ist die Herausforderung, diese auch interne Vielfalt professionell und formal-rational einzusetzen.
Anmerkungen
1. Penninx, Linus: Vergleichende Studien zu Integrationspolitiken europäischer Städte. In: Gesemann, Frank (Hrsg.): Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft. Migration und Integration als Herausforderung von Kommunen. 1. Aufl. Wiesbaden : VS Verlag, 2009, S. 611-633.
2. Bukow, Wolf-Dietrich: Vielfalt in der postmodernen Stadtgesellschaft. In: Bukow, Wolf-Dietrich (Hrsg.): Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft. 1. Aufl. Wiesbaden : VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011, S. 207-232. Bukow, Wolf-Dietrich: Zur alltäglichen Vielfalt von Vielfalt. In: Allemann-Ghionda, Cristina (Hrsg.): Orte der Diversität. Formate, Arrangements und Inszenierungen. 1. Aufl. Wiesbaden : VS Verlag, 2011, S. 35-54.
3. Selbst Städte wie Berlin oder Frankfurt, die durch und durch von Fluktuation geprägt sind, sprechen bislang nur von Migration. So formuliert der Berliner Senat 2011: "Stadt ist Migration."
4. Bukow, Wolf-Dietrich: Urbanes Zusammenleben. Zum Umgang mit Migration und Mobilität in europäischen Stadtgesellschaften. 1. Aufl. Wiesbaden : VS, Verlag für Sozialwissenschaften, 2010.
5. Vertovec, Steven: Migration and new diversities in global cities. Comparatively conceiving, observing and visualizing diversification in urban public spaces. Göttingen : Max Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity (MMG Working Paper, 11 08), 2011.
6. Bukow, Wolf-Dietrich: Zur alltäglichen Vielfalt von Vielfalt. In: Allemann-Ghionda, Cristina (Hrsg.): Orte der Diversität. Formate, Arrangements und Inszenierungen. 1. Aufl. Wiesbaden : VS Verlag, 2011, S. 35-54.
7. Virno, Paolo: Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen. 1. Aufl. Berlin : ID Verlag, 2005.
8. Bukow, Wolf-Dietrich, a.a.O.
9. Bergmann, Sven; Römhild, Regina: Global Heimat. Ethnographische Recherchen im transnationalen Frankfurt. Frankfurt am Main : Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, 2003.