"Können Sie auch Zweijährige aufnehmen?"
In der Haut so manches engagierten Kollegen des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) im Jugendamt möchte ich nicht stecken. Denn was tun, wenn eine akute Gefährdung die Inobhutnahme sehr kleiner Kinder erforderlich macht, aber keine geeignete Bereitschaftspflegefamilie oder Familienwohngruppe zur Verfügung steht? Letztlich bleibt kein anderer Ausweg, als sich an die vertrauten Träger größerer Jugendhilfeeinrichtungen zu wenden - in der Hoffnung, dass sie ein für diese kleinen Kinder in einer besonders bindungssensiblen Phase geeignetes Betreuungssetting schaffen.
Doch erst einmal zu den Fakten: Die Zahl begonnener Hilfen zur Erziehung von Kindern unter sechs Jahren, aber auch die Zahl der Inobhutnahmen hat sich in den letzten fünf Jahren nahezu verdoppelt. Bei den Inobhutnahmen gemäß § 42 SGB VIII ist der Anstieg bei den Kindern unter drei Jahren sogar höher als bei den Kindern von drei bis sechs Jahren. Bei der Altersgruppe der unter Dreijährigen ist die Zahl der Inobhutnahmen zwischen 2005 und 2008 um 79 Prozent auf 3233 angestiegen. Im gleichen Zeitraum ist für die Altersgruppe der Drei- bis Sechsjährigen ein Anstieg um 72 Prozent auf 2310 Inobhutnahmen ausgewiesen.1
Auch wenn kleine Kinder prozentual immer noch nur einen geringen Anteil in der stationären Betreuung ausmachen, so ist eine Steigerung deutlich erkennbar. Die Fallzahl für Heimerziehungen bei den unter Sechsjährigen ist zwischen 2005 und 2009 von 3130 auf 4811 um 54 Prozent angestiegen. Im Jahr 2010 lag diese Zahl bei 4876.2
Was sind die Ursachen dieses plötzlichen Anstiegs, und welche Herausforderungen ergeben sich dadurch für die stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe? Mit dieser Thematik hat sich gerade in jüngster Zeit der Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) als auch die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) intensiv beschäftigt. Die Gründe für die steigenden Fallzahlen liegen zum einen in den sich verschlechternden sozioökonomischen Lebenslagen von Familien, den brüchiger werdenden Familienkonstellationen, aber auch einer immer häufiger eingeschränkten Erzie-hungskompetenz der Eltern. So belegen empirische Untersuchungen regelmäßig den Zusammenhang zwischen Armuts- und Belastungsquoten in Kommunen sowie der Höhe der Inanspruchnahmezahlen für die Hilfen zur Erziehung.3 Zum anderen liegen die Gründe in einer neuen Wachsamkeit, der Zunahme eines kinderschutzorientierten Denkens, auch vor dem Hintergrund neuer gesetzlicher Vorgaben wie unter anderem des § 8a SGB VIII.
Neue Aufgaben erfordern Veränderung
Viele Einrichtungsleiter(innen) sehen sich mit einer Zunahme von Anfragen für kleine Kinder im Alter von einem bis fünf Jahren konfrontiert. Sie sind bemüht, sich dieser (wieder) neuen Herausforderung zu stellen. Ich selbst habe noch das große Glück, eine Einrichtung zu leiten, die durch viele Kinderdorf- beziehungsweise Betreuungsfamilien auch sehr jungen Kindern rund um die Uhr einen vorläufigen oder langfristigen Lebensort mit konstanten Bezugs- und Betreuungspersonen anbieten. Aber was machen stationäre Einrichtungen, die kleinere Kinder betreuen sollen, dies auch sachgerecht tun möchten, aber ausschließlich auf Mitarbeiter(innen) im Schichtdienst zurückgreifen können?
Ein wesentliches Merkmal gelingender Jugendhilfe ist die Bereitschaft und Kompetenz, sich auf sich verändernde Rahmenbedingungen einzustellen. Es geht deshalb nicht darum, die steigende Zahl von kleinen Kindern in stationären Einrichtungen zu begrüßen oder zu bedauern, sondern sich auf dieses neue Faktum einzustellen und die entsprechenden sachlichen, personellen und konzeptionellen Voraussetzungen zu schaffen. In aktuellen Positions- und Diskussionspapieren des BVkE4 wurden Aussagen getroffen und Standards formuliert, die für alle Einrichtungen Geltung haben, die sich dieser neuen Herausforderung stellen wollen.
Die Ergebnisse der Bindungsforschung zeigen, dass eine feste Bezugsperson gerade für kleinere Kinder von wesentlicher Bedeutung ist. Daher sollten kleine Kinder, wenn kein haltgebendes familiäres Netzwerk mehr vorhanden ist, vorrangig in Einrichtungen Aufnahme finden, deren konzeptionelle und personelle Ausrichtung den besonderen Bedürfnissen von kleinen Kindern Rechnung tragen kann (zum Beispiel Kinderdorffamilie, Familienwohngruppe oder Kleinstheim). Diese familienanalogen Jugendhilfeangebote können den zurzeit steigenden Bedarf jedoch bei weitem nicht decken. Es müssen deshalb neue Anreize geschaffen werden, die die Bereitschaft bei Fachkräften wecken, sich auf eine solche familienanaloge Erziehung einzulassen. Wichtige Impulse könnten sein: eine Überschaubarkeit des Engagements durch weniger Jahre statt lebenslanger Bindung (Generationenelternschaft) oder geringere Belastung durch kleinere Gruppen mit geringerer Betreuungsdichte, zum Beispiel "familiäre Lebensgemeinschaften".
Trotz Schichtdienst: Kleine Kinder brauchen Kontinuität
Ebenso müssen neue Anreize geschaffen werden, damit die bestehenden Mitarbeiter(innen) zumindest zeitweise auch zu ungewöhnlichen Dienstzeitmodellen bereit sind und dies auch arbeitsrechtlich mitgetragen wird. Das Schichtdienstmodell mit gleitenden Übergangszeiten abzufedern, wäre eine Möglichkeit. Es geht darum, dass auch bei Personalwechsel im Schichtdienst eine gewisse Stabilität und Kontinuität für die Betreuung der kleinen Kinder ermöglicht wird. Dafür müssen jedoch Ausnahmen im Arbeitszeitrecht möglich sein, die zusätzliche Spielräume schaffen zwischen den bestehenden Ausnahmen für Lebensgemeinschaften (§ 18 ArbZG) auf der einen Seite und dem "normalen Schichtdienst" auf der anderen Seite. Förderlich in diesem Sinne wären sicher auch Arbeitszeitansparmodelle bis hin zur Ermöglichung eines Sabbatjahres.
Eine weitere Herausforderung, auf die die stationäre Jugendhilfe reagieren muss, ist der Zeitfaktor. Die Betreuung und Pflege von Kleinstkindern ist sehr zeitintensiv. In allen alltäglichen Bereichen brauchen Kleinkinder viel Unterstützung, Beobachtung und Betreuung. Es gilt, ihre motorische Entwicklung durch Spiel und Bewegung sowie die Sprachentwicklung zu fördern. Kleinkinder brauchen gesunde, abwechslungsreiche und altersgerechte Ernährung. Auch die Körperpflege und -hygiene ist besonders intensiv. Kleinkinder benötigen in Alltags-, erst recht in belasteten Situationen, eine vorhersehbare rhythmisierte Tagesstruktur. Zugleich muss in einer Gruppe mit mehreren, zum Teil auch älteren Kindern ermöglicht werden, dass die zum Einschlafen nötige Ruhe herrscht und das Kleinkind weder beim Mittagsschlaf noch am frühen Abend durch die anderen Kinder gestört wird.
Vor diesem Hintergrund sind für die Betreuung von kleinen Kindern in einem stationären Setting besondere personelle und sachliche Rahmenbedingungen notwendig: Der Personalschlüssel muss sich an dem erhöhten Betreuungsbedarf kleiner Kinder orientieren. Zudem müssen die Mitarbeiter(innen) entsprechend aus- und kontinuierlich fortgebildet werden.
Mehr Zeit, Zuwendung und Aufmerksamkeit brauchen kleine Kinder ebenfalls, um ihre negativen Bindungserfahrungen zu korrigieren und um exklusive Beziehungen aufzubauen. Sinnvollerweise sollte daher die Gruppengröße für Kinder dieser Altersstufe fünf bis sechs Kinder nicht überschreiten.
Die Betreuung kleiner Kinder im stationären Setting erfordert darüber hinaus besondere Konzepte der Hilfebeendigung. Wenn kleine Kinder wieder in die Herkunftsfamilien zurückgeführt werden sollen, sind gute Kooperationen notwendig, die einen fließenden Übergang zulassen. So sollten Vereinbarungen mit den Kostenträgern möglich sein, die den Eltern mehr Spielraum lassen, beispielsweise dass das Kind zunächst nur tageweise oder auf Probe in die Herkunftsfamilie entlassen oder eine Option zur Rückkehr in die stationäre Einrichtung offengehalten wird. So kann die gute partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen der stationären Einrichtung und den Eltern auch nach der Entlassung fortgesetzt werden.
Das alles klingt nicht einfach, und ich habe immer wieder großen Respekt vor Einrichtungsleiter(inne)n, die mit engagierten Mitarbeiter(inne)n ungewöhnliche Wege gehen, um dem Bedarf der ganz Kleinen möglichst gerecht zu werden. Die Liste der quantitativen und qualitativen Anforderungen bei der Adaption der klassischen Heimerziehung an die emotionalen und sozialen Bedürfnisse kleiner Kinder ist hoch und daher auch nicht zum Nulltarif zu haben. Aber gerade gegenüber den sehr jungen und kleinen Kindern, die vor dem Hintergrund familiärer Überforderung und Zusammenbrüche dann bei uns in den stationären Einrichtungen frühe und prägende Erfahrungen mit dem Leben machen, haben wir eine besonders große Verantwortung.
Eine Betreuung wie in der Familie ist vorzuziehen
In vielen Gesprächen mit Leiter(inne)n und Mitarbeiter(inne)n habe ich den Eindruck gewonnen, dass die stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen sich dieser besonderen Verantwortung bewusst sind. Natürlich gibt es Situationen, in denen eine professionell aufgestellte Heimerziehung auch für sehr junge Kinder fachlich angezeigt ist. Solche Gründe bestehen zum Beispiel, wenn die bereits bestehenden Verhaltensauffälligkeiten eines hohen fachlichen und therapeutischen Aufwandes bedürfen oder wenn mehrere Geschwister Aufnahme finden sollen. Auch wenn eine intensive Familienarbeit notwendig ist, die eine Pflegefamilie überfordern würde, oder wenn aus anderen Gründen nicht unmittelbar wieder eine Familie als Betreuungsrahmen sinnvoll erscheint, springt die stationäre Jugendhilfe ein.
Dennoch sollte die stationäre Aufnahme eines Kindes in einer Wechseldienstgruppe dort, wo kein adäquates familienanaloges Jugendhilfeangebot geschaffen werden konnte, stets als therapeutische Übergangshilfe betrachtet werden, bis eine den Bindungsbedürfnissen des Kindes angemessene Lebens- und Betreuungsform gefunden ist. Es ist beruhigend zu wissen, dass von Jugendhilfekolleg(inn)en zeitgleich an ganz anderer Stelle mit Hochdruck und Energie unter der Überschrift "Frühe Hilfen" neue Konzepte der Stadtteilarbeit, der Prävention und Frühförderung erdacht, erprobt und umgesetzt werden. Wir brauchen uns gegenseitig.
Anmerkungen
1. Pothmann, Jens: Fallzahlenzunahme für die Inobhutnahmen im Kontext einer Kinderschutzdebatte und sich verändernder rechtlicher Rahmenbedingungen. In: Forum Jugendhilfe Heft 3/2009, S. 43 ff. Siehe dazu auch Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - nach Komdat 3/2011. Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat), Universität Dortmund; www.akjstat.uni-dortmund.de, "Komdat", "Archiv".
2. Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - nach Komdat 1&2/2011. Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat), der Universität Dortmund sowie des Statistischen Bundesamtes: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Menschen, Hilfe für junge Volljährige, 2010.
3. Tabel, Agathe; Fendrich, Sandra; Pothmann, Jens: Warum steigen die Hilfen zur Erziehung? In: Komdat 3/2011. S. 4 ff.
4. Diskussionspapier des BVkE: Kleine Kinder in der Erziehungshilfe. Freiburg, 2011 (www.bvke.de/67977.html).