Loslassen lernen
Der demografische Wandel mit seinen bekannten Auswirkungen zwingt sozial tätige Organisationen zur Konzipierung neuer Hilfeformen. Persönliche Hilfenetzwerke können im Verbund mit professionellen Dienstleistern der Vereinzelung von Menschen mit ihren negativen gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen entgegenwirken.
Auf Basis des vom Deutschen Caritasverband vorangetriebenen Meta-Konzeptes der „Sozialraumorientierung“1 konzipierte der Caritasverband im Landkreis Nürnberger Land in den Jahren 2006 bis 2009 das Sebastian-Fackelmann-Haus als sozialraumbezogenes Modellprojekt2. Es versteht sich insbesondere als Plattform für die Bevölkerung des Sozialraums Hersbruck: Treffpunkt, Beratungsstelle, Platz für Engagement, Treffpunkt für Bedürftige und ihre Vernetzung.
Als Wohnform integriert das Projekt Menschen mit psychischen Erkrankungen und anderen Einschränkungen sowie altersbedingt einsetzender Pflegebedürftigkeit oder Versorgungsbedürftigkeit in ihrem bisherigen heimatnahen Wohnumfeld.
Zusätzlich strahlt das Sebastian-Fackelmann-Haus als „sozialpolitisches Ausrufezeichen“ in die Region aus und verkörpert die Möglichkeit alternativer Versorgungsformen im Sozialraum.
Erfolgs- und Misserfolgskriterien für die funktionierende Versorgungsstruktur dieses sozialräumlichen Projektes wurden vom Lehrstuhl für Psychogerontologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Zeitraum 1. April 2009 bis 31. März 2011 evaluiert: Es lässt sich jeweils eine Verbesserung der psychischen und der körperlichen Gesundheit sowie der Selbst- und der Fremdeinschätzung zur psychosozialen und gesundheitlichen Gesamtsituation der Bewohner(innen) im Wohnquartier durch Angehörige/Bezugspersonen feststellen.3
Interessen der Menschen als Ausgangspunkt annehmen
Zur Sozialraumorientierung gehört die selbstbestimmte Teilhabe der in der Einrichtung betreuten Menschen. Ihre selbstbestimmte Teilhabe kann nur da funktionieren, wo auch das Betreuungspersonal so selbstbestimmt wie möglich mitarbeiten kann. Ohne Selbstbestimmung kein ausreichendes Mitdenken! Motivation wächst mit der Umsetzung und Umsetzbarkeit der eingebrachten Ideen. Dies ist zunächst eine Frage des richtigen Stils der Mitarbeiterführung. Das komplette Personal auf den Weg der selbstbestimmten Teilhabe mitzunehmen, ist ein langer Weg, der nur durch in sich konsistentes Führungsverhalten erreicht werden kann.
Dem entgegen stehen Ängste vor der Abkoppelung bestimmter Tätigkeitsbereiche, aber auch davor, dass die Selbstbestimmung in eine unbequeme Richtung gehen kann: Insbesondere die Versorgung „schwieriger“ Fälle erfordert ein Mit- und Umdenken der Beteiligten. Kann und soll man künftig beispielsweise einen fettleibigen Mann mit fast 200 kg Körpergewicht versorgen – eine Aufgabe, die in der Vergangenheit mit dem vorhandenen Personal nicht möglich schien, im Rahmen eines ganzheitlichen Ansatzes und unter Rückgriff auf andere Kostenträger aber realisierbar sein könnte? Kann und soll man eine Frau in ihrem Haushalt versorgen, die zwar vermögend ist und ihr Haus behalten will, deren Wohnung aber durch über 30 Katzen komplett verdreckt und raumhoch vermüllt ist? Die um Unterstützung zum Wiedererwerb ihrer Katzen bittet, sich aber nur schwer auf hygienische Standards einzulassen bereit ist?
Eigeninitiative und Selbsthilfe als starke Motoren
Sozialräumliche Projekte können nur bei freiwilliger Beteiligung – wenn Motivation und Interesse der Beteiligten initiiert und aufrechterhalten werden und wenn sich jede(r) Einzelne ernst genommen fühlt – gelingen. Notwendige Voraussetzungen bei den beruflich Mitarbeitenden sind ein ausreichendes Wissen um Bedarfsfeststellungen, ein Grund-Sicherheitsgefühl bei allen Beteiligten und ein ausreichendes Selbstbewusstsein, in eher weichen Strukturen dennoch Professionalität verkörpern zu können. Vertraute „stationäre“, gesellschaftlich hochdekorierte Versorgungsstrukturen stehen diesem Bewusstsein oft entgegen.
Das kann bedeuten, schon bei kleinen Bedarfen wie beispielsweise „Glühbirne wechseln“ nicht selbst Hand anzulegen, sondern vielmehr Menschen im Umfeld zu bitten, dies zu übernehmen. Im besten Fall folgen durch einen solchen Kontakt noch weitere Unterstützungen.
Das Anstoßen von Selbsthilfe- und Eigeninitiativprozessen (zum Beispiel Terminfindung, Koordination, Motivation zur Übernahme von Aufgaben) mit dem Ziel von (noch) mehr Selbstständigkeit der Betreuten sind seitens professionell Tätiger nur vor dem Hintergrund des Paradoxons der sich selbst auflösenden Hilfe und der Reflexion dieses Paradoxons möglich. Eigeninitiative und Selbsthilfe bei den betreuten Menschen können nur da wirkungsvoll erkannt, unterstützt und ins Hilfenetz integriert werden, wo beruflich Mitarbeitende sich zwar zurücknehmen, aber ihrer Rolle sicher sein und sich auf die Motivation von Selbststeuerung der bisher sogenannten Betreuten konzentrieren können.
Latente Ängste der Führungsebene vor Machtverlust und wirtschaftlichem Misserfolg stehen dem entgegen.
Ressourcenorientierung als Lösungsansatz wahrnehmen
Durch ernsthafte Nutzung bürgerschaftlicher und nachbarschaftlicher Ressourcen können volkswirtschaftlich Kosten gespart werden. Personen, die ihre eigenen Ressourcen nutzen, brauchen weniger professionelle Hilfen, sind eigenständiger und gesünder.
Bei einem selbstständigen Einkauf eines älteren Menschen beispielsweise, der von einer ehrenamtlichen Kraft begleitet wird, werden nicht nur Lebensmittel beschafft. Vielmehr finden in dieser Zeit Gedächtnisleistungen statt (wo im Supermarkt finde ich welches Produkt?), wird die eigene Beweglichkeit aufrechterhalten, besteht die Möglichkeit zu Gesprächen und passiert eine Einbindung in die Alltagswelt unserer Gesellschaft. Die Gelder, um all dies anderenfalls professionell zu fördern, können sinnvoll dafür eingesetzt werden, einige Ehrenamtliche zu gewinnen und begleiten.
Politische Lippenbekenntnisse, den ambulanten Bereich vor dem stationären stärken zu wollen, so sie denn nicht einer mindestens auf die jeweilige Bezugseinheit bezogenen Besserstellung des ambulanten Bereiches dienen, sind überflüssig und sogar destruktiv, wenn sie die den Beteiligten vertraute strukturelle/finanzielle Schlechterstellung des ambulanten Bereiches bemänteln.
Eine fachgerechte ambulante Versorgung im Sozialraum kann zudem nur gelingen, wenn auch der hohe zeitliche und finanzielle Aufwand zur Organisation des bürgerschaftlichen Netzes bekannt, gewürdigt und verpreislicht wird. Die in der Bevölkerung und somit auch politisch vorhandene Mentalität, gesellschaftliche Randgruppen in die Hände der helfenden Organisation abzugeben, um mit ihnen danach nichts mehr zu tun haben zu müssen, gehört ein Stück weit aufgedeckt und beendet.
Zusammenwirken aller im Sozialraum als Potenzial
Idealerweise sollen durch ein Sozialraum-Projekt alle Menschen im gesamten Quartier angesprochen und einbezogen werden. Erfolgreiche Arbeit im Sozialraum lebt vom Miteinander verschiedener Zielgruppen, der „ganz normalen Menschen“.
Deutlich wird dies beispielsweise bei der Anwesenheit eines Kindes in einer Gruppe von Erwachsenen und älteren Menschen, wie bei einem Café-Treff, wodurch die gesamte Dynamik zwischen den Mitgliedern im positiven Sinne verändert wird.
Dies gelingt teilweise durch eine Komm-Struktur, muss aber durch aufsuchende Arbeit ergänzt werden, damit speziell die Bedürftigen nicht außen vor bleiben. Es muss angestrebt werden, dass die Beteiligten sich in ihren Stärken und Schwächen ergänzen. Koordinationszeiten müssen mitfinanziert werden (es werden im Gegenzug Kosten für die Gesellschaft gespart4); intelligente Finanzierungsansätze sind hierbei gefragt.
Aus professioneller/betriebswirtschaftlicher Sicht ist eine Versorgung von Menschen im Sozialraum nur unter Rückgriff auf eine Fülle von Leistungsvereinbarungen möglich, um die unterschiedlichen Bedarfe bedienen zu können.
Eine intelligente Koordination des eingesetzten Personals der Grund- und Behandlungspflege, der Hauswirtschaft, ehrenamtlich erbrachter „Alltags-“ und „Demenzbegleitungen“, der Eingliederungshilfe, insbesondere des ambulant betreuten Wohnens für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungsarten, mobiler Beratungsangebote, unterschiedlicher ehrenamtlicher Dienste, eventuell von Maßnahmen der Jugendhilfe, stellt ein breites Hilfespektrum zur Verfügung, das personenzentriert, bedarfsabhängig und individuell zu realisieren ist.
Der Aufbau einer entsprechenden Professionalität in den relevanten Hilfefeldern ist vermutlich unabdingbar, um glaubhaft Gemeinwesenarbeit betreiben zu können. Es besteht aber stets die Gefahr der Verzettelung – die Organisation der genannten Hilfeleistungen und die Koordination der Hilfe-Potenziale der im Sozialraum angesiedelten Akteure sind außerordentlich zeitintensiv. Offen ist jeweils auch die Frage, ob in den einzelnen Leistungsbereichen ausreichende Volumina zustande kommen, um den jeweiligen Führungsaufwand (Verwaltung, Abrechnung, Steuerung, Vernetzung und Koordination) zu tragen. Die fachliche Steuerung erfolgt offenbar am besten sozialraum-übergreifend.
Bereichsübergreifende Kooperation und Vernetzung
Oberstes Ziel sollte die höchstmögliche Lebensqualität bei angemessener professioneller Versorgung der Klienten sein. Dies kann nur bei adäquater Schulung und Stärkung der beteiligten hauptberuflichen Mitarbeiter(innen) geschehen. Ein entsprechendes Selbstverständnis nicht nur der beteiligten Mitarbeiter, sondern auch der Führungsverantwortlichen der beteiligten Organisationen ist notwendige Voraussetzung. Das Subsidiaritätsprinzip muss auf allen organisatorischen Ebenen sowie in der Begleitung der Menschen im Sozialraum verbindlich angewendet werden.
Ein Denken in reiner Konkurrenz zwischen den am Markt tätigen Trägern sowie die vielfach verbreitete Bunker-Mentalität („wir sprechen von Kooperation und sichern uns hinter den Linien unsere Claims“) wird sich in Zukunft niemand mehr leisten können, der transparent und glaubwürdig von einer Vernetzung der Akteure sprechen möchte. Bisheriges Denken in Claims zwischen den Wohlfahrtsverbänden und anderen großen Sozial-Organisationen muss aufgelöst werden. Dies ist ein langfristig zu sehender Prozess der Vertrauensbildung, welcher auch umkehrbar ist.
Eine Aufteilung – zumindest nach Aufgabenfeldern – der Tätigkeiten im Sozialraum ist erforderlich. Hierzu gehört auch ein Zuspiel von Aufträgen. Der einzelne im Sozialraum tätige Akteur wird Glaubwürdigkeit vermutlich nur aufbauen können, wenn ihm Geben wichtiger ist als Nehmen.
Eine hohe fachbereichsbezogene und gut vernetzte sozialrechtliche Kompetenz innerhalb der am Markt im Sozialraum tätigen Organisation bildet den Dreh- und Angelpunkt der organisatorischen Aktivitäten. Der Gefahr eines Wissensmonopols mit uneingeschränkter Macht kann nur mit einer im Denken und Fühlen der Mitarbeiter(innen) sowie im Leitbild verankerten ethischen Grundausrichtung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips entgegengewirkt werden. Diese zu fördern trifft die Mitte der Caritas-Arbeit.
Aktuelle sozialraumorientierte Projekte wie das Sebastian-Fackelmann-Haus scheinen auf einem guten Weg zu sein. Auf dem Weg werden wir immer sein, und hoffentlich führt er uns zu guten Zielen. Der Caritasverband im Landkreis Nürnberger Land wird diesen Weg in den Sozialraum immer wieder suchen und gehen.
Anmerkungen
1. Netze im Sozialraum beziehungsweise Gemeinwesen können unterschiedliche Hilfesysteme und Ressourcen zusammenführen und die Menschen im Quartier zum Mitmachen und Mitreden befähigen. Mit dem Knüpfen solcher Netze entstehen Teilhabemöglichkeiten, die die Folgen von Armut und Ausgrenzung mildern. Potenziale für selbstverantwortliches Handeln und Selbsthilfe werden aktiviert (vgl. neue caritas Heft 8/2011, S. 36 und das Konzept Sozialraumorientierung des DiCV Bamberg „Caritas als Kirche im Lebensraum der Menschen“, 2012).
2. Vgl. Konzept Sebastian-Fackelmann-Haus, Konzept Ambulant betreutes Wohnen für Menschen mit seelischer Behinderung, Konzept In der Heimat wohnen, Downloads: www.in-der-heimat.de
3. ipg research notes 5/2011, S. 59 ff., zu beziehen über: www.geronto.uni-erlangen.de
4. Vgl. Wasel, Wolfgang: Rentabilität und Sozialraumorientierung – Überlegungen anhand einer Untersuchung zum Social Return on Investment. NDV Januar 2010, S. 25–32.