"Keiner schafft das allein"
Frühe Hilfen sind Ausdruck einer gewachsenen gesellschaftlichen Verantwortung für das gesunde und gewaltfreie Aufwachsen von Kindern. Sie sollen Familien im Übergang zur Elternschaft und in den ersten Lebensjahren des Kindes informieren, unterstützen und Zugang zu weiterführenden Hilfen geben. Doch was genau brauchen Familien in dieser Phase? Zur Veranschaulichung ist das ökologisch-systemische Modell menschlicher Entwicklung nach Bronfenbrenner1 hilfreich. Man kann es sich wie eine Blumenzwiebel vorstellen: In der Mitte liegt der empfindliche Keim - das Kind, das wachsen und gedeihen soll. Drumherum liegen schützende und nährende Schichten - Mutter, Vater, Großeltern, Verwandte, Freunde, Nachbarn. Dann braucht es noch gute Erde und Dünger - also eine förderliche soziale Infrastruktur, eine Gesellschaft, die Familien und Kinder wertschätzt und materielle und immaterielle Ressourcen zur Verfügung stellt. Nur wenn dies gegeben ist, gelingt es einer Mutter, einem Vater, sich auf die Beziehung mit dem Kind einzulassen, es gut zu versorgen und zu fördern. Keiner schafft das allein, alle brauchen Unterstützung. Die einen haben davon von vornherein mehr, die anderen weniger. Genau da setzen die Frühen Hilfen an.
Die unterschiedlichen Bedürfnisse im Familiensystem
Die fünf Grundbedürfnisse von kleinen Kindern2 - Geborgenheit, Unversehrtheit, individuell zugeschnittene und entwicklungsgerechte Erfahrungen sowie Grenzen und Strukturen - müssen gewährleistet sein, damit Entwicklung gelingen kann. Kleine Kinder haben Aufgaben zu lösen im Hinblick auf die physiologische und emotionale Regulation, die Entwicklung einer sicheren Bindung als Basis für Selbstständigkeit und Autonomie, die Entwicklung von Problemlösekompetenz. Diese Aufgaben zu bewältigen ist eine wichtige Voraussetzung, damit Kinder später die Welt erobern können. Je kleiner sie sind, desto unmittelbarer sind sie dabei auf Unterstützung ihrer Bezugspersonen angewiesen. Diese können viel zu einer positiven Entwicklung beitragen. Sie sollten Aufmerksamkeit und genügend Zeit für das Kind mitbringen. Die Beziehung sollte von einer positiven, akzeptierenden Haltung getragen sein. Körperkontakt und Wärme sind wichtig, um Zuneigung auszudrücken, genauso wie Responsivität und Feinfühligkeit. Bei einem Säugling müssen die Bezugspersonen die Signale des Kindes richtig "lesen" können und prompt und angemessen darauf reagieren. Im Idealfall stellt sich eine wechselseitige, aufeinander abgestimmte Interaktion ein. So lernen Kinder, dass sie auf ihre soziale und physikalische Umwelt Einfluss nehmen können und entwickeln ein stabiles Selbstwertgefühl. Eltern sollten auch ein anregendes, altersgemäßes Lernumfeld schaffen, oft mit ihren Kindern sprechen und achtsam Hilfestellung leisten, damit Kinder Schritt für Schritt ihren Radius erweitern können.
Auch für Mütter und Väter stellt der Übergang zur Elternschaft eine große Herausforderung dar: Sie müssen sich an den neuen Lebensrhythmus mit dem Kind anpassen, den Haushalt und die Alltagsroutinen umorganisieren, um Raum und Zeit für das neue Familienmitglied zu schaffen. Dies tangiert insbesondere die Paarbeziehung, die gerade in der ersten Zeit leicht in den Hintergrund tritt. Das kann zu Unzufriedenheit und Konflikten führen.
Mütter und Väter von kleinen Kindern brauchen in dieser Zeit einen geschützten Rückzugsort, um in Ruhe in die neue Rolle hineinwachsen zu können. Sie benötigen vorübergehende Entlastung von externen Anforderungen und alle nur verfügbare Unterstützung vom Partner/von der Partnerin, von den Familien, von Freunden sowie aus dem sozialen Umfeld. Elternbefragungen3 haben ergeben, dass vier weitere Dimensionen eine Rolle spielen: 1. gesichertes Wissen über Schwangerschaft, Geburt, kindliche Entwicklung; 2. Orte zum Lernen, zur Erweiterung des eigenen Handlungsrepertoires; 3. Orte zum Austausch mit anderen Müttern/Vätern, zum Aufbau eines sozialen Netzwerkes; 4. Orte zur Reflexion über die neue Rolle als Mutter/Vater.
Alle Familien brauchen gute Startbedingungen
Damit Eltern die Herausforderungen bewältigen können, sind sie auch auf gute gesellschaftliche Rahmenbedingungen angewiesen. Dies gilt zunächst unabhängig von ihrer jeweiligen Lebenslage. Der siebte Familienbericht4 nennt dazu drei zentrale Handlungsfelder: Zeit, Geld und Infrastruktur. Familien brauchen Zeit für das Miteinander, für die wechselseitige Fürsorge zwischen den Generationen. Sie erbringen dabei für die Gesellschaft unverzichtbare Leistungen. Diese müssen zumindest teilweise honoriert werden, durch direkte Transfers wie Kindergeld oder Erziehungsgeld, aber auch indem Erziehungs- und Pflegezeiten auf die Altersvorsorge angerechnet werden. Familien benötigen zuverlässige Bildungs-, Betreuungs- und Unterstützungsangebote, damit sie Familien- und Erwerbsarbeit unter einen Hut bringen können.
Dem möchte ich noch folgende Dimensionen hinzufügen: Befähigung, soziale Integration und Teilhabe. Elternsein und Erziehen kann man lernen. Wenn dies in der Generationenfolge aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr weitergegeben werden kann, sollte auch hier gesellschaftliche Verantwortung ansetzen.
Nicht alle Familien haben gleich gute Voraussetzungen. Unterschiedliche Faktoren können zu Belastungen beitragen, die vor allem kumulativ und in Kombination mit mangelnden Ressourcen die kindliche Entwicklung potenziell gefährden können5. Auf der individuellen Ebene des Kindes können dies eine (drohende) Behinderung, eine chronische Erkrankung, ein schwieriges Temperament oder Regulationsschwierigkeiten (anhaltendes Schreien, Schlafprobleme) sein, Probleme, die auch die gutwilligsten Eltern an den Rand ihrer Fähigkeiten bringen können. Auf der individuellen Ebene der Eltern sind psychische Probleme (Sucht, Depression), Belastungserfahrungen (Vernachlässigung, Beziehungsabbrüche, negative Bindungserfahrungen, Gewalterfahrungen), fehlendes Erziehungswissen, unrealistische Erwartungen an das Kind, aber auch eine sehr frühe und/oder ungewollte Mutterschaft belastend. Auf Familienebene spielen vor allem das Alleinerziehen ohne Unterstützung und Gewalt in der Partnerschaft eine negative Rolle. Verstärkend wirken Faktoren wie Armut, Arbeitslosigkeit und niedriger Bildungsstand.
Schutzfaktoren, um Belastungen abzupuffern
Dem stehen Schutzfaktoren gegenüber, die Belastungen abpuffern können.6 Auf der Ebene des Kindes sind dies eine gute Regulationsfähigkeit, geringe Irritabilität, Anpassungsfähigkeit, Intelligenz, prosoziales Verhalten und (weibliches) Geschlecht.7 Bei den Eltern tragen ein autoritativer Erziehungsstil (Regeln, strukturierter Alltag), Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, psychische Belastbarkeit und feinfühliges Verhalten zu einer positiven Entwicklung bei. Eine stabile Familienstruktur, ein positives Familienklima und ein starker Familienzusammenhalt zählen zu den familiären Schutzfaktoren. Auf sozialer Ebene sind eine ausreichende Unterstützung durch Verwandte, Freunde oder Nachbarn, positive Rollenmodelle und ein leichter Zugang zu qualititativ guten Versorgungsangeboten für Familien im Sozialraum wichtig. Wenn eine weitere verlässliche, erwachsene Bezugsperson vorhanden ist, so ist dies laut Resilienzforschung auch ein wichtiger Schutzfaktor für Kinder.
Elterliche Erziehungskompetenz frühzeitig stärken
Frühe Hilfen wollen Risikofaktoren ab- und Schutzfaktoren aufbauen. Sie setzen darauf, die elterlichen Erziehungs- und Beziehungskompetenzen mittels niedrigschwelliger Unterstützungsangebote frühzeitig zu stärken. Diese Angebote sollten möglichst koordiniert und "aus einer Hand" zugänglich sein. Durch eine individuelle Kombination von Angeboten (Schwangerschaftsberatung, Gesundheitswesen, Kinder- und Jugendhilfe, Frühförderung, Frauenunterstützungseinrichtungen) wird versucht, passgenaue Hilfe für unterschiedliche Bedarfe zu schaffen. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch das bürgerschaftliche Engagement.
Diese Arbeit verlangt hohe Kompetenzen von den Ehrenamtlichen, vor allem im Aufbau und in der Pflege von Vertrauensbeziehungen mit den Familien. Damit sie effektive Hilfe leisten können, brauchen sie Anschluss an ein multiprofessionelles Netzwerk, gute Rahmenbedingungen, klare Aufgaben, praktikable Konzepte, Qualifizierungsangebote, Orte der Reflexion und Anerkennung. Ehrenamtliche leisten im System der Frühen Hilfen wichtige Beiträge, vor allem durch alltagspraktische Unterstützung, Erweiterung der sozialen Netzwerke, Schaffung von Zugängen zu weiteren Angeboten im Sozialraum sowie zu professionellen Hilfen. Dabei muss klar sein: Ehrenamtliche Unterstützung kann und soll professionelle Hilfe sinnvoll ergänzen, aber nicht ersetzen.
Anmerkungen
1. Bronfenbrenner, Urie: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Frankfurt : Fischer Taschenbuch-Verlag, 1993.
2. Fuhrer, Urs: Entwicklungsaufgaben, Grundbedürfnisse in der frühen Kindheit und entwicklungsförderliches Bindungsverhalten. In: Frühförderung Interdisziplinär 4/2011, 30. Jahrgang, 4. Quartal, S. 203-212.
3. Tschöpe-Scheffler, Sigrid: Konzepte der Elternbildung - eine kritische Übersicht. Opladen : Verlag Barbara Budrich, 2006.
4. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Siebter Familienbericht - Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit: Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. Berlin : BMFSFJ, 2005.
5. Meysen, Thomas; Schönecker, Lydia; Kindler, Heinz: Frühe Hilfen und Kinderschutz: Rechtliche Rahmenbedingungen und Risikodiagnostik in der Kooperation von Gesundheits- und Jugendhilfe. Weinheim : Juventa-Verlag, 2008.
6. Bengel, Jürgen; Meinders-Lücking, Frauke; Rottmann, Nina: Schutzfaktoren bei Kindern und Jugendlichen - Stand der Forschung zu psychosozialen Schutzfaktoren für Gesundheit. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Schriftenreihe "Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung", Band 35, 2009.
7. Aus unbekannten Gründen werden kleine Mädchen seltener misshandelt als Jungen; auch sind Mädchen weniger krankheitsanfällig.