Widerstandskräfte benachteiligter Kinder stärken
Der Begriff "Resilienz" ist in Zusammenhang mit der gesunden Entwicklung von Kindern inzwischen in aller Munde. Wörtlich bedeutet er Spannkraft, Widerstandsfähigkeit, Elastizität (von lateinisch "resilere" = zurückspringen, abtropfen). Im übertragenen Sinne bedeutet Resilienz die Fähigkeit, erfolgreich mit besonders ungünstigen Umweltbedingungen und hohem psychosozialen Stress umzugehen und diesen erfolgreich zu bewältigen. Im Englischen ist der Begriff schon seit Jahrzehnten eingeführt: seit den bahnbrechenden Arbeiten von Emmy Werner1, die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts auf Kauai (Hawaii) begannen. Werner untersuchte an einer Gruppe von benachteiligten Kindern die Möglichkeit, eine stressreiche und belastende Umwelt unbeschadet zu überstehen. Viele Eltern waren arm oder sozial randständig. Die entwicklungspsychologische Langzeitstudie verfolgte die Entwicklung von 698 Kindern, die im Jahr 1955 geboren wurden. Sie wurden im Alter von einem Jahr, zwei, zehn, 18, 32 und 40 Jahren untersucht. Jene Kinder, die vier oder mehr Risikofaktoren (zum Beispiel hohe elterliche Disharmonie, Alkoholismus eines Elternteils) bis zum Alter von zwei Jahren aufwiesen, galten dabei als Risikokinder. Trotz zum Teil äußerst ungünstiger Familienkonstellationen war etwa ein Drittel der Kinder langfristig psychisch und physisch weitgehend gesund.
Robustheit gegen Stressoren entwickeln
Das Konzept der Resilienz als psychische Widerstandsfähigkeit beschreibt somit die Fähigkeit einer Person, relativ unbeschadet mit den Folgen belastender Lebensumstände umgehen und Bewältigungsstrategien entwickeln zu können. Kurz gesagt kann Resilienz als die erworbene, sich stets weiterentwickelnde und verändernde psychische Robustheit gegen Stressoren verstanden werden. Diese Stressoren können biologischer, psychischer und/oder sozialer Natur sein.
Um die beschriebene Fähigkeit der Resilienz im Sinne einer hohen psychischen Stressresistenz analysieren zu können, wurden Kinder mit ähnlichen Umwelt- und Familienbedingungen verglichen, die entweder starke Symptombelastungen zeigten oder weitgehend symptomfrei waren. Alle Kinder waren - und dies ist ein zwingendes Grundmerkmal aller Resilienzstudien - erheblichen psychosozialen Stressoren ausgesetzt. Die Merkmale, die sich zwischen beiden Gruppen stark unterschieden, galten als Resilienzfaktoren. Werner unterschied zwischen intrapsychischen (psychologischen) und interaktionalen (sozialen) Resilienzfaktoren. Die sind:
Intrapsychische protektive Faktoren bei Kindern und Jugendliche
- ein Temperament, das positive Aufmerksamkeit und Zuwendung der Umwelt hervorruft;
- durchschnittliche Intelligenz und ausreichende Kommunikationsfähigkeit, auch im Schreiben;
- stärkere allgemeine Leistungsorientierung;
- eine verantwortungsvolle, sorgende Einstellung;
- positives Selbstwertgefühl;
- internale Kontrollüberzeugung (das heißt Ereignisse werden vorrangig als durch eigene Fähigkeiten und Eigenschaften kontrolliert wahrgenommen);
- Glaube an Selbsthilfemöglichkeiten.
Soziale protektive Faktoren
- viel Aufmerksamkeit und keine längeren Trennungen während des Kleinkindalters;
- kontinuierliche Bezugs- und Begleitperson;
- keine Geburten von Geschwistern in den beiden ersten Lebensjahren;
- keine schweren elterlichen Konflikte bis zum zweiten Lebensjahr.
Es zeigt sich, dass es vor allem kognitive und soziodemografische Variablen sind, die dominieren. Viele der genannten Faktoren scheinen im realen Lebensfeld kaum oder gar nicht beeinflussbar (zum Beispiel Temperament des Kindes, Abstand zwischen den Geschwistern), so dass die Möglichkeiten zur präventiven Beeinflussung von Resilienzfaktoren teilweise eingeschränkt waren. Gleichzeitig lagen etliche Berichte von Lehrer(inne)n vor, die stark beeindruckt von den Kommunikations- und Problemlösungsfähigkeiten dieser Kinder waren. Die Kinder nutzten ihre Talente und Kompetenzen sehr effektiv. Sie hatten oft ein spezielles Interesse oder Hobby, das sie mit einem Freund oder einer Freundin teilten. Die resilienten Kinder schätzten stresserzeugende Lebensereignisse realistischer ein und benutzten eine Vielfalt flexibler Bewältigungsstrategien im Alltag und vor allem in Notsituationen. Als bedeutsame Langzeitstudie zu Risikofaktoren und Resilienz im deutschsprachigen Raum ist die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie2 zu nennen. Die Ergebnisse dieser Studie mit einer Hochrisikogruppe von Jugendlichen, deren Eltern teilweise Alkoholprobleme hatten, stimmen gut mit denen der Kauai-Studie überein. Diese Studie zeigt außerdem, dass potenzielle Schutzmechanismen insbesondere dann von großer Bedeutung sind, wenn gehäuft Risikofaktoren vorliegen. Je mehr objektive und subjektive Belastungen bestehen, desto mehr Schutzmechanismen sind seitens der Kinder erforderlich; aber je mehr Risikofaktoren vorliegen, desto stärker müssen Schutzmechanismen sein, um insgesamt Resilienz zu erzeugen.
An besonderen Herausforderungen wachsen
Der klassischen Kauai-Studie folgten zahlreiche weitere Studien zur Resilienz. Von besonderem Interesse bezüglich der Entwicklung von Resilienzfaktoren bei Kindern aus suchtbelasteten Familien sind die Studien von Wolin und Wolin3. Demnach muss das Aufwachsen in einer stressreichen, belastenden Umwelt nicht automatisch zu Schäden in der psychischen Entwicklung des Kindes führen. Vielmehr kann es Kindern gelingen, an den besonderen Schwierigkeiten und Herausforderungen einer solchen Umwelt zu wachsen und eine besonders stressresistente Persönlichkeit zu entwickeln. Damit stehen sich in den neueren entwicklungspsychologischen Modellen die Aspekte der Vulnerabilität (also der Empfänglichkeit für Belastungen und Störungen) und die der Resilienz (also des dynamischen und flexiblen Schutzes vor Risiken) gegenüber. Die Forscher identifizierten bei jenen Personen mit guter psychischer Gesundheit aus suchtbelasteten Familien insgesamt sieben Resilienzfaktoren, die es Kindern ermöglichen sollen, sich gegen die dysfunktionale Familiensituation aktiv zu schützen und die Probleme kreativ zu bewältigen.
Intrapsychische Resilienzfaktoren
- Einsicht: zum Beispiel dass mit der drogenabhängigen Mutter etwas nicht stimmt;
- Unabhängigkeit: zum Beispiel sich von den Stimmungen in der Familie nicht mehr beeinflussen zu lassen;
- Beziehungsfähigkeit: zum Beispiel in eigener Initiative Bindungen zu psychisch gesunden und stabilen Menschen aufzubauen;
- Initiative: zum Beispiel in Form von sportlichen und sozialen Aktivitäten;
- Kreativität: zum Beispiel in Form von künstlerischem Ausdruck;
- Humor: zum Beispiel in Form von Ironie und selbstbezogenem Witz als Methode der Distanzierung;
- Moral: zum Beispiel in Form eines von den Eltern unabhängigen stabilen Wertesystems.
Die Autoren gehen davon aus, dass beim Vorliegen aller beziehungsweise vieler der genannten Resilienzfaktoren das Kind auch unter ungünstigen psychosozialen Umständen, wie zum Beispiel Armut, soziale Marginalisierung, eine gute Entwicklungsprognose aufweist. Auch ist die gezielte Förderung und Entwicklung einzelner Resilienzfaktoren denkbar.
Wie Moesgen4 zusammenfassend berichtet, konnten in jüngster Zeit die bisher identifizierten Resilienzfaktoren bestätigt sowie um weitere ergänzt werden:
- ausdrückliches Vorhaben des Kindes, ein anderes Erwachsenenleben zu führen als die Eltern;
- positives Selbstbild und ausgeprägtes Selbstvertrauen;
- Gefühl von Sinnhaftigkeit und Orientierung im Leben, Zielgerichtetheit;
- Selbstständigkeit;
- Fähigkeit, mit Veränderungen umzugehen;
- eigene Talente nutzen;
- Problemlösefähigkeit;
- Zukunftsbilder kreieren können;
- das Gefühl haben, dass man selbst wählen kann;
- das Gefühl haben, Kontrolle über sein eigenes Leben zu besitzen;
- Erfolgsmomente, das Gefühl haben, schon etwas erreicht zu haben.
Resilienzförderung richtet sich auch an Eltern
Die Forschungsergebnisse lassen sich gezielt für die Prävention bei Kindern aus suchtbelasteten Familien nutzen. Es besteht die Chance, belasteten Kindern ohne ausreichende Resilienzfaktoren durch frühzeitige und adäquate Interventionen zu helfen. Kinder in stressreichen Lebenssituationen können in ihrer Bewältigungskompetenz gezielt gefördert werden. Da sich die meisten Studien auf die gesunde, kompetente Entwicklung von Kindern in stressreichen Lebenssituationen beziehen, ist es naheliegend, die Ergebnisse auf unspezifische stressreiche Kontexte zu beziehen. Es geht dabei zum einen um Maßnahmen, die den Selbstwert, die Selbstwirksamkeit und das reale Interaktionsverhalten verbessern. Solche Programme können in der Schule, der Jugendarbeit oder auch in den Massenmedien verankert sein. Am ehesten handelt es sich um Maßnahmen zur Förderung der Lebenskompetenz oder solche, die sich an die Risikokompetenz richten. Programme zur Resilienzförderung können sich aber auch an Eltern und andere Personen im Umfeld des gefährdeten Kindes richten. Hier ist vor allem an elterliche Stressreduktion oder an Erziehungskompetenz zu denken. Kinder in benachteiligten Lebenslagen erleben diese Benachteiligungen meist durch vermittelnde Faktoren. Dies können Langzeitarbeitslosigkeit der Eltern, aber auch übermäßig lange Arbeitszeiten ("working poor") durch mehrere Arbeitsstellen, psychische Störungen, Stigmatisierung durch Gleichaltrige, inadäquate Wohnbedingungen, Deprivation im Bereich Kleidung und Essen sein. Insbesondere die Arbeitsfelder Offene Ganztagsschule, Kindertagesstätte, Sozialpädagogische Familienhilfe und Allgemeiner Sozialer Dienst bieten bei entsprechender Schulung der Fachkräfte gute Chancen, resilienzorientierte Konzepte umzusetzen.
Kinder für schwierige Lebensumstände stark machen
Die evidenzbasierte Resilienzförderung gefährdeter Kinder und Jugendlicher steht erst am Anfang, obwohl die entsprechende Forschung schon lange besteht. Die Praxis kann die zahlreichen Forschungsergebnisse gezielt für Prävention und Frühintervention nutzen und damit Kinder und Jugendliche stark machen für ihre Entwicklung unter schwierigen Lebensumständen. Dafür sollten die verschiedenen Akteure im Bereich "Kinder und Jugendliche" effektiv und nachhaltig zusammenarbeiten und sich vom Gedanken, die Widerstandskräfte betroffener Kinder zu stärken, leiten lassen. Für Kinder in sozial benachteiligten und armen Familien liegen inzwischen differenzierte Unterstützungsmodelle vor.
Anmerkungen
1. Werner, Emmy; Smith, Ruth: Vulnerable but invincible : A study of resilient children. New York : McGraw Hill, 1982.
2. Bender, Doris; Lösel, Friedrich: Protektive Faktoren der psychisch gesunden Entwicklung junger Menschen : Ein Beitrag zur Kontroverse um saluto- und pathogenetische Ansätze. 1998. In: Margraf, J.; Siegrist, J.; Neumer, S. (Hrsg.): Gesundheits- oder Krankheitstheorie? Berlin : Springer, 1998.
3. Wolin, Steve; Wolin, Sibyl: Resilience among youth growing up in substance-abusing families. Pediatric Clinics of North America, 1995, 42 (2), S. 415-429.
4. Moesgen, Diana: Die Bedeutung kognitiver Faktoren für die Entwicklung psychischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen aus alkoholbelasteten Familien. Braunschweig, 2010, Dissertation an der Fakultät für Lebenswissenschaften der TU Braunschweig.