Familien finden selbst heraus, was gut für sie ist
In der Kinder- und Jugendhilfe gibt es eine weitreichende rechtliche Verankerung von Partizipation (vor allem § 8 SGB VIII, Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, und § 36 SGB VIII, Mitwirkung, Hilfeplan). Diese Verankerung hat neben anderen Anlässen wie die UN-Kinderrechtskonvention oder der 8. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung dazu beigetragen, dass sich eine intensive Fachdiskussion entwickelt hat. Der Fokus auf das Thema Beteiligung wird auch von der Überzeugung getragen, dass soziale Arbeit nicht gegen die Familien erfolgreich sein kann. Für diese wiederum erhöhen sich durch ihre aktive Teilhabe die Chancen, Erwartungen an ihre Verhaltens- und Umgangsweisen nachvollziehen und selbst mitgestalten zu können. Auch Befunde aus der Psychologie stellen heraus, wie bedeutsam die Teilhabeerfahrung für eine (gesunde) Persönlichkeitsentwicklung ist (Stichwort Salutogenese, also die Frage, was einen Menschen gesund erhält). Nicht zu vergessen ist die gesellschaftliche Dimension: Kinder werden dann zu aktiven Mitgliedern einer demokratischen Gesellschaft, wenn sie bereits in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld Möglichkeiten haben, dieses mitzugestalten.
In den Hilfen zur Erziehung erfährt der Partizipationsanspruch eine hohe Zustimmung. Insbesondere in den stationären Hilfen sind in den letzten Jahren positive Veränderungen zu erkennen.1 Aber es zeigt sich auch, dass Partizipation noch nicht selbstverständlich ist. Ob die Adressat(inn)en die Möglichkeit zur Mitwirkung erhalten oder nicht, ist noch zu oft in das Belieben der Fachkräfte gestellt.2 Gerade bei ambulanten Angeboten oder in kleineren stationären Einrichtungen ist das Bewusstsein dafür, dass es Gegengewichte zu den strukturellen Machtunterschieden zwischen Fachkräften und den Hilfebedürftigen braucht, eher gering ausgeprägt. Das folgende Fallbeispiel soll dabei helfen, einige Herausforderungen im Kontext der ambulanten Hilfen zu verdeutlichen.
Katrin Grossmann ist alleinerziehende Mutter mit drei Kindern zwischen zwei und zehn Jahren. Sie erhält seit einiger Zeit sozialpädagogische Familienhilfe. Im Hilfeplan wurde vereinbart, dass die Mutter, deren echter Name anders lautet, Unterstützung bei der Organisation des Alltags erhält, ihre Erziehungskompetenz gestärkt und darauf geachtet werden soll, dass die Kinder regelmäßig in Kindergarten und Schule gehen. Zudem muss die Wohnung entmüllt werden. Auch soll gemeinsam mit Frau Grossmann nach Unterstützung gesucht werden, damit ihr Sohn lernt, seine Frustrationen, die er beispielsweise in der Schule erlebt, weniger in Aggressionen auszuleben. Der Umfang der Hilfe ist auf vier Stunden pro Woche begrenzt. Die Familienhelferin hat sieben Familien in ähnlichen Lebenslagen zu betreuen. Das Beispiel illustriert, dass die Fachkraft vor vielfältigen und komplexen Aufgaben steht.
Zeit und Vertrauen
Eine der zentralen Aufgaben für die Fachkräfte besteht darin, die Selbsthilfepotenziale der Familie und der einzelnen Familienmitglieder zu erhöhen. Dieses Ziel ist dann zu erreichen, wenn Katrin Grossmann, angeregt durch die Fachkräfte, wieder Zuversicht und Vertrauen in die Wirksamkeit ihres Handelns erlangt. Sie ist also auf Erfahrungen angewiesen, die ihr immer wieder bestätigen, dass sie selbst Einfluss auf ihr Leben nehmen kann. Dies ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein Prozess, für den Zeit notwendig ist. Die gesellschaftlichen Entwicklungen nehmen derzeit jedoch eine entgegengesetzte Richtung: Sozialstaatliche Politik ist eher geprägt von einer präventiven Ungeduld. Überspitzt gesagt: Probleme müssen gelöst werden, bevor sie entstanden sind. Sich Zeit nehmen zu können wird zum Luxusgut.3 In der Kinder- und Jugendhilfe zeigt sich dies an immer kürzeren Bearbeitungszeiten, einer zunehmenden Diagnoseorientierung, an immer mehr Controllingverfahren und der Individualisierung von Verantwortung.4 Unter Zeitdruck wird es umso schwieriger, immer wieder den Perspektivenwechsel zu leisten, die Adressat(inn)en als Lernende und als für sich und ihr Leben Kompetente zu begreifen und Beteiligungsgelegenheiten zu eröffnen. Dieser Lerngedanke setzt auch Vertrauen in die Kompetenzen der Familien voraus, woran es aber zunehmend mangelt. Die britische Erziehungswissenschaftlerin Priscilla Alderson kann beispielsweise an vielen Stellen zeigen, dass Kindern und Jugendlichen heute weniger zugetraut wird als noch vor 50 Jahren.5 Auch Elterntrainings sind nicht zuletzt deshalb so attraktiv geworden, weil sie versprechen, effizient und effektiv und mit überpersönlicher Attraktivität ausgestattet (von Expert(inn)en entwickelt), die Situation in Familien zu verbessern.
Diese gesellschaftliche Ungeduld trägt auch dazu bei, dass die Fachkräfte in ein spezifisches Rollenverständnis von Expertenschaft gedrängt werden, das wenig beteiligungsorientiert ist.
Expertentum erstickt Partizipation
Im Hilfeplan wurden für Familie Grossmann unterschiedliche Ziele festgelegt, die in kurzer Zeit zu bewältigen sind. Aus der Sicht der Fachkraft ist diese Aufgabe nur zu meistern, wenn sie ohne die Familie einen Plan für die Zielerreichung entwickelt.
Was wird daran deutlich? Aus der Perspektive des Jugendamtes ist die Familienhelferin als "Ausführungsexpertin" gefordert, die im Hilfeplan formulierten Ziele umzusetzen. Die Familie erwartet hingegen, dass die Probleme so bald wie möglich gelöst sind beziehungsweise das Jugendamt die Familie nicht mehr beobachtet. Und schließlich hat die Familienhelferin selbst eine fachliche Einschätzung zur Situation bei den Grossmanns. Diese drei Perspektiven können zu sehr unterschiedlichen, eventuell auch kollidierenden Zielvorstellungen führen und beschreiben eine typische Schwierigkeit, Beteiligungsprozesse zu ermöglichen. Die Vorstellung, "zu wissen, was für andere gut ist", basiert auf einem klassischen Expertenmodell. Dieses ist fest in der Gesellschaft verankert. Von allen Seiten besteht die Erwartung, Fachkräfte wüssten auf alle Fragen immer eindeutige Antworten. Im alltäglichen Handeln erzeugt die Forderung, die Klient(inn)en zu beteiligen, deshalb auch Fantasien von Unkontrollierbarkeit und Grenzenlosigkeit. Fachkräfte haben nicht selten den Eindruck, dass sich der Hilfeprozess von ihnen nicht mehr im Voraus planen und steuern lässt und ihre eigene Fachlichkeit nicht mehr gefragt ist. In der Folge dessen versuchen sie nicht selten, den Anspruch auf Beteiligung einzuschränken.
Beteiligung wird so zu einem Zugeständnis an die Familien und ist nicht mehr eine grundlegende Haltung im Hilfeprozess. Daran wird deutlich, dass der Partizipationsanspruch eine Veränderung der Bedeutung der eigenen Rolle als Experte erfordert: nämlich dahin, wie man den Klient(inn)en helfen kann, selbst herauszufinden, was gut für sie ist.
Im Fall von Katrin Grossmann gestaltet sich mit der Zeit das Verhältnis zur Familienhelferin schwierig, das Vertrauensverhältnis ist gestört, die Frau ist frustriert. An das Jugendamt wird sie sich mit ihrem Frust eher nicht wenden. Die Hilfeplansituation war nicht so, dass sie davon ausgeht, dort Unterstützung zu erfahren. Welche andere Möglichkeit bleibt ihr? Auch der umgekehrte Fall ist vorstellbar, dass Frau Grossmann ihrem Unmut nach allen Seiten Luft macht.
Wie die Interessen gewahrt werden können
Dabei zeichnen sich ambulante Hilfen durch einen unmittelbaren Lebensweltbezug aus (Komm- und Gehstruktur) und weniger durch ihren institutionellen Rahmen. Dennoch besteht dieser institutionelle Rahmen, und viele Regeln, die die Klient(inn)en anzuerkennen haben, resultieren aus den institutionellen Vorgaben. Das erfordert Gegengewichte, die es den Familien erlauben, Anliegen auch außerhalb der unmittelbaren Beziehungsebene zwischen einzelnen Adressat(inn)en und Fachkräften zu thematisieren, zum Beispiel mit Beschwerdeverfahren oder über Adressatenvertretungen. Fachkräfte sind jedoch häufig noch skeptisch gegenüber diesen Möglichkeiten. Sie haben sowohl das Gefühl, dass diese angesichts der individuellen Problemkonstellationen unangemessen und unnatürlich sind als auch, dass ihnen dadurch ein zusätzlicher Aufwand zugemutet wird, der durch das Ergebnis nicht gerechtfertigt ist. Die Fachkräfte selbst werden solche Formen nicht aktiv unterstützen, solange ihre Befürchtungen begründet sind, dass sich die Verfahren gegen sie wenden können (zum Beispiel als trägerinternes Controllingsystem).
Auch wenn die Fachkraft den Unmut von Katrin Grossmann für unangemessen hält: Diese Unzufriedenheit wird dennoch einen Weg finden, sich zu artikulieren. Gibt es einen Ort, der für diesen Unmut da ist, hat dies Vorteile für beide Seiten. Dort, wo gute Erfahrungen mit institutionellen Formen der Beteiligung gemacht werden, nehmen die Fachkräfte dies als wichtige Möglichkeit wahr, Konflikte erkennen und bearbeiten zu können.6
Selbstverständlich partizipativ
Ambulante Hilfen sind nicht per se partizipativ. Die Fachkräfte und entsprechende institutionelle Strukturen müssen Beteiligung fördern. Partizipation wird dann selbstverständlich, wenn auf allen Ebenen die Partizipation der Klient(inn)en unterstützt wird und eine Partizipationskultur entstehen kann, damit sich sowohl Katrin Grossmann mit ihren Kindern als auch die Fachkräfte ernst genommen fühlen. Auch wenn diese Anforderung nach einer umfassenden Partizipationskultur sehr voraussetzungsvoll klingt, zeigen die Erfahrungen der Praxis, dass auch mit kleinen Schritten Veränderungsprozesse angestoßen werden.
Anmerkungen
1. Gadow, Tina; Peucker, Christian; Pluto, Liane; van Santen, Eric; Seckinger, Mike: Kinder- und Jugendhilfe. Potenziale, Probleme, Perspektiven. Im Erscheinen, 2011.
2. Pluto, Liane: Partizipation in den Hilfen zur Erziehung : Eine empirische Studie. München : DJI-Verlag, 2007.
3. Rosa, Hartmut: Beschleunigung : Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2005.
4. Seckinger, Mike: Verdichtung der Jugendphase und ihre Folgen für die Kinder- und Jugendhilfe. In: SOS-Dialog, 2007, S. 11-19.
5. Alderson, Priscilla: Young Children’s Rights : Exploring Beliefs, Principles and Practice. London and New York : Jessica Kingsley Publishers, 2000.
6. Santen, van Eric: Beschwerdemanagement und Adressatenräte als institutionelle Formen der Partizipation in den erzieherischen Hilfen - das Beispiel Niederlande. In: Seckinger, Mike (Hrsg.): Partizipation - ein zentrales Paradigma. Analysen und Berichte aus psychosozialen und medizinischen Handlungsfeldern. Tübingen : DGVT-Verlag, 2006, S. 173-189.