Selbstbestimmung und Teilhabe: ja - aber wie?
Ja, wir sind alle für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft. Alles dazu ist gesagt, könnte man meinen. Wären nur auch schon die Komplexeinrichtungen alle "aufgelöst", dann hätten wir die "Inklusion" schon erreicht. Gott sei Dank wissen wir seit der Psychiatriereform und dem 1978 erlassenen Gesetz 180 in Italien, das die Auflösung aller psychiatrischen Anstalten vorschrieb, dass es so nicht geht – aber auch, dass eine Menge mehr geht, als wir immer dachten. Ein großer Beitrag zur deutschen Psychiatriereform nach der Psychiatrie-Enquete von 1975 war eine von der Aktion Psychisch Kranke entwickelte Konzeption gemeindenaher Hilfen und deren konsequenter Ausbau.
Personorientierung, Selbstbestimmung, Teilhabe
Wer dem christlichen Menschenbild als Leitstern für die eigene Haltung und als Motiv seines Handelns anhängt, ist nicht erst seit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 und dem "Sozialgesetzbuch IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen" von 2001 für die Teilhabe behinderter Menschen. 2004 bekräftigte die Mitgliederversammlung¹ des Verbandes Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP), "dass sich die Angebote aller Mitgliedseinrichtungen und -dienste an den Kriterien der Personorientierung, Selbstbestimmung, Teilhabe und Leben in der Gemeinde ausrichten." Ganz unbestritten hat eine beachtliche Entwicklung bis heute stattgefunden, begleitet von verschiedenen Projektaktivitäten des CBP und unterstützt durch die Aktion Mensch.
Die Stellungnahme 2008 zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe des Deutschen Caritasverbandes gemeinsam mit dem CBP formuliert: "Die selbstbestimmte Teilhabe des Menschen begründet sich aus seiner Würde als Mensch. Denn der Mensch ist ein autonomes Wesen, das zur Selbstbestimmung fähig ist und - wie wir als Christen glauben - durch Gott zur Freiheit und Verantwortung berufen wurde. Selbstbestimmte Teilhabe bedeutet, dass jeder Mensch das Recht hat, an den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Prozessen einer Gesellschaft teilzunehmen und diese mitzugestalten und mitzubestimmen. Wie der Einzelne diese Teilhabe in die Praxis umsetzt, ist seiner autonomen Entscheidung überlassen (natürlich in Wahrung der Rechte anderer und des Gemeinwohls)."2
Individuelle Betreuung in der Gemeinde eröffnet Chancen
Diese Aussagen provozieren Fragen danach, wie es denn angehen mag, dass Menschen mit Behinderungen diesem Ideal entsprechend leben können. Jeder von uns hat konkrete Menschen vor Augen, bei denen wir uns ihrer Einschränkungen wegen nicht vorstellen können, dass sie in einer politischen Partei mitwirken oder auch nur frei und verantwortlich ihr Leben gestalten, oder Menschen, die ohne die personale Unterstützung durch unsere Einrichtungen und Dienste nicht überleben würden.
In meiner über 25-jährigen Tätigkeit in der Behindertenhilfe und Psychiatrie bin ich aber auch vielen Menschen begegnet, die mit einem individuellen Betreuungssetting in ihrer Gemeinde hätten leben und arbeiten und mit anderen den Alltag teilen können, statt ihre Kraft darin zu erschöpfen, sich den notwendigen Regeln des Zusammenlebens in einer Institution anzupassen.
Diese Menschen haben mich immer motiviert, individuelle Lösungen mit ihnen zu suchen, unsere institutionellen Leistungsangebote flexibler zu machen und Reformen des Leistungsrechtes zu befördern, das diese individuellen, selbstbestimmten Wege ermöglicht. Zum Ende meiner zehnjährigen Zeit als Vorsitzende des CBP sehe ich voller Dankbarkeit, dass wir in CBP und Caritas, in der Behindertenhilfe und in der Gesetzgebung Schritt für Schritt vorangekommen sind, weil viele sich mit uns auf den Weg gemacht haben.
Wir sind auf gutem Wege, aber nicht am Ziel. "Im Gehen entsteht der Weg", sagt der spanische Lyriker Antonio Machado und beschreibt damit, dass sich mit jedem Erreichen eines Ortes immer neue Perspektiven vor uns öffnen.
Nicht von der Institution, vom Menschen her denken
Die Pioniere der Behindertenhilfe haben Menschen mit Behinderungen von der Straße und aus den Verstecken geholt und ihnen eine Heimat in einer tätigen Gemeinschaft gegeben. In diesen schnell wachsenden Einrichtungen haben ihre Nachfolger einen riesigen Erfahrungsschatz gesammelt, wie Leben mit unterschiedlichsten Behinderungen gelingen kann. Sie haben die notwendigen fachlichen Unterstützungen entwickelt. Dieses Wissen zusammen mit den allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen hin zu individuellen Lebensgestaltungen ist der Ausgangspunkt für die heutigen Herausforderungen eines selbstbestimmten Lebens in der Gesellschaft, das sich viele Menschen mit Behinderung wünschen - oder wünschen würden, wenn wir ihnen die Möglichkeit dazu eröffneten.
Ich rede keiner Zwangsbeglückung das Wort. Ich fordere nicht die Auflösung aller Komplexeinrichtungen. Denn ich habe Menschen mit komplexen Bedarfslagen kennen gelernt, die komplexe Hilfesettings brauchen. Hier wissen wir noch nicht, wie wir ihrem Hilfebedarf anders gerecht werden könnten. Ich habe gesehen, dass diese Menschen in ihrer Entwicklung von solch umfassender Hilfe auf hohem professionellem Niveau sehr profitieren und in kleinen Schritten Teilhabe zunächst in ihrer Einrichtung und dann in der Gemeinde realisieren können. Daher rede ich der Forderung nach Auflösung aller Komplexeinrichtungen nicht das Wort, wohl aber der Forderung, mit jedem einzelnen Menschen mit Behinderung und seinen Angehörigen herauszufinden, welche flexiblen individuellen Lösungen er braucht.
Der Platzbedarf in Komplexeinrichtungen wird sinken
In der Konsequenz wird der Platzbedarf in Komplexeinrichtungen sinken. Unsere Mitglieder stehen bei jeder Immobilie, die renovierungsbedürftig wird, vor der Frage, ob sie so noch als Einrichtung für behinderte Menschen gebraucht wird oder ob es Alternativen gibt, die dem Wunsch vom selbstbestimmten Leben in der Gemeinde näherkommen.
Was braucht und will der einzelne Mensch?
Ich hege die große Hoffnung, dass die Personzentrierung³ der Hilfen dem einzelnen Menschen mit Behinderung mehr Alternativen eröffnet, dass sie die Mitarbeitenden beflügelt, diese mit ihm zu suchen und zu realisieren, und dass sie unseren Institutionen die entscheidenden Entwicklungsimpulse gibt.
- Unsere erste Frage muss sein: Was braucht und will der einzelne Mensch?
- Die zweite heißt: Wie können die genau passenden Unterstützungsleistungen erbracht werden?
- Die dritte: Wie gestalten wir unsere Organisationen, damit sie das für jeden einzelnen Nachfrager leisten?
Wir Leistungserbringer sind verantwortlich dafür, dass jeder Mensch mit Behinderung, der Unterstützung braucht, eine echte Wahl hat, wie und wo er diese Unterstützung bekommt, und dass er nicht nur wollen muss, was er kriegen kann. Uns hinter der scheinbaren Wahl eines Menschen mit Behinderung zu verstecken, der nie die Chance hatte, anderes kennen zu lernen, gilt nicht.
Der Weg entsteht im Gehen, wenn nicht wir, dann gehen ihn andere und erschließen die Zukunft personzentrierter Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen. Denn auch sie wollen an den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Prozessen unserer Gesellschaft teilnehmen, diese mitgestalten und mitbestimmen. In meinem Verständnis des christlichen Menschenbildes sollen gerade wir als Caritas diesen Weg vorangehen. Gerade unsere Mitglieder sollen als Sozialunternehmen einer Vision der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft folgen.
Dem CBP und seinen Mitgliedern wünsche ich, dass sie von einer solchen Vision beseelt jeden möglichen kleinen Schritt gehen - in Wahrnehmung ihrer vielfältigen Verantwortung für Menschen mit Behinderung, für ihre Mitarbeitenden, ihre Organisation, ihre Kirche und den Auftrag Jesu Christi.
Anmerkungen
1. Selbstbestimmung, Teilhabe und Leben in der Gemeinde - Positionspapier des CBP für die Arbeit mit Erwachsenen, beschlossen am 11. November 2004 von der Mitgliederversammlung; www.cbp.caritas.de/53606.asp?id=1134&page=4&area=efvkelg
2. Weiterentwicklung der Leistungen zur selbstbestimmten und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und am Arbeitsleben für Menschen mit Behinderung - Positionen zur Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung, 22. Dezember 2008; www.cbp.caritas.de/53606.asp?id=1146&page=2&area=efvkelg, s.a. neue caritas Heft 5/2009, S. 19.
3. 10 Thesen zur Personzentrierung - Thesen zur Personzentrierung der Kontaktgesprächsverbände als ein Beitrag zur aktuellen Debatte um eine Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe, 1. Oktober 2010; www.cbp.caritas.de/53606.asp?id=1315&page=1&area=efvkelg, s.a. neue caritas Heft 7/2011, S. 30.