Arbeiten und wohnen in einer inklusiven Gesellschaft
Nur 14 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben schon etwas von dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN-Behindertenrechtskonvention) gehört.1 Eine noch kleinere Gruppe ist seit etwa zwei Jahren heftig in der Diskussion über die Ziele und Konsequenzen dieser Konvention. Für die einen sind die Dienste und Einrichtungen der Behindertenhilfe Sonderwelten, die eine selbstbestimmte Teilhabe verhindern; für die anderen sind sie der Garant für eine bedarfsgerechte Förderung. Die einen begrenzen die Behindertenrechtskonvention auf die Lebenslage der Menschen mit Behinderung, die anderen sehen darin eine Grundlage zum Umbau der Gesellschaft. Die Ergebnisse dieser Diskussion - das ist den meisten Menschen in der "Szene" klar - werden nicht theoretisch bleiben. Sie haben Auswirkungen auf die gewohnten Abläufe, auf Arbeitsplätze, ja, auch auf das Gehaltskonto am Monatsende. Und was wird das für die Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) und für die Wohnheime heißen? Werden diese Einrichtungen auch in Zukunft gebraucht?
Es gibt ein Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben
In unserer Gesellschaft gibt es immer noch den Konsens, dass jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, mit seinen Fähigkeiten zur Gestaltung und Veränderung der Welt beitragen zu können. Arbeit ist das gesellschaftlich anerkannte Mittel, an dieser Gestaltung mitzuwirken. Den Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung nicht am allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten können, wird ein Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben an einem angepassten Arbeitsplatz zugestanden. Die WfbM ist bisher die erste Adresse zur Verwirklichung dieses Rechts. Durch die Auswahl der Tätigkeit, durch Änderung der Arbeitsbedingungen, durch hilfreiche Geräte sowie durch die personale Unterstützung werden Beeinträchtigungen kompensiert. So können Menschen mit Behinderung unbehindert arbeiten.
Die erste und wesentliche Aufgabe der WfbM besteht in dieser Anpassung der Arbeit an den Menschen. Dennoch ist sie auch ein Ort der produktiven und wirtschaftlich verwertbaren Prozesse. Damit wird die reale Teilhabe am Arbeitsleben ermöglicht und gleichzeitig ein Schutzraum geboten.
Um den Zweck und die Funktion der WfbM zu beurteilen, muss man wissen, wer ihre Zielgruppe ist. Es ist nicht die Mehrheit der 7,1 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Schwerbehinderung. Diese haben häufig im Laufe ihres Lebens durch Unfälle oder Krankheiten den Schwerbehindertenstatus erworben und sind ansonsten kaum weniger leistungsfähig als alle anderen Arbeitnehmer(innen). Diese schwerbehinderten Menschen sind vielen Arbeitgebern sehr willkommen, damit sie die Zahlung der Ausgleichsabgabe sparen. In der WfbM dagegen sind Menschen mit Behinderung, die ein hohes Maß an personaler Assistenz benötigen.
Viele Arbeitgeber schätzen Menschen mit Behinderung
Keine Frage: Menschen werden durch das Angebot der WfbM aus dem üblichen Produktionsprozess - also dem allgemeinen Arbeitsmarkt - ausgesondert. Diese Aussonderung kann man grundsätzlich kritisieren. Diese Kritik kann aber nicht die treffen, die einen WfbM-Arbeitsplatz als Alternative zur Arbeitslosigkeit anbieten. Die Wirtschaft in Deutschland ist ganz stolz auf ihre Produktivität. Das ist aber auch der Grund dafür, dass die Menschen nicht gebraucht werden, die dem Verwertungs- und Produktionsprozess im Weg sind. Da sind nicht nur die Menschen mit Behinderung, die nicht in den allgemeinen Arbeitsmarkt passen. Das Heer der Menschen, die über Jahre keine Arbeit finden und für die wir mittlerweile auch den Begriff "Langzeitarbeitslose" haben, gehört auch dazu.
Allerdings muss die Unterstützung für die Teilhabe am Arbeitsleben unabhängiger von möglichen institutionellen Ausformungen der Leistung organisiert werden. Eine personenbezogene Bedarfserhebung (Assessment), bei der die Ressourcen der sozialen Umwelt einbezogen werden, könnte für viele Menschen mit Behinderung auch andere Formen der Unterstützung als die WfbM ermöglichen. Sowohl beim Übergang von der Schule in den Beruf als auch während des Arbeitslebens ist immer wieder zu prüfen, ob bei ausreichendem Ausgleich der behinderungsbedingten geringeren Leistungsfähigkeit und bei geeigneter Assistenz auch der Arbeitsplatz in einem Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarkts als Ort der Teilhabe am Arbeitsleben möglich ist.
Es gibt Arbeitsplätze mit einem Arbeitsvertrag
Die Werkstattträger bieten seit Jahren Alternativen zum Arbeitsplatz in der WfbM an: Maßnahmen der Arbeitserprobung in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes werden vermehrt durchgeführt. Außenarbeitsplätze sind entstanden. Integrationsfirmen bieten Arbeitsplätze mit einem Arbeitsvertrag an.
Solange aber zuerst die volle Erwerbsminderung festgestellt werden muss, ein "arbeitnehmerähnlicher" Status (und kein üblicher Arbeitsvertrag) das Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verhältnis bestimmt, bei einer gelungenen Arbeitserprobung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt der arbeitnehmerähnliche Status verloren gehen kann und der Sozialhilfeträger nicht bereit ist, dem Menschen mit Behinderung die gleiche Geldleistung und soziale Absicherung wie bei der Tätigkeit in der WfbM zu gewähren, wird die "Sonderwelt" für diese Zielgruppe die beste Möglichkeit bleiben, an der Arbeitswelt teilzuhaben.
Haben wir es bei der Frage nach den Wohnheimen mit dem gleichen Muster zu tun? Nach der Behindertenrechtskonvention (Artikel 19) haben die Vertragsstaaten zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt entscheiden können, wo und mit wem sie leben. Sie sind nicht verpflichtet, in besonderen Wohnformen zu leben. Die seit Jahren aktiven Initiativen gegen stationäre Wohneinrichtungen sehen darin mit Genugtuung die Bestätigung, dass Wohnheime und, noch schlimmer, "Komplexeinrichtungen" die Teilhabe am Leben der Gesellschaft verhindern.
Träger und Mitarbeiter(innen) sind verärgert: Ihre Leistungen der vergangenen 50 Jahre werden mit solchen Pauschalurteilen ignoriert und in keiner Weise gewürdigt. Menschen mit Behinderung wurden häufig auch noch in den 60er und 70er Jahren aus menschenunwürdigen Verhältnissen in Wohnheime gebracht. Aus Schlafsälen wurden Einzelzimmer. Aus kollektiven und angepassten Abläufen des Alltags wurden individuelle Tagesrhythmen. Aus Anstalten wurden moderne Wohnhäuser in einem Umfeld, in dem Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Einschränkungen wie sonst kaum gefahrlos am Leben in der Gemeinschaft teilhaben können.
Aus Anstalten wurden moderne Wohnhäuser
Und doch haben sich auch diese Träger auf den Weg gemacht. Über 3000 Wohnheimplätze wurden in den Caritas-Einrichtungen in den vergangenen fünf Jahren dezentralisiert und in gemeindenahe kleine Wohnungen umgewandelt. Auch die Leistungsträger unterstützen diese Veränderung hin zu einer Zunahme von Plätzen im ambulant betreuten Wohnen.
Damit könnte man zufrieden sein: Wenn endlich mehr ambulante Wohnformen angeboten werden, können die Menschen mit Behinderung wählen. Neben den bisherigen zwei Optionen, weiterhin bei Angehörigen zu bleiben oder in einem Wohnheim zu leben, gibt es nun immer häufiger die Möglichkeit, in kleinen Wohngruppen als Paar oder alleine in einer Wohnung zu wohnen.
Aber die Behindertenrechtskonvention kann auch grundlegender verstanden werden: In einer inklusiven Gesellschaft und in einem Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern Partizipation und selbstbestimmte Teilhabe ermöglichen soll, werden auch den Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderung keine Angebote und Leistungsformen vorgegeben. Der Leistungsträger beauftragt einen Leistungserbringer, ein Gemeinwesen, das Quartier, das Dorf, die Kommune, kurzum: einen bestimmten Akteur im Sozialraum dazu, zu erkunden, ob die dort lebenden Menschen (in diesem Fall die Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen) die Ermöglichung der selbstbestimmten Teilhabe selbst in die Hand nehmen können (Subsidiarität). Es wird gefragt, wie die Menschen im Sozialraum zu befähigen und zu motivieren sind, mögliche Probleme selbst zu lösen. Der Träger der Dienste und Einrichtungen der Behindertenhilfe preist nicht zuerst sein modernes Wohnangebot an. Er bietet seine Moderation und Unterstützung für die selbstverantwortliche Lösung der Probleme an (Empowerment). Er vermeidet die "Kolonialisierung der Lebenswelt", das heißt er legt keine fertigen Lösungen vor, sondern unterstützt (soweit das mit seinen Leitbildern übereinstimmt) die Lösungsvorschläge der betroffenen Menschen (Selbstbestimmung). Und schließlich bietet er das Expertenwissen seiner Mitarbeiter(innen) als Dienst im eigentlichen Sinn an: Die von mangelnder Teilhabe und Partizipation betroffenen Menschen sind die Auftraggeber, nicht der Leistungsträger und nicht der Leistungserbringer (Assistenz statt Expertenmacht).
Die Realität ist von dieser Interpretation der Behindertenrechtskonvention noch weit entfernt. Aber nimmt man die Prinzipien der Katholischen Soziallehre ernst, muss mehr geschehen, als das "Umsteuern" von den stationären zu den ambulanten Wohnangeboten.
Anmerkung
1. Institut für Demoskopie Allensbach: Gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Deutschland - Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Befragung. Allensbach, Juni 2011, S. 12.