Ohne Werte wird vieles wertlos
Nicht erst seit Goethes Doktor Faust haben sich Menschen immer wieder darum bemüht, herauszufinden "was die Welt im Innersten zusammenhält". Dabei geht es nicht nur um molekulare Elemente und Strukturen, sondern in der (Post-)Moderne mittlerweile vorrangig - so hat man den Eindruck - um "sozialen Kitt", wie es Erich Fromm 1932 ausgedrückt hat. Aber diese unabdingbare "Solidarität fällt nicht vom Himmel"1. Sie muss stets von neuem erarbeitet werden, um zum sozialen Kapital einer Gesellschaft werden zu können. An diesem Bemühen beteiligt sich indes nur derjenige, der die Würde des Menschen als höchsten Wert für ein gelingendes Zusammenleben anerkennt, das heißt, wer auch den anderen, seinen Mitmenschen ohne Diskriminierung als gleichwertiges Gegenüber respektiert und dementsprechend mit und für ihn handelt.
Im Obrigkeitsstaat war Mitgestaltung ein Fremdwort
Dem Obrigkeitsstaat genügte es weithin, im Sinne seiner Staatsräson Stärke und Macht nach außen sowie Sicherheit und Ordnung im Innern zu erhalten. Die Menschen galten als Untertanen und hatten jedwede Obrigkeit als gottgegeben hinzunehmen. Erst nach und nach entwickelte sich aus patriarchalischen Gedanken eine sozialstaatliche Fürsorge. Von einer politischen Mitverantwortung oder gar Mitgestaltung der sie betreffenden Angelegenheiten blieben weite Kreise der Bevölkerung noch lange Zeit ausgeschlossen. So konnte es - um dies am Beispiel Deutschlands weiterzuverfolgen - auch nicht ausbleiben, dass viele Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer demokratischen Selbstverantwortung nicht gewachsen waren und sich von populistischen Rattenfängern verführen ließen.
Der demokratische Neustart nach 1945 verlieh alsbald dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft eine förmliche Wunderkraft, die den Sozialstaat zum Wohlfahrtsstaat entfaltete und weiterentwickelte, bis dieser beinahe in einem totalen Daseinsvorsorge-Staat kollabierte. Dies wurde von einem unübersehbaren Wertewandel begleitet, der materialistische Wertschätzungen verblassen ließ und individualistisch-hedonistische Lebensmaximen förderte. Altruistisch-solidarische, eigenverantwortliche wie sozialverantwortliche Orientierungen drohten dabei gleichermaßen unter die Räder zu geraten, mit der Folge, dass Schwächere auf der Strecke blieben und der gesellschaftliche Zusammenhalt lockerer und unverbindlicher bis hin zur Fata Morgana einer Gesellschaft von "Ichlingen"2 zu werden drohte.
Schon in den 1970er Jahren rang man in der deutschen Gesellschaft um die Grundwerte in Staat und Gesellschaft3, die man bis dahin als hehre Normen im Grundgesetz verankert hatte, in den Folgejahren aber offensichtlich nicht eins zu eins verwirklichen konnte; weshalb sie insbesondere von der nachwachsenden Generation seinerzeit auf den Prüfstand gestellt, wenn nicht gänzlich in Zweifel gezogen wurden.
Unter Repräsentanten der seinerzeit im Bundestag vertretenen Parteien herrschte dabei weithin Einigkeit - wenngleich sie je aus humanistischer, christlicher oder liberaler Perspektive spezifische Akzentsetzungen vornahmen -, dass ein Gemeinwesen sich um Freiheit, Gleichheit und Solidarität bemühen müsse, um menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Damals wie heute war und ist allen Verantwortlichen klar, dass jene Grundwerte unter je spezifischen Zeitumständen einer jeweils neu zu verantwortenden Justierung bedürfen. Zudem wies jedoch der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Staat "ein nicht mehr vorhandenes Ethos nicht zurückholen … und ein nicht mehr vom Konsens der Gesellschaft getragenes Ethos nicht durch Rechtsnorm für verbindlich erklären" könne.4 Dies soll aber nicht bedeuten, dass man sich innerhalb der Gesellschaft nicht um Gehalte und Verwirklichung jener Grundwerte bemühen muss.
Trotz Veränderungen heute: Grundwerte sind gefragt
Nun haben sich am Übergang zum 21. Jahrhundert die soziopolitischen Koordinaten unverkennbar verändert - und sie werden sich weiter wandeln. Stichwortartig sei auf einige Aspekte verwiesen: Man wird die Individualisierung nicht zurückdrehen können (und wollen); die unter anderem auch damit einhergehende Pluralität lässt sicherlich keinerlei "formierte Gesellschaft" mehr zu; der Wertewandel wird fortschreiten und neue Formen der Lebensgestaltung einfordern; die generativen Veränderungen stellen Herausforderungen dar, die zwar noch relativ in den Anfängen stecken, aber alsbald gravierende Einschnitte und Umbrüche verlangen werden; die fortschreitende Globalisierung hat bereits ihre Schatten auch in diversen Krisen vorausgeworfen; und nicht zuletzt werden technische und mediale Errungenschaften wie zum Beispiel die Digitalisierung auch soziale Interaktionsstrukturen erheblich verändern.
Bei alldem droht dem Menschen der Postmoderne an einem - zum Teil subjektiv durchaus unterschiedlichen - Punkt "of no return" die Rolle des Zauberlehrlings: das heißt, er gerät in eine Situation, in der er die Geister, die er rief beziehungsweise denen er sich auslieferte, nicht mehr zu steuern vermag und diese auch kaum mehr loswerden wird. Der Mensch driftet damit vom Subjekt seines Handelns - soweit er dies bislang noch für sich reklamieren und wahrnehmen konnte - weithin zum Objekt des Geschehens ab, das er kaum noch (mit-) gestalten kann. Dies ist mit Menschenwürde im Allgemeinen wie im Besonderen letztendlich unvereinbar. Bedroht sind damit aber auch die Grundwerte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität.
Orientiert sich aber die Gesellschaft der Moderne nicht an diesen Werten, läuft sie Gefahr, in ein Nebeneinander von Technik-Nomaden zu zerfallen, zumindest aber eine Entwicklung heraufzubeschwören, die immer größere Teile der Gesellschaft ausgrenzt und vom technischen, letztlich aber auch gesellschaftspolitischen Fortschritt abhängt.
Diesen Tendenzen will die Bürgergesellschaft gegensteuern und ein neues Miteinander für ein menschenwürdiges Leben jenseits der skizzierten sozioökonomischen und technischen Herausforderungen ermöglichen.
Bürgergesellschaft als Allheilmittel?
Menschenwürdiges Zusammenleben in größeren Gemeinschaften kann ohne verbindliche Verfahrensweisen und Normen auf Dauer nicht gesichert werden. Zu Recht wurde die politische Ordnung der Bundesrepublik durch das Grundgesetz als wertgebundene und wehrhafte Demokratie begründet. Hierbei haben offenkundig viele Zeitgenossen der Freizeit- und Erlebnisgesellschaft aus den Augen verloren, dass ein politisches Ordnungsgefüge sich auf Dauer nicht selbst erhalten und seinen Bürger(inne)n ein gedeihliches Miteinander garantieren kann, wenn es nicht von deren Wertschätzung getragen und verteidigt wird.
Zu lange hat man ferner auch die funktionalen Elemente des politischen Systems beachtet und dabei offenkundig übersehen, dass Demokratie nicht nur eine Herrschaftsform ist, sondern auch als Gesellschafts- und Lebensform gepflegt und ausgestaltet werden muss, wenn sie als lebensfähiges Gemeinwesen Bestand haben will. Die moderne Demokratie braucht mündige Bürger(innen), die sich für die Werte und Strukturen ihrer politischen Ordnung einsetzen und denen auch das Leben und die Probleme ihrer Mitbürger(innen) nicht gleichgültig sind. Diesen Lebens- und Gestaltungsrahmen scheint nun das Modell der Bürgergesellschaft bereitzustellen.
Dazu ist allerdings erforderlich, dass die Menschen (zumindest so viele wie möglich) ihre "selbst verschuldete Unmündigkeit"5 ablegen beziehungsweise überwinden und nicht mehr alle Fürsorge von Staat und Kirche erwarten, sondern selbst den aufrechten Gang wagen und die Probleme der Zeit - die ja weithin die ihrigen sind - anpacken.
Demokratie als Herrschaftsform wird sich dabei im Sinne der Bürgergesellschaft nicht so sehr als aktivierender, sondern weitaus entschiedener noch als ermöglichender Staat begreifen müssen, der Strukturen und Anreize schafft, damit menschenwürdiges Leben in Freiheit, Gleichheit und Solidarität sich entfalten, das heißt, von den Einzelnen zusammen mit anderen selbstverantwortlich gestaltet werden kann.
Demokratie heißt "Miteinander"
Demokratie als Gesellschaftsform fordert ferner einen Wechsel der Perspektive vom einstigen "Oben und Unten" zu einem horizontalen Neben- und Miteinander mit einem verstärkten Willen zu Eigeninitiativen und einer ausgeprägten Bereitschaft zu sozialer (Mit-)Verantwortung. Dies verlangt die Anerkennung und Praktizierung einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller sozialrelevanten Leistungen und des jeweils spezifischen Leistungsvermögens aller Gesellschaftsmitglieder - das heißt im Letzten nicht nur eine bloße Zubilligung von Bürgerrechten (und -pflichten), sondern auch die umfassende Respektierung von Menschenrechten und ein entschiedenes Eintreten für sie.6 Damit gilt aber auch, dass Menschenwürde und Menschenrechte unteilbar sind. Mit dieser gegenseitigen Anerkennung und Wertschätzung aller individuellen Fähigkeiten, ihrem Einbringen beziehungsweise auch In-die-Pflicht-nehmen-Lassen wachsen persönliches und soziales Vertrauen sowie das Gefühl des Dazugehörens. Dies stärkt seinerseits das den Gemeinsinn fördernde Potenzial sowie die Bereitschaft, individuelles Sozialkapital in sich selbst organisierenden Gruppen bis hin zur staatlichen Gemeinschaft zu investieren.
Auf jene Grundstrukturen und Handlungsmaximen, die auf der Menschenwürde sowie auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität basieren, ist Demokratie als Lebensform entscheidend angewiesen. Sie fördern auch das Selbstbewusstsein mündiger, eigen- und sozialverantwortlicher Bürger(innen) in ihre Kompetenzen und den ihnen obliegenden Aufgaben. Dadurch weiten Menschen ihren Blickwinkel von der alleinigen Sorge um ihre persönlichen Angelegenheiten, das heißt von Menschen, die man in der Antike als "Idiotes" (Privatiers) bezeichnete, hin zu Bürger(inne)n, die sich für und innerhalb des Gemeinwesens engagieren, weshalb man sie als "Polites" (das Gemeinwohl mitbedenkende und mitgestaltende Menschen) achtete.
Anmerkungen
1. Schmälzle, Udo F.: Vom Fall zum Raum - Einsichten aus den vier sozialraumorientierten Projekten der verbandlichen Caritas und Gemeindepastoral. In: Baldas, Eugen: Community organizing. Menschen gestalten ihren Sozialraum. Freiburg : Lambertus, 2010, S. 210 ff.
2. Keupp, Heiner: Vision der Zivilgesellschaft. Vortrag im Rahmen der Tagung "Kultur und Bürgergesellschaft" in der Evangelischen Akademie Tutzing, 23./25. Februar 2007; zit.n.: www.wir-fuer-uns.de/landesnetzwerk/tutzing_keupp_buergergesellschaft.pdf (Stand: 19. April 2011; 35 Seiten).
3. Gorschenek, Günter (Hrsg.): Grundwerte in Staat und Gesellschaft. Mit Beiträgen von Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Werner Maihofer, u.a. München : Beck, 1977.
4. Schmidt, Helmut in: Gorschenek, Günter (Hrsg.), ebd., S. 22.
5. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Kants gesammelte Schriften. Preussische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Band VIII. Berlin/Leipzig, (1912) 1923 - Photomechanischer Nachdruck 1969, S. 33-42.
6. Oberndörfer, Dieter: Die offene Republik : Zur Zukunft Deutschlands und Europas. Freiburg i. Br. : Herder, 1991.