Erste Perspektive nach "Land unter" in Kolumbien
Die Flut hat Carmen Zapatero gleich zweimal vertrieben. "Zuerst kamen wir im Haus einer Cousine unter, doch danach wurde auch dieses überschwemmt", erzählt sie. Nun lebt die Frau mit ihrer fünfköpfigen Familie in einer kleinen Plastikhütte auf einem Sportplatz. Das Gelände gehört zu einem vom Militär organisierten Flüchtlingscamp in der Kleinstadt Manatí im Hinterland der kolumbianischen Karibikregion. Carmen Zapatero sitzt draußen, denn in der Hütte hält man die Hitze kaum aus. Ihr Mann arbeitete in der Landwirtschaft, doch nun ist er arbeitslos: Auch die Felder, auf denen er tätig war, stehen unter Wasser. Insgesamt sind in dem Gebiet rund 400.000 Quadratkilometer überflutet. Die heftigen Regenfälle im Dezember haben zur schwersten Überschwemmung in der Geschichte des südamerikanischen Landes geführt. Über zwei Millionen Menschen in mehr als 700 Städten und Gemeinden haben nach Regierungsangaben ihr Zuhause verloren.
Leben unter Plastikplanen
Das Hinterland der Karibikregion ist das am stärksten betroffene Gebiet. Viele, die Haus, Hab und Gut verloren haben, sind wie Carmen Zapatero zunächst zu Familienangehörigen geflüchtet. Zahlreiche von der Flut vertriebene Menschen leben derzeit in Notunterkünften wie Schulen, Turnhallen oder Kirchen. Wie die Zapateros hat sich ein Großteil der Flüchtlinge selber mit Plastikplanen, Blech und Holz auf einfachste Art ein Dach über dem Kopf zusammengeschustert - und ist ansonsten auf Hilfe angewiesen. Einheimische Caritasmitarbeiter(innen) und zahlreiche Freiwillige aus Pfarreien bringen ihnen das Nötigste zum Leben. "Wir haben Essen und Kleider bekommen", zeigt sich Carmen Zapatero dafür dankbar. Andere erhielten und erhalten unter anderem auch Hygieneartikel, Matratzen, Decken, Kochutensilien und Geschirr, Spielzeug sowie Windeln und Milch für Babys - finanziert vom Auswärtigen Amt sowie aus Caritas-Spendenmitteln.
"Nach wie vor steht die Nothilfe im Vordergrund. Gleichzeitig suchen wir inzwischen aber auch verstärkt Möglichkeiten, um weitergehend zu helfen, vor allem mit vorläufigen kleinen Wohnhäusern", erklärt Friedrich Kircher, der für Caritas international - das Auslands-Hilfswerk der deutschen Caritas - als Projektberater tätig ist. Gut 1000 kleine Fertighäuser werden Flutopfer nun in Eigenarbeit unter Anleitung von Experten der kolumbianischen Caritas in der Karibikregion errichten. Die Caritas hat eine Vorreiterrolle bei dieser Form der Hilfe.
Wegen der verheerenden Notlage soll die Hilfe schnell vor sich gehen. Doch ebenso wichtig ist es der Caritas, dass dabei Standards eingehalten werden, die ein Mindestmaß an menschenwürdigem Leben gewährleisten. "Das Konzept der Regierung sah vor, dass das Militär vorübergehend Plastikzelte aufstellt. Wir wollen, dass die Menschen in Selbsthilfe aktiv werden und dass die von ihnen errichteten Häuser Privatleben ermöglichen: nicht zuletzt auch, um Konflikten und sexuellem Missbrauch vorzubeugen. Ferner ist damit zu rechnen, dass die Flutopfer in diesen verbesserten Notunterkünften viele Monate lang, vielleicht bis zu einem Jahr oder sogar länger leben müssen, bis eine langfristige Lösung gefunden wird", so Friedrich Kircher. Die Bürgermeisterin von Manatí, Silvia Pérez, stimmt dem zu: "Es hat keinen Zweck, dass die Betroffenen in eine ähnlich miserable Lage umgesiedelt werden wie die, in der sie sich derzeit befinden."
Menschenwürdiges Wohnen und Selbsthilfe fördern
Die von der Caritas vorgesehenen 18-Quadratmeter-Häuschen haben feste Wände, einen Zementfußboden, Fenster und Türen, sie sind in zwei Räume aufteilbar und verfügen über einen Luftschacht für den Hitzeausgleich. Carmen Zapatero und ihre Nachbarn in Manatí könnten das Glück haben, bereits in Kürze in ein solches temporäres Haus umziehen zu können. Denn in ihrem Ort werden die ersten 150 Häuser dieser Art, finanziert aus EU-Geldern und Eigenmitteln von Caritas international, entstehen. Die Caritas legt dabei Wert darauf, dass es nicht nur beim Häuserbau bleibt. "Notunterkünfte sollen nicht nur einfach ein rein physischer Raum sein", sagt Rafael Portacio, Umweltexperte der Caritas der Erzdiözese Barranquilla, unter deren Federführung das Wohnungsbauprojekt in Manatí steht. Es geht auch darum, dass die Menschen gemeinsam neuen Lebensmut entwickeln und bereits in der Phase der Notunterkunft Schritte gehen, die sie langfristig weiterbringen. "Indem viele selbst ihre Häuser errichten, lernen sie beispielsweise, wie Elektrizität funktioniert und ermöglicht wird. Diese Kenntnisse helfen ihnen auch später, wenn sie wieder ein richtiges Haus haben", nennt die Caritasdirektorin der Erzdiözese Barranquilla, Schwester Rosa Arouna, ein Beispiel.
Frauen in den Unterkünften will die Caritas dafür gewinnen, gemeinsam die Betreuung verwahrlosender Kinder und das Kochen in Suppenküchen in die Hand zu nehmen. So soll die Gemeinschaft gestärkt, aber auch Gefahren vorgebeugt werden. Denn derzeit nutzen viele Flüchtlinge einfach auf eigene Faust errichtete Holz-Feuerstellen. Ein Übergreifen von Flammen auf die Plastikhütten hätte verheerende Folgen.
Wohl jedes dritte überflutete Haus ist verloren
Während viele Flutopfer in Manatí auf bessere Notunterkünfte hoffen, streben zahlreiche Menschen in der einige Kilometer entfernten Ortschaft Campo de la Cruz an, möglichst bald in ihre überschwemmten Häuser zurückzukehren. In diesen haben derzeit mitunter Schlangen und Krokodile ein neues Zuhause gefunden. "Das ist meine Heimat und hier möchte ich bleiben", sagt Luz Marina Meriño, die in Campo de la Cruz ein Haus hat. Wie viele andere hat sie sich derzeit einfach eine Plastikhütte am Rande der neben dem Dorf höher liegenden Straße errichtet. Zwischen und hinter den Hütten türmen sich Müllberge, die schnell zu Infektionen insbesondere bei Kindern führen können. Manche Flüchtlinge leiden unter Hautausschlägen und Atemproblemen. Für Friedrich Kircher ist es verständlich, dass die Menschen schnell wieder in ihre alten Häuser ziehen möchten. Doch er warnt Betroffene davor, dies überstürzt zu tun. "Die Häuser müssen saniert werden, und viele werden sicherlich auch nicht mehr bewohnbar sein." Er geht davon aus, dass von über 316.000 Häusern, welche die Regierung in ganz Kolumbien als lediglich beschädigt registriert hat, rund 100.000 nicht mehr genutzt werden können. "Es müssen schnell Studien durchgeführt werden, die ein genaues Bild vom Zustand der Häuser ermöglichen", fordert Kircher.
Ob langfristig die Rückkehr ins bisherige Haus oder der Einzug in ein neues an einem anderen Ort: Fest steht, dass Tausende Flüchtlinge zunächst eine vorübergehende Bleibe für längere Zeit benötigen. Mit Caritas Kolumbien hat Friedrich Kircher ein Modell entwickelt, das zugleich Bedingungen der Technik wie der Menschenwürde erfüllt - und damit für die Wohnungslosenhilfe zugunsten der Flutopfer in nächster Zeit richtungsweisend sein kann.
Der Erzbischof von Barranquilla, Jairo Jaramillo Monsalve, bittet darum, die Caritasarbeit für die Überschwemmungsopfer in Kolumbien zu unterstützen - auch oder gerade weil die Flutkatastrophe in diesem Land von der internationalen Öffentlichkeit nur wenig wahrgenommen worden ist.