Aus Tradition wird Inklusion: Hier feiern wirklich alle mit
Laute Jubelschreie, hochgerissene Arme und sogar tränenfeuchte Augen - so emotional geht es zu, wenn Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam Schützenfest feiern und gerade den frischgebackenen König hochleben lassen. Beim Caritasverband Brilon hat das gemeinsame Schützenfest Tradition: Bereits seit 1979 wird in zweijährigem Turnus mitgefiebert, wenn auf den Birnenvogel geschossen wird. Schon lange vor dem Schützenfest der Menschen mit Behinderung werden Kleider anprobiert, Schärpen gereinigt, Anzüge angepasst und die Königskette aufpoliert. Die Aufregung in den Werkstätten und Wohnhäusern wächst mit jedem Tag, an dem das Hochfest näherrückt. "Mache ich alles richtig?", fragen sich die Neumitglieder in der St.-Erhard-Schützenbruderschaft des Caritasverbandes. "Werde ich beim Festzug auch wirklich schön aussehen?", fragen sich die Hofdamen. Kurz vor Festbeginn geht es zu wie im Taubenschlag. Die Mitarbeitenden in den Einrichtungen haben nicht nur alle Hände voll zu tun, sondern fiebern auch jedes Mal mit! Der Caritasverband Brilon bietet mit seinen fünf Wohnhäusern in Brilon derzeit rund 150 Menschen mit geistigen, körperlichen, seelischen, psychischen und mehrfachen Behinderungen ein Zuhause. Rund 40 behinderte Menschen wohnen ambulant betreut. In den fünf Werkstätten in Brilon und dem benachbarten Marsberg finden aktuell 650 Beschäftigte Teilhabe und Förderung zum und im Arbeitsleben. Die Mehrheit von ihnen ist begeistert dabei, wenn das Schützenfest ansteht. Dieses hat sich zum festen Bestandteil des örtlichen Veranstaltungskalenders gemausert - mit großem Zuspruch der Bevölkerung.
Großer Festzug zum Rathaus
Diese säumt in großer Zahl die Straßen, wenn sich der wahrhaft farbenfrohe Schützenzug auf den Weg zum Rathaus macht. Dort nehmen die Majestäten - beim Caritasverband sogar zwei Königspaare - auf der Rathaustreppe die Parade der Vorbeimarschierenden ab. Und auch deren Zahl ist groß: Abordnungen von Schützenvereinen samt eigenem Königspaar wechseln sich mit den St.-Erhard-Schützen und Lokalprominenz aus Politik und Kirche ab. Und weil mit Musik alles viel besser geht, sind jedes Mal rund ein halbes Dutzend Musikvereine und Spielmannszüge dabei. Im Grunde ist dieses Schützenfest nicht zu unterscheiden von jedem anderen. Die Majestäten winken ihrem Schützenvolk zu, Königin und Hofdamen streichen noch mal ihre Kleider glatt, die Schützen nehmen Haltung an.
Nur strahlende Gesichter
Ihnen gemeinsam ist ein strahlendes Lachen im Gesicht - erwidert von allen, die sich extra an diesem Tag für sie auf den Weg gemacht haben. Und dieses Lachen und diese Freude sind unabhängig von Beeinträchtigungen oder Behinderungen. Jeder ist nach seinen Kräften und Fähigkeiten dabei und wird von den anderen mitgetragen - manchmal sogar wortwörtlich. Dass das Fest stattfinden kann und immer wieder ein Erfolg wird, liegt besonders an den Ehrenamtlichen: angefangen bei den Damen der Caritaskonferenzen und Frauengemeinschaften, die Kuchen und Kaffee spenden, über die Musikvereine, die Jugendverbände, den Pfarrgemeinderat bis hin zum Stadtschützenverband, dessen Mitglieder beim Vogelschießen für einen reibungslosen Ablauf sorgen. Alle haben sie das Caritas-Schützenfest fest eingeplant. Bedeutet doch auch für sie dieser Tag nicht nur Vorbereitung und Arbeit, sondern auch Begeisterung und zum Teil überschäumende Lebensfreude.
Womit wir wieder beim frischgebackenen König wären, der mit dem Abschuss der letzten Glühbirne den Schützenvogel "erlegt" hat. War es bereits fast unerträglich spannend, bis der neue König feststand, beginnen nun die wohl aufregendsten Minuten des Tages. Gratulanten belagern die neue Majestät, die nun Ausschau nach einer Königin halten muss. Sagt die Auserwählte wirklich Ja? Noch mal Hochspannung, während der König von einigen Briloner Schützen geschultert in die Festhalle getragen wird. Und auch die Königin an seiner Seite ist nun gefunden. Es geht zur feierlichen Proklamation, Fotos werden geschossen, das Schützenvolk - eine bunte Mischung aus Menschen verschiedenen Alters, Geschlechts und manche eben auch mit einer Behinderung - lässt die Majestäten hochleben! Ebenso bejubelt wird das zweite Königspaar an diesem Tag: Jene Caritas-Schützen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht an den Schießstand können, messen sich beim parallel stattfindenden Kegeln. Auch hier fiebern wieder zahlreiche Schaulustige mit, wer als Sieger vom Platz gehen wird. Und auch hier ist die Spannung und Aufregung groß, wen derjenige zu seiner Königin erwählen wird.
Bürger helfen tatkräftig mit
Ähnlich "royal" geht es zu, wenn - auch alle zwei Jahre - die große Karnevalssitzung der Caritas-Wohnhäuser stattfindet. Zwar ist es kein König, sondern in karnevalistischer Tradition ein Prinz, der hier mit seiner Prinzessin den Ton angibt, doch ist auch hier Hochspannung angesagt, wenn der Termin sich nähert. Gefeiert wird traditionell in der Schützenhalle Scharfenberg. Auch dieses Fest ist seit rund 20 Jahren fester Programmpunkt - beim Caritasverband Brilon wie bei der Scharfenberger und Briloner Bevölkerung. Diese engagiert sich als Helfer hinter den Kulissen, als Musiker in den verschiedenen Musikkapellen und auch als Tanzgarde und Showballett. Wie selbstverständlich schlagen die Funkenmariechen ihre Räder und animiert das Tambourcorps sein Publikum zum Schunkeln. Mit oder ohne Behinderung: Jeder ist gleichermaßen angesprochen, mitzufeiern. Hier fällt nur der aus der Reihe, der nicht kostümiert ist oder keine Feierlaune mitgebracht hat.
Eine Karnevalssitzung bedeutet wochenlange Arbeit für die Mitarbeitenden der Wohnhäuser und Werkstätten, die Mischung aus Witz, Kostümen und Show erfordert viel Herzblut. Ihre Motivation ist der Spaß und die Freude, die die Bewohner(innen) dabei haben. Die es lieben, sich als Biene Maja, Cowboy oder Schlumpf zu kostümieren, das Gesicht zu bemalen und zu den Takten eines Stimmungshits auf der Bühne ihr Bestes zu geben.
Wer ist hier eigentlich behindert?
Es gab und gibt Menschen, die das närrische Fest als herabwürdigend für die Menschen mit Behinderung sehen. Diese würden hier zur Schau gestellt, ihre zum Teil offensichtlichen Beeinträchtigungen durch Kostümierung noch verstärkt, heißt es da. Die das sagen, entlarven sich schnell selbst als diskriminierend. Sicher hat niemand von ihnen einmal selbst mitgefeiert, wenn in der Schützenhalle unter der Sitzungspräsidentschaft des Briloner Bürgermeisters der Elferrat einmarschiert. Erst auf den zweiten Blick ist dann zu erkennen, wer Mitarbeiter(in) und wer Bewohner(in) ist. Und auch im Publikum sitzen Clowns und Prinzessinnen mit und ohne Behinderung bunt gemischt. Es wird gelacht, geklatscht und angestoßen. Für die Scharfenberger Bürger(innen) gehört der Caritas-Karneval zu den vertrauten und geselligen Festen: Und so gebührt dem Eisbären-Tanz der Caritas-Bewohner(innen) der gleiche ausgelassene und anerkennende Beifall wie der Showtanzgruppe der Mädchen aus dem Ort. Dass alle Menschen in ihrer Verschiedenheit letztendlich gleich und vor allem gleichwertig sind, kann man hier besonders gut erfahren!