Zwischen den Systemen: Kinder mit psychischen Störungen
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit psychischen Störungen in Einrichtungen der Jugendhilfe ist hoch. Dies wird durch nationale und internationale Studien belegt. In der sogenannten Ulmer Heimkinderstudie von Nützel et al.1 wurden knapp 700 Kinder und Jugendliche aus 20 südwestdeutschen Jugendhilfeeinrichtungen untersucht. 57 Prozent erfüllten die Kriterien mindestens einer ICD-10-Diagnose (internationale Klassifikation der Krankheiten). Oder anders ausgedrückt: Mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen in den stationären Einrichtungen hatten mindestens eine definierte psychische Störung. Am häufigsten waren die externalisierten, nach außen gerichteten Störungsgruppen, die hyperkinetischen Störungen oder Störungen des Sozialverhaltens. Aber auch Angststörungen und depressive Entwicklungen fanden sich nicht selten in dieser Klientel.
Studien belegen nicht nur den Bedarf kinder- und jugendpsychiatrischer Fachkompetenz in den Einrichtungen der Jugendhilfe, sondern auch den hohen Bedarf von Jugendhilfeanschlussmaßnahmen nach kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungen. Die Analyse der Patienten über fünf Jahre, die in der kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätsklinik Würzburg behandelt wurden, zeigt, dass bei knapp 50 Prozent aller Patienten der Bedarf einer Jugendhilfemaßnahme im Anschluss an die Behandlung festgestellt wurde. Bei einem Viertel aller Kinder und Jugendlichen wurde diese direkt in die Wege geleitet. Meist ist sie in stationärer Form nötig. Es besteht somit Kooperationsbedarf zwischen Gesundheitshilfe und Jugendhilfe. Beide Systeme müssen ihren Auftrag als gemeinsame Aufgabe in der psychosozialen Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen definieren.
§ 35a SGB VIII als rechtliche Grundlage
Die sozialrechtliche Grundlage für diesen gemeinsamen Auftrag bildet der § 35a SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz). Mit der Einführung des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes Anfang der 1990er Jahre wechselte die Zuständigkeit für die Kinder und Jugendlichen mit einer (drohenden) seelischen Behinderung von der überörtlichen Sozialhilfe in den Bereich der Jugendhilfe. Damit wurden, wie Reinhard Wiesner, Vater des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, es ausdrückt, "Ärzte und Sozialpädagogen zur Zusammenarbeit verdammt".
Der § 35a SGB VIII, Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohten Kinder und Jugendlichen definiert ein zweigliedriges Vorgehen zur Klärung der Voraussetzungen für die Hilfe. In einem ersten Schritt ist festzustellen, ob eine psychische Störung auf der Grundlage des ICD 10 vorliegt. Zudem ist zu prüfen, ob aufgrund dieser Störung die seelische Gesundheit länger als sechs Monate vom für das Lebensalter typischen Zustand abweicht oder eine solche Abweichung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Diese Einschätzung erfolgt durch Kinder- und Jugendpsychiater, Kinder- und Jugendlichentherapeuten oder in diesem Feld erfahrene Ärzte und psychologische Psychotherapeuten auf der Grundlage des ICD 10. In einem zweiten Schritt ist die Teilhabebeeinträchtigung zu definieren, die durch die Störung zu erwarten ist. Dies ist Aufgabe der Jugendhilfe.
Die Kosten sind gestiegen
Zuständigkeits- und Definitionsfragen haben besonders in den Anfangsjahren des Kinder- und Jugendhilfegesetzes für Konfliktstoff gesorgt. Der § 35a und die daraus resultierende Eingliederungshilfe wurden immer wieder als Kostentreiber angeprangert. Richtig ist, dass die finanziellen Aufwendungen für Leistungen gemäß § 35 a in den letzten zehn Jahren deutlich angestiegen sind. So sind bundesweit die Gesamtausgaben für diese Hilfeform von 184 Millionen Euro im Jahr 1997 auf 531 Millionen Euro im Jahr 2007 gestiegen. Im Gesamtkonzert der Hilfen spielt diese Hilfeform allerdings nach wie vor eine eher untergeordnete Rolle. Die Eingliederungshilfe gemäß § 35a macht bundesweit lediglich 3,5 Prozent der Gesamtjugendhilfemaßnahmen aus. Hier sind allerdings enorme regionale Unterschiede zu berücksichtigen. So betrug der Anteil der Eingliederungshilfe an den Gesamthilfen 2007 zum Beispiel in Brandenburg und Bayern 6,19 Prozent, während in Thüringen lediglich 0,16 Prozent aller Hilfen auf der Rechtsgrundlage des § 35a durchgeführt wurden.
Es gibt Gründe für die Zunahme
Warum die Gruppe der Kinder und Jugendlichen, die einen gemeinsamen Versorgungsbedarf von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe haben, größer geworden ist und weiterhin wachsen wird, lässt sich nur klären, wenn man verschiedene Faktoren und Entwicklungen zusammen betrachtet. Zunächst muss man die allgemeine Häufigkeit von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter anschauen.
Nach einer Studie des Robert Koch Institutes2 haben rund 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen bis zum Erwachsenwerden psychische Auffälligkeiten, sieben bis neun Prozent in einem behandlungsbedürftigen Ausmaß. Das Robert Koch Institut spricht von einer neuen Morbidität - eine Verschiebung des Erkrankungsspektrums von eher somatischen hin zu psychischen Auffälligkeiten. Dies führt zu einem erhöhten kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsbedarf. Für den stationären Bereich bedeutet dies, dass im Anschluss an eine Behandlung - auch unter dem Aspekt verkürzter Aufenthaltszeiten in den Kliniken - häufiger eine qualifizierte Jugendhilfemaßnahme nötig wird. Ein zweiter Faktor ist, dass zunehmend familiärere Ressourcen für diese Risikogruppe wegbrechen. Das bedeutet, dass bei psychischen Störungen von Kindern und Jugendlichen, möglicherweise auch bei psychischen Störungen der Eltern, das familiäre Stützsystem nicht ausreichend die Rahmenbedingungen zur Verfügung stellt, um eine gesunde Entwicklung des Kindes sicherzustellen.
Ein weiterer Aspekt ist in den Veränderungen innerhalb des Leistungskataloges der erzieherischen Hilfen zu sehen. Die Fallzahlen bei den erzieherischen Hilfen haben sich seit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes nahezu verdoppelt. Diese Entwicklung ist jedoch nicht über alle Hilfeformen hinweg zu beobachten. Sie hat primär in den ambulanten und teilstationären Hilfen stattgefunden. Der relative Anteil der stationären Hilfen ist dagegen in den vergangenen Jahren rückläufig gewesen. Waren 1991/92 noch fast 40 Prozent aller Hilfen zur Erziehung stationäre Hilfen, betrug die Rate der stationären Hilfen an den Gesamthilfen 2007 noch 20 Prozent. Dies impliziert aber eine Erhöhung der Multiproblemfälle in der stationären Hilfe. Darüber hinaus wurden diagnostische Möglichkeiten, kinder- und jugendpsychiatrische Behandlungsansätze und psychotherapeutische Möglichkeiten erweitert und entwickelt. Auch hat sich die Sensibilität für die Problematik erhöht. Es ist davon auszugehen, dass der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen wächst, die einen gemeinsamen Versorgungs- und Behandlungsauftrag an Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe stellen - und dies trotz rückläufiger demografischer Entwicklung in dieser Altersgruppe.
Es fehlt ein gemeinsames Konzept
Grundlegend für die gemeinsame Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen über die Systeme Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe hinweg sind die Entwicklung eines gemeinsamen Selbstverständnisses und die Definition eines gemeinsamen Auftrages. Das Verschieben von einem System in das andere, in dem sich das eine als Lückenbüßer für das jeweils andere System erlebt, muss abgelöst werden. Erforderlich ist eine Sichtweise, die die gemeinsame Betreuung und Behandlung als Aufgabe sieht und die jeweiligen Möglichkeiten der einzelnen Versorgungssysteme in diesem Sinne nutzt.
Die Notwendigkeit einer kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung darf nicht als Ausdruck pädagogischen oder elterlichen Versagens, eine stationäre Aufnahme in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Rahmen einer stationären Jugendhilfe nicht als Drohszenario deklariert werden. Über die unterschiedlichen Professionen hinweg gilt es, ein gemeinsames Verständnis für die Entwicklung, Problemlagen und psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen zu finden und im Sinne eines multiprofessionellen Ansatzes unterschiedliche Behandlungselemente zusammenzuspannen.
Wie geht es weiter?
Es sind mittlerweile eine Reihe von Kooperationsmodellen zwischen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Jugendhilfe entstanden, die eine qualifizierte diagnostische, psychotherapeutische und medizinische Versorgung und Betreuung dieser Kinder und Jugendlichen ermöglichen. Dies setzt allerdings einen Qualifizierungs- und Professionalisierungsprozess in den erzieherischen Hilfen voraus. Das Wissen über Erscheinungsbilder psychischer Störungen, Grundkenntnisse psychopharmakologischer Behandlungsmöglichkeiten und Wirkungs- und Nebenwirkungsspektren von Psychopharmaka erhöhen die Handlungsmöglichkeiten im pädagogischen Rahmen. Umgekehrt müssen Mitarbeiter(innen) der Kinder- und Jugendpsychiatrie Kenntnis haben über die organisatorischen und strukturellen Rahmenbedingungen einer qualifizierten Jugendhilfeeinrichtung. Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten im Rahmen der Jugendhilfe erfordert nicht nur die Kooperation zwischen den Systemen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe, sondern wird immer nur in einem gemeinsamen Auftrag von Kinder- und Jugendpsychiatrie, öffentlicher und freier Jugendhilfe und Schule zu realisieren sein. Somit werden stationäre Jugendhilfeeinrichtungen mit integrierten Beschulungsmöglichkeiten diesen Kindern und Jugendlichen am ehesten gerecht werden. Eine Aufgabe wird also darin bestehen, Kooperationsmodelle zwischen der Kinder- und Jugendpsychiatrie, und unterschiedlichen Settings der Jugendhilfe zu entwickeln. Bestehende Modelle sind zu sichern, möglicherweise auszubauen. Dies wird wohl auch veränderte Finanzierungsmodelle nach sich ziehen.
Literatur:
1. Nützel, Jakob; Schmid, Marc; Goldbeck, Lutz; Fegert Jörg M.: Kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung von psychisch belasteten Heimkindern. Praxis der Kinderpsychologie und der Kinderpsychiatrie, 54 (2005), S. 627-644.
2. Ravens-Sieberer, Ulrike; Wille, Nora; Bettge, Susanne; Erhart, Michael: Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse aus der BELLA-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz, 50 (2007), S. 871-878.