Eine harte Nuss wurde geknackt
Der Diözesanrat in der Diözese Rottenburg-Stuttgart traf 2004 die Entscheidung, die Doppelstrukturen der Erziehungsberatung (EB) in Trägerschaft des Diözesan-Caritasverbandes (DiCV) und der Ehe-, Familien- und Lebensberatung (EFL) in Trägerschaft der Diözese abzubauen. Der Sinn der Fusion begründet sich primär darin, das Angebot für die Ratsuchenden an einer einzigen Anlaufstelle zu verbessern und zu erweitern sowie in der Zukunftssicherung dieser Aufgabe. Nachdem verschiedene Trägermodelle erarbeitet und an einzelnen Standorten die Integration modellhaft ausprobiert wurde, beschloss die Diözesanleitung im Frühjahr 2007, die Zuständigkeit für eine umfassende Integration beider Dienste der Hauptabteilung Caritas im Bischöflichen Ordinariat zu übertragen. Diese konstituierte ein dreijähriges Projekt unter externer Leitung eines selbstständigen Unternehmensberaters. Während das "Ob" einer Fusion unverrückbar von der Diözesanleitung entschieden war, ging es jetzt im Projekt um das "Wie". Während der fachliche Sinn der Integration kaum bestritten wurde, lagen vielfältige Stolpersteine und Widerstände in der strukturellen Einordnung beziehungsweise dem Verhältnis zwischen Caritas und Pastoral.
Die wissenschaftliche Evaluation wurde dem Institut für Sozialpädagogische Forschung (ism) Mainz übertragen und soll bis Jahresbeginn 2011 vorliegen. Im April 2010 wurde die erarbeitete Konzeption der "Psychologischen Familien- und Lebensberatung (PFL, vgl. dazu Ausführungen weiter unten)", des neu fusionierten Beratungsprofils in Stuttgart der diözesanen Öffentlichkeit vorgestellt und das Projekt abgeschlossen.
Klar erkennbare Verantwortlichkeit
Die Entscheidungsverantwortung im Projekt sollte erkennbar und klar positioniert sein. Deshalb bildeten Diözese und Diözesan-Caritasverband jeweils mit einer verantwortlichen Person den Lenkungsausschuss, der die Schnittstelle zur Diözese und zum Vorstand des DiCV bildete und innerhalb des Projekts gegenüber dem Projektleiter die letztverantwortliche Instanz war. Die eigentliche Arbeit wurde in zwei Projektgruppen geleistet. Dadurch war es möglich, die grundsätzlichen konzeptionellen Fragestellungen und die strukturell-organisatorischen Fragen gleichzeitig im Blick zu behalten und dennoch arbeitsmäßig zu trennen. Ohne diese projektinterne Differenzierung wäre es wohl kaum möglich gewesen, bereits im ersten Jahr nach Start der Arbeit entscheidungsreife Vorschläge zur Trägerstruktur vorzulegen. So konnte die Umstellung auf die neue Trägerstruktur bereits nach einem Drittel der Projektzeit entschieden und nach einem weiteren Drittel konkret umgesetzt werden. Möglich war diese Steuerung durch eine enge Zusammenarbeit des Lenkungsausschusses mit dem Projektleiter. Im Abstand von drei bis fünf Monaten wurden jeweils Meilensteine vereinbart. Parallel dazu wurde die Projektarbeit von einem Beirat mit Partnern aus Wissenschaft, Politik, Ökumene und Verband kritisch begleitet. Unmittelbar nach Freigabe im Lenkungsausschuss wurden die Ergebnisse in der Linienarbeit realisiert.
Wie können wir die Beratungskultur absichern?
Die Frage nach einem einheitlichen Qualitätsmanagement (QM) traf auf sehr unterschiedliche Vorstellungswelten. Während in der EFL diese Frage vor zehn Jahren unter dem Fokus "Wie können wir unsere gewachsene Beratungskultur darstellen und absichern" bearbeitet wurde und im DiCV noch keine etablierten Strukturen für ein fachübergreifendes Management von Qualitätsanliegen vorhanden waren, galt es, sich auf die Grundidee von Qualitätsmanagement zu besinnen: Welche Eigenschaften soll das Ergebnis haben? Welche Prozesse und Strukturen braucht es dafür? Und vor allem: Wie kann Lernen und Entwicklung in der Organisation befördert werden? Über die neun integrierten Standorte hinaus (überall dort, wo unmittelbar EB und EFL in einer Caritas-Region bereits vorhanden waren) wurde eine trägerübergreifende Konferenz und ein Ort der trägerübergreifenden QM-Weiterentwicklung geschaffen.
Drei Leistungsbereiche, die sich durchdringen
Ein wichtiger Schritt, um die Projektziele zu erreichen, war die Namensfindung. Mit der Festlegung auf "Psychologische Familien- und Lebensberatung" (PFL) ist es mit relativ großem Einvernehmen gelungen, eine Bezeichnung zu finden, die sowohl die Zielgruppen als auch die Arbeitsmethode konturiert. Der Anspruch, aus beiden vorhandenen Beratungsprofilen ein neues Beratungsformat zu kreieren, ohne eine der schon vorhandenen Zielgruppen aufzugeben, wurde nach vielen Anstrengungen und Diskussionen realisiert. Das gemeinsame Selbstverständnis spiegelt sich bereits in der Gliederung der Konzeption mit den drei Leistungsbereichen der PFL: Beratung, Prävention, Vernetzung und Kooperation. Diese drei Leistungsbereiche ergänzen sich nicht nur gegenseitig, sondern sie durchdringen sich auch. Das lässt sich exemplarisch nachlesen in den Handlungsmaximen der "Konzeption der Psychologischen Familien- und Lebensberatung"1 (Kapitel 4.1.3). So heißt es dort unter der Maxime Nachhaltige Wirksamkeit: "Das Anliegen der PFL ist, die Handlungsfelder Beratung, Prävention sowie Vernetzung und Kooperation so aufeinander zu beziehen, dass Ratsuchende ihre Selbstheilungskräfte nutzen." In der Konzeption wird zunächst geklärt: Wer sind wir für wen? Es werden Entscheidungen im Interesse der Klarheit zu Träger und Auftrag und zu den Zielgruppen gefällt. In Bezug auf die Zielgruppen gilt es festzuhalten, dass sich die durchgängig geäußerte Angst der EFL-Berater(innen) vor Abbau nicht refinanzierter Beratungsbereiche nicht bewahrheitet hat.
Im zweiten Kapitel wendet sich die Konzeption der Frage zu: "Was entsteht?" - hier werden die angestrebten Ergebnisse der PFL vorgestellt und die bereits genannten drei Leistungsbereiche differenziert beschrieben.
Das dritte Kapitel beantwortet, wie die PFL die Ergebnisse erreicht, also wie gearbeitet wird. Die Frage nach den Prozessen wird geklärt. Zur besseren Übersicht von Prozessstrukturen, Zuständigkeiten und Entscheidungswegen werden nun auch grafische Darstellungen der Prozesse verwendet. In diesen Darstellungen liegt viel Detailarbeit in der Konzeptionserarbeitung, die Übersicht und Transparenz für alle Beteiligten schafft. Geklärt werden innerhalb des Kernprozesses Beratung zum Beispiel die Teilprozesse Kontaktaufnahme beim Beratungsformat "Beratung in der Beratungsstelle", bei "Beratung im Sozialraum", bei "Online-Beratung" sowie bei der "Gerichtsnahen Beratung". Schließlich werden die Managementprozesse beschrieben - der operative Leitungsprozess der PFL, der strategische Steuerungsprozess und der Auswahlprozess zur Leitungsbestellung. In all diesen Prozessen lagen einige Stolpersteine und Hürden.
Unter der Fragestellung: "Womit arbeiten wir?" werden im vierten Kapitel die Strukturen geklärt. Beantwortet wird darin auch, unter welche handlungsleitende Werte, Normen und Standards die PFL gestellt wird. Was lässt uns so handeln, wie wir handeln? Hervorzuheben ist das Selbstverständnis der PFL als einem seelsorgerlichen und diakonischen Dienst, der Menschen in ihrer Handlungskompetenz unterstützt und bei der Bewältigung von Lebenskrisen im Kontext ihrer Lebensbezüge hilft. Unter den Handlungsmaximen finden sich Genderorientierung, Niedrigschwelligkeit, Migrations- und Kultursensibilität, nachhaltige Wirksamkeit und Ehrenamt/sozial engagiertes Handeln. Nicht erst mit der aktuellen Missbrauchsdebatte bedeutsam, wird in der Konzeption selbstverständlich hinterlegt: "Sie (die PFL) berät mit der Absicht, Gewalt, insbesondere sexuelle Gewalt, zu unterbinden und ihr vorzubeugen." Schließlich beantwortet die Konzeption Fragen zu der horizontalen und vertikalen trägerübergreifenden und trägerinternen Konferenzstruktur, den klassischen Fragen der Aufbauorganisation. Vorgesehen sind eine Trägerkonferenz und eine trägerübergreifende PFL-Leiter(innen)konferenz. Im Konzept fin- den sich bindende Aussagen zur Personalausstattung, zu den Professionen und deren Zusammenarbeit im Team, die Frage der Zusatzqualifikationen, definierte Aufgaben im Sekretariat und die räumliche und sächliche Ausstattung der PFL sowie Finanzierungsbestandteile und die fachliche Vernetzung auf Bundes-, Landes- und Diözesanebene. Das abschließende Kapitel beantwortet schließlich die oben schon eingeführten Fragen nach dem Messen und Entwickeln von Qualität.
Für die Zukunft aufgestellt
Echte Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen war eine grundlegende Absicht. Deshalb entschied man sich für die Projektarbeitsweise. Bereits hier trafen jedoch recht unterschiedliche Vorstellungen von Beteiligung aufeinander. Dies führte zu teilweise intensiven Debatten im Projekt, wer worüber entscheidungsbefugt sei. Basisdemokratische Ideen und Erwartungen konnten im Projekt aufgefangen und als wichtige Anliegen einbezogen werden. Die Form des Projekts ermöglichte andererseits immer wieder die konkrete Erfahrung, dass über die Qualität der Vorschläge, die dem Lenkungsausschuss zur Entscheidung vorgelegt wurden, Einfluss und Beteiligung realisiert werden konnten. Es stellte sich als entscheidend heraus, dass verschiedenste Funktionsträger von Anfang an in der Projektarbeit mitwirkten: Berater aus beiden Traditionen (EB und EFL), aber auch Fachleitungen aus dem DiCV, Regionalleiter der Caritas und Dekane. So konnten die unterschiedlichen Blickwinkel und Schwerpunktsetzungen unmittelbar erlebt und bearbeitet werden. Als Experten wurden punktuell Mitarbeitende aus dem Bischöflichen Ordinariat und aus der DiCV-Geschäftsstelle in Personal-, Finanz- und Rechtsfragen hinzugezogen.
Mit dieser insgesamt aufwendigen Arbeitsweise ist es gelungen, dass DiCV und Diözese sich gemeinsam rechtzeitig für die Zukunft neu aufgestellt haben.
Bereits die im Rahmen der Evaluation von ism Mainz erfolgten Workshops im Frühjahr 2009 bestätigten, wie stark folgende Spannungsfelder den Blick auf den Prozess dominierten: zwischen Vision und Tradition, zwischen Anerkennung und Entwertung, zwischen Gewinnern und Verlierern, zwischen Unwägbarkeit und Sicherheit, zwischen Top-down und Bottom-up. Sehr früh zeigte sich, wie unterschiedlich sich die Unternehmenskulturen in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hatten. Die EFL konnte sich im Schutz der Diözese in den letzten Jahrzehnten nach der Aufbauarbeit und der fachlichen Auseinandersetzung mit klinischer Psychologie und den therapeutischen Schulen ähnlich einem Inseldasein eher bottom-up entwickeln. Durch den Reduzierungsprozess musste sie aber schon Jahre vor dem Projekt erleben, wie ungesichert mittelfristig die Aufgabe ist. Hingegen war die EB längst den permanenten Wandel in der Organisation, die Top-down-Steuerung und die Abhängigkeit von staatlichen Finanzmitteln gewohnt. Gleichzeitig artikulierte sich die EFL-Kultur als die fachlich überlegene und in der Konzeption der Pastoral gesicherte Aufgabe. Wie stark die Dynamik zum Bewahren von Altbewährtem reicht, lässt sich auch darin ablesen, dass einer der EFL-Stellenleiter nach dem CIC (Codex Iuris Canonici), dem Gesetzbuch der katholischen Kirche, einen hierarchischen Rekurs gegen Bischof Gebhard Fürst in Rom einlegte und damit für die Diözese Rottenburg-Stuttgart einen historisch einmaligen Vorgang schaffte. Das Projekt verhindern konnte der Rekurs jedoch nicht.
Die Dynamik im Projekt bietet einen Spiegel für gleich mehrere Entwicklungslinien und Verhältnisse: die Selbst- und Fremdwahrnehmung zwischen Therapie und Sozialarbeit, die unterschiedliche Gestaltung der Führungsrolle in der Pastoral und in der Caritas und nicht zuletzt auch das Verhältnis von Seelsorge und Caritas. Immer wieder waren im Projekt Spuren dahinterliegender Entwicklungen zu erkennen: die offenen Wunden einer lange delegierten diakonischen Aufgabe, die gegenseitigen Entwertungen und vermeintliche Sicherheiten im je Eigenen.
Eine intensive Erfahrung der Beteiligten
Rückblickend wurde mit dem Projekt auf drei recht unterschiedlichen Ebenen Wirkung erzielt. Zum einen hat die Zusammenführung sowohl organisatorisch wie inhaltlich stattgefunden. Dieser Prozess wurde sorgfältig abgeschlossen. Zum Zweiten wurde mit der Konzeption ein verbindlicher Rahmen geschaffen, der in den nächsten Jahren in der weiteren Ausgestaltung eine bedeutsame Rolle spielen wird. Und nicht zuletzt war das Projekt eine intensive Erfahrung für die beteiligten Organisationen (Diözese und DiCV), für die verschiedenen Funktionsträger (Trägerverantwortliche, Dekane, Führungskräfte vor Ort, Mitarbeitervertretungen) sowie für alle Mitarbeiter(innen), wie bei einer sehr komplexen Aufgabenstellung eine echte Beteiligung und Mitwirkung in einem vorab klaren Zielrahmen organisiert und realisiert werden kann.
Anmerkung
1. Bischöfliches Ordinariat, Hauptabteilung Caritas, Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart e.V.: Konzeption der Psychologischen Familien- und Lebensberatung. Stuttgart, 2010.