Miteinander von Haupt- und Ehrenamt positiv bewertet
Um die Regelungen und die Struktur der Leitungsorgane transparenter zu machen und weitgehend zu vereinheitlichen, hat die freie Wohlfahrtspflege einen Ansatz aus profitorientierten (börsennotierten) Unternehmen aufgegriffen. Vielschichtige rechtliche, soziale und politische Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten, die in ihrer Gesamtheit Tendenzen der Rationalisierung, Ökonomisierung, Professionalisierung und Qualitätssicherung hervorgebracht haben, führten bei den Wohlfahrtsverbänden zu wachsenden Anforderungen an Führungsstrukturen und -personen. Infolgedessen wurden - insbesondere in größeren wohlfahrtsverbandlichen Einrichtungen - Modelle der Corporate Governance relevant und umgesetzt. Sie enthalten verbindliche Vorgaben für diejenigen Systeme, mit denen Organisationen geführt (Planung sowie Realisation) und überwacht werden. Auf diese Weise wurde ein Leitbild zur Organisationsführung auf Vereine und gemeinnützige GmbHs übertragen, das zuerst für börsennotierte Aktiengesellschaften konzipiert wurde. In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie diese Modernisierung der Leitungsstrukturen und der veränderte Umgang mit Risiko, Kontrolle, Eigentum sowie "Managerherrschaft" mit den besonderen zivilgesellschaftlichen Funktionen der Wohlfahrtsverbände und der traditionell starken Rolle des freiwilligen Engagements in Führungspositionen korrespondiert. Diese Frage griff das Forschungsprojekt "Bürgerschaftliches Engagement und Management" (BEM) auf, das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert wurde.1
Über 100 Führungskräfte befragt
Die Wohlfahrtsverbände wurden in einem Teilprojekt eines größeren Forschungszusammenhangs der Universitäten Dortmund und Münster (Forschungsverbund DJI/TU Dortmund; Institut für Politikwissenschaft) zum Dritten Sektor - dem gesellschaftlichen Sektor neben staatlichen Verwaltungen und profitorientierten Unternehmen - als Untersuchungsgegenstand definiert. Einbezogen wurden große wirtschaftlich tätige Nonprofit-Organisationen der freien Wohlfahrtspflege aus den sozialstaatlichen Segmenten Alten-, Behinderten-, Familien- und Jugendhilfe mit mindestens 75 beruflich tätigen Mitarbeiter(inne)n. Pro Organisation wurden zwei Führungspersonen telefonisch interviewt - jeweils eine beruflich tätige Person der Geschäftsführung und eine ehrenamtlich tätige Person aus dem Aufsichtsgremium. Zusätzlich erfolgte eine Online-Befragung zu zentralen Organisationsdaten. Die Interviewpartner(inn)en beziehungsweise die Organisationen wurden durch Initiative von Spitzenverbänden gefunden. Auf dieser Verbandsebene konnten vier Kooperationspartner gewonnen werden, die sich in "ihren Reihen" um zum Interview bereite Führungspersonen bemühten. Beteiligt haben sich der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Deutsche Caritasverband (DCV), der Verband der Diakonischen Dienstgeber (VdDD) und der Landesverband Bayern des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Aufgrund der Aktivitäten der Verbände meldeten sich insgesamt 67 Nonprofit-Organisationen, die zu einer Kooperation bereit waren. Letztlich konnten 115 Führungspersonen befragt und Eckdaten zu 54 Organisationen in die Auswertung einbezogen werden. Die Personeninterviews dauerten in der Regel rund eine halbe Stunde, so dass trotz einer relativ geringen Fallzahl eine Fülle von Daten erhoben werden konnte.
Corporate-Governance-Kodex dient als Orientierung
Wie aus den Umfrageergebnissen hervorgeht, haben die Vorleistungen der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege hinsichtlich der Entwicklung von Modellen/Leitbildern der Corporate Governance eine breite Anwendung gefunden. Mit den Modellen sollen die Organisationsführungen verantwortlich gestaltet und das Vertrauen der Öffentlichkeit (inklusive der Spender und Kreditgeber) sichergestellt werden. Fast 41 Prozent der Organisationen orientieren sich an dem Corporate-Governance-Kodex des eigenen Spitzenverbandes (vgl. Abb. 1 unten). Für 38,9 Prozent sind Leitlinien beziehungsweise Strategiepapiere des eigenen Verbandes in dieser Hinsicht richtungsweisend. Auch konkrete Corporate-Governance-Modelle anderer Organisationen innerhalb des eigenen Verbandes werden als Orientierungsgrundlage genutzt. Von dieser Option haben 13 Prozent Gebrauch gemacht. Somit erweist sich das in den Kodizes festgeschriebene beziehungsweise favorisierte Trennungsmodell - in Gegenüberstellung zu dem "Board-Modell", das Geschäftsführung und Kontrolle vereinigt - als das vorherrschende Governance-Leitbild bei den Nonprofit-Organisationen der Verbände. Die mit dem Trennungsmodell verbundene Idee einer Unabhängigkeit von Geschäftsführung und Kontrolle/Aufsicht beziehungsweise einer strikten Trennung der Verantwortungsbereiche von beruflichen und ehrenamtlichen Führungskräften findet sich allerdings (noch) nicht durchgängig verwirklicht: In fast einem Viertel der Geschäftsführungen sind auch ehrenamtliche Führungspersonen tätig. In fast einem Fünftel der Organisationen gehören auch stimmberechtigte Personen aus der Geschäftsführung zu dem Aufsichtsgremium.
Frauen sind in Führungspositionen unterrepräsentiert
Sowohl in den Geschäftsführungs- als auch in den Aufsichtsgremien sind Frauen unterrepräsentiert. Dies war zu erwarten - hat doch die Ehrenamtsforschung mehrere empirische Belege für diese Tatsache hervorgebracht. So stellte beispielsweise auch eine Untersuchung innerhalb der verbandlichen Caritas2 fest, dass sich von allen Frauen in einem Ehrenamt neun Prozent in Führungsgremien engagieren, während der entsprechende Prozentsatz für Männer bei 29 Prozent liegt. Auf der Basis der BEM-Untersuchung beläuft sich der Frauenanteil in den Führungsgremien auf annähernd 27 Prozent und liegt in den ehrenamtlich dominierten Aufsichtsgremien um 2,5 Prozentpunkte höher als in den Geschäftsführungen. Für die Geschäftsführungen bestätigt sich ein Zusammenhang, der sich auch im Bereich der großen Profit-Unternehmen belegen lässt: Je größer die Organisation, desto geringer fällt die Frauenquote in dem Führungsgremium aus.
Führungskräfte über persönliche Ansprache rekrutiert
Die "typische" beruflich tätige Führungskraft der Wohlfahrtsverbände in den untersuchten Arbeitsfeldern unterscheidet sich mit Blick auf zentrale Merkmale des Sozialprofils kaum von hauptberuflichen Führungskräften des Dritten Sektors insgesamt. So sind fast acht von zehn Führungspersonen verheiratet und ebenso viele haben Kinder. Die Quote derjenigen, die ein Hochschul- oder Fachhochschulstudium erfolgreich absolviert haben, liegt bei rund 94 Prozent. Die Führungspersonen wurden zumeist über persönliche Ansprachen und nicht über öffentliche Ausschreibungen rekrutiert. Die geschäftsführenden Personen sind mit ihrer Entlohnung relativ zufrieden und befinden sich nur äußerst selten auf der Suche nach einer Tätigkeit mit besserer Bezahlung. Diese Aussagen sind vor dem Hintergrund zu bewerten, dass von einer vergleichsweise hohen zeitlichen Arbeitsbelastung auszugehen ist. 47 Prozent gaben an, dass sie in der Regel in der Woche 55 Stunden und mehr arbeiten. Im Zeitraum der nächsten fünf Jahre rechnen rund 92 Prozent nicht mit einem Stellenwechsel (vgl. Abb. 2 unten). Dennoch scheint für eine Minderheit ein Wechsel durchaus attraktiv. Jede achte Führungsperson (12,5 Prozent) kann sich einen Wechsel in eine andere gemeinnützige Organisation vorstellen; für etwa elf Prozent erscheint auch ein Wechsel in eine höhere Position beziehungsweise in einen anderen Tätigkeitsbereich innerhalb der jetzigen Organisation erstrebenswert. Allerdings kann sich niemand der Befragten vorstellen, in Zukunft in einem Unternehmen der Privatwirtschaft tätig zu sein.
Der ehrenamtlich geleisteten Arbeit in den Aufsichtsgremien werden etliche Funktionen zugeschrieben - etwa hinsichtlich der Mitwirkung bei wichtigen Entscheidungen der Geschäftsführung, bezüglich der Berücksichtigung einer wertorientierten Perspektive und der Interessen der Mitglieder beziehungsweise Gesellschafter. Die Zusammenarbeit zwischen den beruflich und den ehrenamtlich tätigen Führungspersonen wird insgesamt von beiden Gruppen übereinstimmend positiv bewertet. Auf einer fünfstufigen Skala, bei der der Wert "1" für eine sehr gute und der Wert "5" für eine sehr schlechte Zusammenarbeit steht, ergeben sich aus den Einschätzungen der beruflichen und der ehrenamtlichen Führungspersonen jeweils Mittelwerte um 1,5. Vereinzelt werden allerdings auch Differenzen in der Wahrnehmung der Aufgabenverteilung und der Probleme in der Zusammenarbeit deutlich. Das Ehrenamt insgesamt wird von den Führungskräften vor allem als Ausdruck der zivilgesellschaftlichen Funktion verstanden und in seiner Unterstützungsfunktion für die Fachkräfte gesehen. So gut wie keine Zustimmung finden Aussagen, nach denen das Ehrenamt sich störend auf Arbeitsprozesse auswirkt oder als Konkurrenz für die Fachkräfte verstanden wird.
Befragte Caritas-Organisationen expandieren
Neben der Arbeiterwohlfahrt hat sich vor allem die Caritas an dem Forschungsprojekt beteiligt - annähernd ein Drittel der befragten Führungspersonen ist in Einrichtungen der Caritas tätig. Dabei stellen die Caritas-Organisationen zwar nicht die größten Einrichtungen, in der Tendenz sind sie allerdings größer als diejenigen der anderen Verbände. Fast die Hälfte der beteiligten Caritas-Organisationen beschäftigt mehr als 600 Mitarbeiter(innen), während dieser Größenordnung ansonsten etwa ein Drittel der befragten Einrichtungen zuzurechnen ist. Bei den befragten Caritas-Einrichtungen handelt es sich fast durchgängig um expandierende Organisationen. 87 Prozent der Führungskräfte geben an, dass ihr Jahresumsatz in den letzten fünf Jahren gestiegen sei; fast zwei Drittel der Einrichtungen berichten von einem sehr starken Anstieg des Arbeitsvolumens in diesem Zeitabschnitt. Mehr als drei Viertel gehen davon aus, dass auch in Zukunft der aktuelle Personalbestand beibehalten werden kann; in allen anderen Fällen wird ein Personalzuwachs erwartet. Auffällig ist, dass innerhalb der Caritas tendenziell größere Leitungsgremien anzutreffen sind als in anderen Wohlfahrtsverbänden und eine im Vergleich engere Verflechtung zwischen Geschäftsführungs- und Aufsichtsebene gegeben ist. Hinsichtlich der Funktion von Ehrenamtlichen in den Leitungsstrukturen fallen vor allem zwei Besonderheiten für die Caritas ins Auge: Bei den Antworten der Caritas-Verantwortlichen findet einerseits die Aussage, dass die Ehrenamtlichen die Interessen der Vereinsmitglieder beziehungsweise Gesellschafter vertreten, eine deutlich geringere Zustimmung. Andererseits wird klar, dass die Rolle der Ehrenamtlichen mit Führungsverantwortung - viel mehr als anderswo - in einer wertorientierten Perspektive berücksichtigt wird.
Anmerkungen
1. Geplant ist eine ausführliche Ergebnisdarstellung des Forschungsprojekts (herausgegeben von Thomas Rauschenbach und Annette Zimmer), die noch dieses Jahr im Verlag Barbara Budrich erscheinen soll.
2. Baldas, Eugen; Bangert, Christopher (Hrsg.): Ehrenamt in der Caritas. Freiburg : Lambertus Verlag, 2008.
Quelle der Grafiken Seite 15/16: Forschungsprojekt "Bürgerschaftliches Engagement und Management"