Die richtigen Zugangswege zur Zielgruppe finden
Fast ein Fünftel der Menschen in Deutschland hat einen Migrationshintergrund, knapp ein Drittel davon ist 45 Jahre oder älter.1 Daten zum Alkoholkonsum von Menschen mit Migrationshintergrund zeigen, dass sie weniger trinken als Deutsche, Alkohol allerdings insbesondere ab dem 50. Lebensjahr zu einem Problem zu werden scheint.2 Diese Daten unterstreichen die Wichtigkeit der Prävention alkoholbezogener Störungen insbesondere auch bei älteren Menschen mit Migrationshintergrund. Allerdings erreichen gerade Präventionsangebote diese Menschen nur unzureichend.
Aus diesem Grund ist es einerseits wichtig, die Suchtberatungsstellen zu sensibilisieren, dass ältere Menschen mit Migrationshintergrund als Zielgruppe für die Alkoholprävention berücksichtig werden müssen. Andererseits müssen adäquate Zugangswege zu dieser Zielgruppe gefunden werden. Dabei ist die Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen sowie den Migrationsdiensten bedeutend.3 Neben einer engeren strukturellen Kooperation zwischen den Migrationsdiensten und Suchtberatungsstellen müssen auch angemessene und spezifische Präventionsmaßnahmen entwickelt werden. Diese sollten migrationsbezogene und kulturelle Aspekte berücksichtigen und unter aktiver Einbeziehung von Menschen mit Migrationshintergrund implementiert und evaluiert werden,4 um eine bessere Akzeptanz der Angebote zu erreichen.
Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projektes „Primärprävention alkoholbezogener Störungen bei älteren Migrantinnen und Migranten – Entwicklung und Evaluation eines transkulturellen Präventionskonzeptes“5 wurden daher von der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg in Kooperation mit dem Deutschen Caritasverband und dem Arbeiterwohlfahrt Bundesverband ein strukturiertes transkulturelles Konzept für Präventionsveranstaltungen sowie muttersprachliche Materialien für Menschen mit Migrationshintergrund entwickelt und evaluiert.
Insgesamt konnten sieben Standorte für die Studie gewonnen werden. Die Mitarbeiter(innen) der Suchtberatungsstellen und Migrationsdienste der Interventionsstandorte (Delmenhorst, Köln, Krefeld, und Saarlouis), also der Standorte, wo das speziell für Menschen mit Migrationshintergrund entwickelte Präventionskonzept getestet werden sollte, wurden gemeinsam fortgebildet. Die anschließenden Präventionsveranstaltungen nach dem neu entwickelten transkulturellen Konzept zeichneten sich durch spezifische Materialien, gemeinsame Durchführung durch Sucht- und Migrationsdienste und die Ausgabe von muttersprachlichen Informationsbroschüren aus. Die Mitarbeiter(innen) der Kontrollstandorte (Frankfurt, Konstanz und Osnabrück) boten allgemeine Präventionsveranstaltungen mit Informationsmaterial der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) an.
Migranten und Mitarbeiter bewerten das Konzept
Evaluiert wurde auf zwei Ebenen: Auf der Ebene der an den Veranstaltungen teilnehmenden Migrant(inn)en wurden Wissen und Einstellungen zum Thema Alkohol, Verhaltensänderungen in Bezug auf den Alkoholkonsum sowie Zufriedenheit mit den Veranstaltungen erhoben. Die Daten wurden vor den Veranstaltungen, direkt nach den Veranstaltungen und sechs Monate später erfasst. Auf Ebene der Mitarbeiter(innen) wurden Durchführung, Akzeptanz, Nützlichkeit und Angemessenheit des Konzeptes für die Regelversorgung nach den Veranstaltungen per Fragebogen und im Rahmen eines Reflexionstreffens erfasst.
An den Interventionsstandorten gab es sieben Veranstaltungen mit insgesamt 248 Teilnehmer(inne)n, an den Kontrollstandorten sieben Veranstaltungen mit insgesamt 95 Teilnehmer(inne)n. In beiden Gruppen wurden überwiegend türkisch- und russischsprachige Migrant(inn)en erreicht. Der Zugang zu den Zielgruppen wurde über die Migrationsdienste, Migrantenorganisationen, Schlüsselpersonen und/oder bestehende Gruppen/Kurse gesucht. Eingeladen wurde über Mundpropaganda und/oder schriftlich. In beiden Gruppen wurden sowohl Einzelveranstaltungen als auch in bestehende Gruppen eingebundene Veranstaltungen angeboten. Es gab jeweils, wie in dem Konzept vorgesehen, Veranstaltungen auf Deutsch, aber auch in der Muttersprache.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Gruppen bestand darin, dass die Veranstaltungen der Interventionsgruppe immer gemeinsam von mindestens einem Mitarbeitenden aus der Suchtberatungsstelle und aus dem Migrationsdienst des jeweiligen Standortes durchgeführt wurden. In der Kontrollgruppe dagegen wurden auch vier Veranstaltungen von nur einem Beratungsdienst (Sucht oder Migration) angeboten. Die Veranstaltungen dauerten in der Interventionsgruppe im Mittel etwa 45 Minuten länger als in der Kontrollgruppe.
Bei der Nutzen-Aufwand-Bewertung zeigte sich, dass die Kontrollgruppe den Aufwand für die Gewinnung der Teilnehmer(innen) höher einschätzte, der Nutzen wurde hingegen in der Interventionsgruppe im Vergleich zum Aufwand höher eingeschätzt. Die Interventionsgruppe bewertete auch die Akzeptanz der Veranstaltung bei den Teilnehmer(inne)n etwas höher. Am höchsten wurde in beiden Gruppen der Nutzen für die Kooperation zwischen Suchtberatungsstellen und Migrationsdiensten eingeschätzt, in der Interventionsgruppe etwas höher als in der Kontrollgruppe. Auf der Ebene der Mitarbeiter(innen) wurden die transkulturellen im Vergleich zu den allgemeinen Präventionsveranstaltungen tendenziell besser bewertet. Die Auswertungen auf der Ebene der teilnehmenden Migrant(inn)en stehen noch aus.
Die Evaluation auf Mitarbeiterebene lieferte bereits wichtige Hinweise, auf deren Grundlage das Konzept und die Materialien nochmals überarbeitet werden. Grundsätzlich ist nicht nur die Entwicklung und Evaluation von Konzepten für eine bessere Versorgung von Bedeutung, sondern vor allem auch der Transfer in die Praxis und die Sicherung der Nachhaltigkeit. Im Folgenden werden die für eine nachhaltige Umsetzung erforderlichen Bedingungen zusammengefasst, die sich im Rahmen des Projektes herauskristallisiert haben.
Alkoholprävention in die tägliche Arbeit integrieren
Alkoholprävention bei älteren Migrant(inn)en ist ein neues Aufgabenfeld für Suchtberatungsstellen. Um diese Aufgabe bewältigen zu können, müssen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden und sie muss ein integraler Bestandteil der alltäglichen Arbeit werden. Darüber hinaus muss sich das ganze Team damit befassen und sich austauschen. Es darf nicht einfach ein(e) Mitarbeiter(in) der Einrichtung, meist mit Migrationshintergrund, zuständig erklärt werden. Menschen mit Migrationshintergrund sollten dort aufgesucht werden, wo sie leben, arbeiten und wohnen. Es könnten zum Beispiel Sprechstunden zur Suchtberatung in den Räumlichkeiten der Migrationsdienste, Stadtteilzentren oder Kulturvereine eingerichtet werden. Interkulturelle Kompetenz muss aber auch ein integraler Bestandteil von Aus- und Weiterbildungen sein.
Zugang zur Zielgruppe finden
Primär geht es nicht um die Frage, wie die Zielgruppe Zugang zu Hilfeangeboten finden kann, sondern wie Einrichtungen Zugang zu dieser Zielgruppe bekommen können. Neben Migrationsdiensten, die über ihre Gruppenangebote wie Sprachkurse oder Integrationskurse eher Zugang zur Zielgruppe als Suchtberatungsstellen haben, sind Migrantenorganisationen und Schlüsselpersonen weitere wichtige Zugangswege. Muttersprachliche Ärztinnen und Ärzte, aber auch interkulturelle Zentren, religiöse Gemeinschaften, Gewerkschaften in Betrieben, Schuldnerberatungsstellen oder Allgemeine Sozialdienste könnten ebenfalls als Zugangsmöglichkeiten dienen. Grundsätzlich geht es auch um eine bessere Vernetzung unter und einen Austausch zwischen diesen verschiedenen Institutionen.
Sucht- und Migrationsdienste müssen kooperieren
Zur Präventionsarbeit bei dieser Zielgruppe braucht es beide Einrichtungen, Suchtberatungsstellen und Migrationsdienste. Migrant(inn)en allein durch den Migrationsdienst an die Suchtberatung zu vermitteln, reicht nicht. Die/der Suchtberater(in) muss in der Zielgruppe bekannt und eingeführt sein, da die Personenorientierung in dieser Gruppe sehr groß ist. Eine sensible Wahrnehmung und Offenheit sind wichtiger als besondere Kenntnisse über verschiedene Kulturen. Ein Wissenstransfer von Migrationsdiensten zur Suchthilfe und umgekehrt sollte erfolgen, zum Beispiel über gemeinsame Schulungen und Fallbesprechungen.
Mitarbeiter(innen) der Sucht- und Migrationsberatung sollten nach Möglichkeit gemeinsame Veranstaltungen anbieten, bei denen eine Vertrauensperson für die Teilnehmer(innen) anwesend ist. Bei kleinen Gruppen ist eine Veranstaltung auf Deutsch möglich, bei größeren sollte sie in den jeweiligen Muttersprachen stattfinden. Die Altersspanne der Teilnehmer(innen) sollte nicht zu groß sein. Es bietet sich an, die Veranstaltungen in bestehende Gruppen zu integrieren und die Materialien auch in den jeweiligen Muttersprachen vorliegen zu haben. Diese sollten kurz, lebensweltorientiert sowie sprachlich angepasst sein. Die Veranstaltung sollte nicht länger als ein bis eineinhalb Stunden dauern und in angenehmer Atmosphäre stattfinden.
Diese Forderungen aus der Praxis zeigen, dass es für eine nachhaltige Alkoholpräventionsarbeit beides braucht – ein praktikables, im Alltag der Einrichtungen realisierbares Konzept und entsprechende Materialien, aber auch Rahmenbedingungen auf übergeordneter einrichtungsbezogener sowie verbandlicher Ebene.
Anmerkungen
1. Statistisches Bundesamt: Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2007. Fachserie 1, Reihe 2.2, Wiesbaden, 2008.
2. Herrmann, Markus; Schwantes, Ulrich: Migranten und Sucht – Eine quantitative und qualitative Expertise über Gesundheit, Krankheit und hausärztliche Versorgung von suchtgefährdeten und suchtkranken MigrantInnen. Band 141/III, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit. Baden-Baden : Nomos, 2002.
3. Treber, Monika.: Interkulturelle Öffnung: ein Gebot der Zuwanderungsgesellschaft. In: neue caritas-Jahrbuch 2005. Freiburg : Deutscher Caritasverband, 2004, S. 119–125.
4. Bunge, Christiane; Meyer-Nürnberger, Monika; Kilian, Holger: Gesundheitsfördernde Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund. Bundesgesundheitsbl. Gesundheitsforsch. Gesundheitsschutz, 9/2006, S. 893–897.
5. Diese Arbeit entstand im Rahmen des Regierungsprogramms „Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen - Präventionsforschung zur Gesundheitsförderung und Primärprävention von älteren Menschen“, gefördert vom BMBF; (FKZ 01 EL 0712).