Konzept Sozialraumorientierung - damit drin ist, was draufsteht
Das Fachkonzept Sozialraumorientierung (SRO) hat sich in der vergangenen Dekade zweifellos zu einem äußerst populären und zugleich kritisch diskutierten Ansatz Sozialer Arbeit etabliert. Es findet sich sowohl in Fachbüchern, Aufsätzen und Tagungsreadern wieder als auch in Einrichtungskonzeptionen, Leitbildorientierungen und Weiterbildungsprogrammen. Das ist einerseits ausgesprochen erfreulich, da dieses Fachkonzept durchaus das Potenzial hat, "viele Probleme der Sozialen Arbeit im Kontext kapitalistisch agierender Systeme zu transformieren"1 . Andererseits ist es nicht verwunderlich, dass Sozialraumorientierung in vielen kommunalen Zusammenhängen eher zögerlich bis halbherzig realisiert wird, denn die Anforderungen sowohl an die Mitarbeitenden als auch an die Organisationsstrukturen und die kommunalpolitische Verantwortungsebene sind immens. So bleibt festzuhalten, dass nicht überall, wo "Sozialraumorientierung" draufsteht, auch das Fachkonzept SRO enthalten ist.
Der Terminus Sozialraumorientierung im Kontext der Sozialen Arbeit wird zumeist noch unscharf und uneinheitlich rezipiert. Eine eindeutige Begriffsverwendung hat sich bislang nicht durchgesetzt. Das mag daran liegen, dass der Begriff semantisch den "Raum" fokussiert. Der konzeptionelle Kern ist hingegen stark personenzentriert und emanzipatorisch, das heißt, das fachliche Handeln leitet sich von den Themen und Interessen der Menschen und ihrem Selbstbestimmungswillen ab. Bei einem so radikal an der Lebensweltperspektive ausgerichteten Handeln wird die Orientierung am Raum zur notwendigen Konsequenz, denn es gilt die durchaus pädagogik-kritische Ausgangsthese, dass die Aufgabe Sozialer Arbeit nicht vordergründig im Verändern von Menschen, sondern vielmehr im Gestalten der Lebensbedingungen dieser Menschen liegt.
Das sozialräumliche Fachkonzept beinhaltet fünf zentrale Arbeitsprinzipien, welche als fachliche Orientierung gelten, "ohne den jeweiligen Fahrstil zu standardisieren [...]"2 .
Fünf zentrale Prinzipien gelten
Das erste Prinzip umfasst die "Orientierung an den Interessen und am Willen"3 der Individuen und stellt im Fachkonzept den zentralen Kern dar. Der Wille ist der Energiestrom, der mich aktiviert, eine von mir ausgehende zukünftige Veränderung zu erreichen und steht in Abgrenzung zu den in der Praxis oft fälschlicherweise synonym verwendeten Begriffen wie Wunsch, Maßnahme, Bedürfnis, Perspektive und Ähnlichem.4 Die damit verbundenen, deutlich erziehungskritischen Thesen berufen sich auf antipädagogische, gestalttheoretische und lösungsfokussierte Ansätze. Ihnen gemein ist, dass einerseits ein Mensch gegen seinen Willen nicht wirklich veränderbar zu sein scheint. Der normative Anspruch, in persönliche Einstellungen gestaltenden Einfluss zu nehmen, ohne den Willen eines "Gegenübers" zu respektieren5, ist nicht die Funktion Sozialer Arbeit, sondern eine höchstriskante Selbsterhebung. Nach dem dialogischen Verständnis eines Gegenübers von Martin Buber wird der Mensch nicht zum Objekt sozialarbeiterischen Handelns, sondern verbleibt - eigentlich selbstverständlich - in seinem Bürgerstatus eines selbstaktiven Subjektes, das ernst genommen werden muss in seiner je eigenen Wahrnehmung und Gestaltungsfähigkeit.
Die "Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe"6 stellt das zweite Prinzip dar. Dies meint die Unterstützung der Menschen, ihre eigenen Potenziale zu aktivieren und sie zu bestärken. Es geht also insbesondere darum, herauszuarbeiten, was derjenige selbst tun kann, um seinen eigenen Vorstellungen, seinem Willen im konkreten Alltag ein Stück näherzukommen. Die Betonung der Selbsthilfepotenziale impliziert jedoch nicht, dass sozialstaatlich verbriefte Leistungen geschwächt werden oder dass die Adressat(inn)en Probleme lösen sollen, die sie weder beeinflussen noch verantworten können.
Damit eng einher geht das dritte Prinzip der "Konzentration auf die Ressourcen"7. Dabei wird unterschieden zwischen den Ressourcen der Menschen selbst, ihrer sozialen Bezüge und denen des Sozialraums. Der Mensch selbst und nicht die Fachkraft bestimmt dabei, was eine Ressource sein kann und was nicht.8
Das vierte Prinzip beinhaltet die "Zielgruppen- und bereichsübergreifende Sichtweise"9. Die fachliche Konstruktion einer Zielgruppe, und nichts anderes verbirgt sich in der Formulierung einer Zielgruppe, verführt dazu, bestimmte Etiketten zu verwenden, die in der sozialarbeiterischen Interaktion mit einem Individuum einerseits nicht passen und andererseits die Subjekt-Subjekt-Beziehung außer Kraft setzen. Sie verführt zudem, eher etwas für Menschen zu tun statt mit ihnen. Zugleich darf sich Soziale Arbeit in ihrem Agieren in einem Sozialraum nicht von anderen Handlungsbereichen losgelöst bewegen. Die funktionale Zergliederung der Lebenswelten in Aufgabenbereich, Ämterstrukturen und Ähnlichem ist das lebensweltferne Ergebnis kommunaler Steuerungsprozesse. Ein sozialraumorientierter Ansatz hingegen macht sich die unterschiedlichen Lebenswelten aufgrund seiner subjektorientierten Ausrichtung in integrativer Kooperation und Koordination als fünftes Prinzip zunutze. Die Profis stellen sich den lebensweltlichen Anforderungen entsprechend auf und die Adressat(inn)en müssen sich nicht anders herum den gegebenen Angeboten anpassen. So kann der Spagat zwischen "Lebenswelt und Steuerung"10 durch eine angenäherte und im Ideal professionell abgestimmte Zusammenarbeit die Steuerungskonstruktionen verschiedener Fachbereiche, Verwaltungsämter, Zuständigkeitsbereiche oder Handlungsfelder näher mit den lebensweltlichen Realzusammenhängen der Bewohner(innen) eines Stadtteils zusammenbringen und eine "ganzheitliche Sichtweise"11 befördern.
Wie Sozialraumorientierung wirkt
Zum besseren Verständnis der notwendigen Bedingungs- oder auch Wirkebenen des Fachkonzeptes SRO unterscheidet Nikles die Dimension der Handlung, der Organisation, der Steuerung und der Finanzierung.12
Die methodische Handlungsumsetzung dieses Fachkonzepts integriert den methodischen Dreiklang Sozialer Arbeit einer einzelfallbezogenen, einer einzelfallübergreifenden sowie einer einzelfallunabhängigen Fallarbeit. In der Professionsgeschichte Sozialer Arbeit ist der methodische Dreiklang von Einzelfall-, Gruppen- und Gemeinwesenarbeit eigentlich ein alter Hut. Die Soziale Arbeit beraubt sich jedoch ihrer eigenen Professionalität, wenn sie diesen Dreiklang aufsplittet und individualisiert im Sinne eines delegierenden Spezialistentums, eines der großen Missverständnisse im Professionalisierungsdiskurs Sozialer Arbeit der letzten beiden Dekaden. Das methodische Vorgehen in der einzelfallbezogenen Arbeit hat wie ausgeführt zum Ziel, das sozialarbeiterische Handeln an den Interessen, Bedürfnissen bis hin zum Willen der Familien auszurichten und so die selbsthelfenden Kräfte sowie die Eigeninitiative der Adressat(inn)en im Sinne einer nachhaltig stabilisierenden Hilfe zur Selbsthilfe zu fördern, unter Nutzung vorhandener individueller, sozialer und sozialräumlicher Eigenkräfte. Durch einen einzelfallübergreifenden Arbeitsansatz werden aus individuellen einzellfallspezifischen Kontexten übergreifende, gegebenenfalls sozialraum- oder auch lebenslagenbezogene Zusammenhänge hergestellt. Die einzelfallunspezifische Arbeit wird zumeist als die im eigentlichen Wortsinn sozialräumliche Komponente im Handlungsrepertoire verstanden. Einzelfallunspezifische Arbeit kann beschrieben werden als ein Wissen über potenzielle Ressourcen im Sozialraum, mit dem Zweck, diese Ressourcen für mögliche spätere Einzelfälle mobilisieren zu können. Einzelfallunspezifische Arbeit umfasst diejenige Arbeit, in der die sozialräumlichen Ressourcen entdeckt, kontaktiert, gefördert beziehungsweise aufgebaut werden. Neben dem Wissen über potenzielle sozialräumliche Ressourcen in einem Stadtquartier und dem Mobilisieren dieser Ressourcen beinhaltet einzelfallunspezifisches Arbeiten andererseits ein notwendiges Wissen über die in einem Stadtteil wirkenden Themen und daraus möglicherweise ableitbare Bedarfe.13 Somit wird die Handlungsdimension des einzelfallunspezifischen Arbeitens gleichsam gestalterisch wirksam im sozialen Raum, das heißt, sie leistet unter Umständen konkrete Veränderungsarbeit an den Lebensbedingungen in einem Stadtteil und ist selbst "ein Akteur in der sozialen Arena"14, um im Ideal die Konstruktion eines Einzelfalls zu vermeiden. Einzelfallunspezifische Arbeit wird somit zum integralen Bestandteil einer methodenintegrativen Fallarbeit, um überhaupt wirksame Soziale Arbeit leisten zu können.
Verfahren muss auch umsetzbar sein
Damit dieses Fachkonzept realisierbar werden kann, bedarf es neben fachlich-methodischen Kompetenzen der jeweiligen tätigen Akteure weiterer Bedingungsebenen. So muss das Berichts- und Dokumentationswesen die Handlungsweisen der Sozialarbeiter(innen) unterstützen, so müssen Verfahrensabläufe innerhalb einer Organisation entsprechend angepasst werden und Kooperationsformen beschrieben sein. Die Steuerungsprozesse innerhalb einer Verwaltung oder auch Trägerorganisation müssen zudem entsprechend der fünf Prinzipien aufgestellt werden, um diese im Arbeitsalltag realisierbar machen zu können. Gleiches gilt für die Finanzierungslogik, um von der "Fallsucht"15 der Träger wegzukommen, die dadurch bedingt ist, dass diese die Finanzierung für ihre jeweilige Arbeit durch das Vorhandensein von Fällen erhalten. Nicht die möglichst lebensweltbezogene und wirksame Hilfe wird dadurch befördert, sondern eher die defizitorientierte, eine problemzuschreibende Intervention, die, je schwerwiegender und langandauernder der "Fall", dem Träger einen entsprechenden Ertrag bringt, auch wenn dies einer Hilfe zu Selbsthilfe zumeist entgegensteht.
Die Zielstellung und professionsethische Leitlinie gelingender Sozialer Arbeit liegt darin, einen selbstbestimmten, gelingenderen Alltag der Adressat(inn)en zu ermöglichen. Ausgehend von ihrem je eigenen Anliegen werden die Menschen unterstützt, sich eine Selbstbestimmung zur Bewältigung ihres Lebensalltags (wieder) zu erarbeiten. Der Adressat ist ein Subjekt in einer demokratischen Bürgergesellschaft, in welcher er mit seinem Anliegen eine personenbezogene Dienstleistung in Anspruch nimmt.16 Professionelle Soziale Arbeit sollte die gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse und Entsolidarisierungen durch ihr Handeln nicht reproduzieren, sondern diesem Prozess aktiv entgegenwirken. Sie handelt folglich nicht allein auf der privatisierten individuellen Ebene, sondern zugleich im ökologischen Kontext der individuellen Ausgangslage. Viele Menschen in benachteiligten Lebenslagen sind von der Teilhabe an gesellschaftlichen Mitgestaltungsprozessen ausgeschlossen. Hier ist es eine zentrale und notwendige Aufgabe von Sozialer Arbeit, die Menschen in der Wahrnehmung ihrer Teilhabe zu unterstützen. Das Fachkonzept SRO stellt so zugleich einen signifikanten Beitrag im Professionalisierungsdiskurs dar, da das Soziale in der Arbeit betont wird, damit Klient(inn)en wieder als Bürger(innen) respektiert werden in einer solidarisch-demokratischen Gesellschaft.
Anmerkungen
1. Kleve, Heiko: Sozialraumorientierung - eine neue Kapitalismuskritik in der Sozialen Arbeit!? In: Spatscheck, Christian u.a. (Hrsg.): Soziale Arbeit und Ökonomisierung : Analysen und Handlungsstrategien. Berlin/Milow/Straßburg, 2008, S. 88.
2. Hinte, Wolfgang; Treeß, Helga: Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe. Weinheim, 2007, S. 45.
3. Ebd., S. 45.
4. Ebd., S. 46 ff.
5. Buber, Martin: Das dialogische Prinzip. Gütersloh, 2006, S. 14.
6. Hinte, Wolfgang; Treeß, Helga, a.a.O., S. 51.
7. Ebd., S. 60.
8. Straßburger, Gaby; Bestmann, Stefan: Praxishandbuch für sozialraumorientierte interkulturelle Arbeit. Bonn, 2008, S.19.
9. Hinte, Wolfgang; Treeß, Helga, a.a.O., S.72.
10. Budde, Wolfgang; Früchtel, Frank: Sozialraumorientierte Soziale Arbeit - ein Modell zwischen Lebenswelt und Steuerung. In: Nachrichten des Deutschen Vereins Heft 7/2005, S. 238.
11. Hinte; Treeß, a.a.O., S. 75.
12. Nikles, Bruno: Anforderungen, Chancen und Grenzen einer sozialraumorientierten Jugendhilfepraxis. Landesverband Rheinland: Vortrag auf der Veranstaltung "Sozialraumpraxis - vom geographischen Konstrukt zum lebenden Biotop?" am 16.05.2001 in Köln.
13. Bestmann, Stefan; Brandl, Matthias: Fallunspezifische Arbeit - die systematische Strukturierung des Findens und ihre arbeitspraktische Verankerung in den Verfahrensablauf eines HzE-Sozialraumteams. In: Forum Erziehungshilfen Heft 1/2006, S. 53-57.
14. Otto, Hans-Uwe; Ziegler, Holger: Sozialraum und sozialer Ausschluss (Teil 2). In: Neue Praxis Heft 3/2004, S. 279.
15. Hinte, Wolfgang: Zur Notwendigkeit sozialräumlicher Orientierung in der Jugendhilfe. Vortrag in der Stadt Graz am 13.5.2004, S. 6.
16. Thiersch, Hans: 25 Jahre alltagsorientierte Soziale Arbeit - Erinnerung und Aufgabe. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 1. Jahrgang Heft 2/2003, S. 114-130.