"Ich will endlich frei sein"
Ja, ich will endlich frei sein / nein,
sie kriegen mich nicht klein. / nein
Ich will mein Glück verspüren /
doch ich muss meine Liebe einem
Fremden schwören.
Ja, ich will verstanden werden /
muss die Liebe zu meinem Freund
verbergen
Ich will für mich selbst entscheiden /
Doch mein Herz kann nicht länger
schweigen
Worum geht es in diesem Refrain? Neben Liebe und Leid auch um Zwangsverheiratung. Er ist Teil eines in einer Filmwerkstatt mit Jugendlichen im Projekt "JiZ - Jugend informieren über Zwangsverheiratung" entstandenen Musikclips. Das Projekt des DCV in Kooperation mit dem Caritasverband für die Stadt Köln sowie dem Caritasverband Rhein-Mosel-Ahr (Juni 2007 bis Mai 2010) zielte darauf ab, der Zwangsverheiratung von in Deutschland lebenden Jugendlichen mit Migrationshintergrund entgegenzuwirken und Mitarbeiter(innen) von Beratungsdiensten der Caritas weiterzuqualifizieren.
Von einer Zwangsverheiratung spricht man, wenn mindestens einer der beiden potenziellen Ehegatten durch Druck oder Zwang zu einer Eheschließung gezwungen wird und mit seiner/ihrer Weigerung kein Gehör findet oder es nicht wagt, sich zu widersetzen. Davon abzugrenzen ist die arrangierte Ehe. In manchen Familien mit Migrationshintergrund ist es traditionell verankert, dass Eltern für ihre Kinder den passenden Ehepartner suchen und mit dessen Familie die Hochzeit arrangieren. Im Falle einer arrangierten Ehe haben jedoch die Heiratskandidat(inn)en das letzte Wort.
Auch Männer können zwangsverheiratet werden
Von Zwangsverheiratung betroffen sind meist Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund1. Auch Männer können zwangsverheiratet werden. Der wesentliche Unterschied ist, dass Männern in vielen Kulturen innerhalb und außerhalb des Ehelebens deutlich mehr gesellschaftliche und persönliche Freiheiten zugestanden werden als Frauen. Zudem werden sie in einer erzwungenen Ehe nur selten Opfer von häuslicher oder sexueller Gewalt.
Zwangsehen sind ein weltweites Phänomen, das sich keiner bestimmten Kultur oder Religionsgemeinschaft zuordnen lässt. Sie kommen sowohl in mehrheitlich muslimisch und hinduistisch als auch in christlich geprägten Ländern vor. Trotz der Vielfalt der ethnischen Herkunft der Betroffenen werden in den verschiedenen europäischen Staaten jeweils einzelne Migranten-Communitys mit Zwangsverheiratung in Verbindung gebracht. Es besteht die Tendenz, das Phänomen der Zwangsverheiratung vorrangig den Communitys zuzuschreiben, die die zahlenmäßig größte Gruppe darstellen. In Großbritannien sind es eher Menschen mit pakistanischem und bengalischem Migrationshintergrund. In Deutschland handelt es sich dabei hauptsächlich um Personen mit türkischem Migrationshintergrund, bei denen die religiöse und ethnische Herkunft jedoch meist verschieden (jesidisch, türkisch, kurdisch, sunnitisch, christlich-orthodox, alevitisch) ist.
Zwangsverheiratung verstößt sowohl gegen internationales (Art. 16 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) als auch gegen nationales Recht (Art. 1, 2 und 3 des Grundgesetzes). In Deutschland gilt diese seit 2005 als besonders schwerer Fall der Nötigung (§ 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 F. 2 Strafgesetzbuch). Zwangsverheiratung kann und darf folglich nicht als "kulturelle Eigenheit" abgetan und toleriert werden. Sie ist ein ernstzunehmendes Problem in Deutschland. Allerdings darf daraus kein Generalverdacht gegen Familien mit Migrationshintergrund abgeleitet werden.
Studien zu Lebensvorstellungen und -umständen von in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund legen nahe, dass Zwangsehen in den meisten Familien nicht praktiziert und von diesen abgelehnt werden. Bisher liegen keine gesicherten Informationen über das genaue Ausmaß von Zwangsverheiratungen in Deutschland vor, da die bislang veröffentlichten Studien2 nicht repräsentativ sind.
Ansichten der Eltern kollidieren mit denen der Kinder
Da Zwangsverheiratung im Beratungsalltag der Caritas eine merkliche Rolle spielt, hat der DCV auf diesen Bedarf mit dem geschilderten Projekt reagiert, 2008 ergänzt durch das Projekt "Stärkung der Beratungskompetenz von Mitarbeiter(inne)n in den örtlichen Einrichtungen der Caritas mit Bezug auf die Problematik der Zwangsverheiratung".
Hinter Zwangsehen verbergen sich mitunter innerfamiliäre Konflikt- und Gewaltstrukturen, festgeschriebene Geschlechterrollen und patriarchalische Familiengefüge. Einige von Zwangsverheiratung betroffene Personen in den Beratungsstellen berichten, dass sich die Einstellungen ihrer Eltern auf überholte Werte beziehen - denen auch im Herkunftsland aufgrund sozialen Wandels meist keine Bedeutung mehr beigemessen wird - und sich daraus schwerwiegende Spannungen ergeben. Die traditionellen Lebensvorstellungen der Eltern kollidieren mit den Ansichten der Kinder, die auch hinsichtlich der Partnerwahl bereits durch die Kultur des Aufnahmelandes geprägt sind. Eine Zwangsverheiratung soll in diesen Fällen verhindern, dass das Kind dem Einfluss der Eltern entgleitet und die individuelle Lebensweise des Kindes möglicherweise zu einem Gesichtsverlust vor Bekannten und Verwandten führt. In der Migration müssen sich Menschen mit ungewohnten und gegebenenfalls schwierigen Lebensverhältnissen auseinandersetzen. Dabei kann es zu einer Rückbesinnung auf konserverativ-traditionelle Werte und Verhaltensweisen kommen. Zwangsverheiratung kann eine mögliche Form davon sein.
Den Zusammenhalt der Minderheit sichern
In traditionellen Familien wird bisweilen noch an patriarchalischen Strukturen festgehalten, die auch das Geschlechterverhältnis beeinflussen. Das Ehrkonzept in diesen Gesellschaften bringt eine strenge Kontrolle der weiblichen Sexualität mit sich. Der Dialog mit erfahrenen Berater(inne)n zeigt, dass die Ehre der Familie mehrfach - zumindest vordergründig - als Begründung für eine Zwangsverheiratung aufgeführt wird.
Im Falle religiöser oder ethnischer Minderheiten (die Minderheitenstellung begründet sich hier aus der Situation im Herkunftsland) dient die Verheiratung der Kinder manchmal dem Zusammenhalt der Minderheit und/oder bestimmter Familienclans. Der Druck, den die Community auf die Heiratskandidaten und deren Familien ausüben kann, wird von Betroffenen als extrem beschrieben. Zwangsverheiratungen werden auch als Erziehungs- und Disziplinierungsmaßnahme eingesetzt. So kann die Verheiratung der Vertuschung von Homosexualität und dem Versuch, dies zu "kurieren", dienen.
Die Arbeit mit Jugendlichen in kreativen Werkstätten sowie die Qualifizierungsmaßnahmen von Lehr- und Beratungskräften im Rahmen des Projektes dienten mitunter als exemplarische Grundlage für die Erarbeitung einer Arbeitshilfe für die Beratungspraxis.3 Die Werkstätten boten Raum für offene Kommunikation, Abbau von Berührungsängsten und das Brechen von Tabus. Die Jugendlichen erhielten die Möglichkeit, sich ungezwungen mit der Thematik auseinanderzusetzen, Handlungswege zu erarbeiten und ihre Kenntnisse über Hintergründe und Hilfemöglichkeiten zu erweitern. Die Konzeption sah ein festes Arbeitsziel vor, beispielsweise ein Theaterstück oder ein Musikvideo zu erarbeiten.
Auch ein Konzept für Fortbildungen von Beratungskräften wurde entwickelt. Neben der Vermittlung von Grundinformationen und des rechtlichen Know-hows stand die konkrete Bearbeitung von Fällen und die damit verbundene Erweiterung des Handlungsrepertoires im Mittelpunkt.
Die Evaluation hat gezeigt, dass die Konzeption geeignet ist, den Informationsstand und die Problemwahrnehmung von Beratungsfachkräften zu verbessern und ihre Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Der Evaluationsbericht sowie die Projektdokumentation sind unter www.caritas.de/50408.html einzusehen.
Anmerkungen
1. Der Begriff "Menschen mit Migrationshintergrund" umfasst zugewanderte und in Deutschland geborene Ausländer(innen) (einschließlich Flüchtlinge), Spätaussiedler(innen) und Eingebürgerte sowie jeweils deren Kinder.
2. Johann Daniel Lawaetz-Stiftung (Hrsg.): Ergebnisse einer Befragung zu dem Thema Zwangsheirat in Hamburg (Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz, Hamburg). Hamburg, 2006.
3. Alfes, Friederike; Balikci, Asiye; Nöthen, Stefanie; Zwania-Rößler, Isabell: Zwangsverheiratung. Arbeitshilfe für die professionelle Beratung von Betroffenen. Freiburg : Lambertus, 2010. In dieser Arbeitshilfe ist die dem Text zugrundeliegende Literatur aufgelistet.