Bundesregierung zementiert Sockelarbeitslosigkeit
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende steht auf dem Prüfstand. Der Etat von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen sieht für das Jahr 2011 im Vergleich zu 2010 vor, die "Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach dem SGB II" für erwerbsfähige Hilfebezieher von 6,6 auf 5,3 Milliarden Euro zu kürzen - also um etwa 1,3 Milliarden. Das sind etwa 20 Prozent dieses Etatpostens. Für das Jahr 2012 soll der Betrag um eine weitere Milliarde verringert werden. Geplant ist für 2013 noch einmal eine Reduzierung um 0,5 Milliarden Euro. In der Endstufe wird damit bei der öffentlich geförderten Beschäftigung um 43 Prozent gekürzt. Mitte September ist dieser Entwurf des Bundeshaushaltes 2011 in der ersten Lesung im Bundestag beraten worden. Die abschließende Lesung ist für den 23. November 2010 geplant.
Hinzu kommt, dass im Verwaltungshaushalt 200 Millionen Euro eingespart werden. Wegen der gegenseitigen Deckungsfähigkeit des Eingliederungs- und Verwaltungshaushalts im SGB II schichten schon heute die meisten Grundsicherungsstellen (derzeit noch Argen, künftig Job-Center genannt) Mittel von der Eingliederung in die Verwaltung. Und die Verwaltung wird im ersten Jahr nach der Neuorganisation des SGB II und mit der (übrigens begrüßenswerten) Einführung des Bildungspaketes für Kinder im SGB II eher noch aufwendiger. Im Zweifel wird sich die Verwaltung am Eingliederungstitel, der ja eigentlich für die Eingliederung langzeitarbeitsloser Menschen vorgesehen ist, schadlos halten. Weiter kommt die aktuelle Vorgabe des Haushaltsausschusses des Bundestages und der Bundesagentur für Arbeit hinzu, die Eingliederungsquote (also die Integration in den ersten Arbeitsmarkt) um fünf Prozent zu steigern. Das heißt, die ohnehin schon stark reduzierten Eingliederungsmittel werden künftig verstärkt in Maßnahmen investiert, die direkt auf die Integration in den ersten Arbeitsmarkt abzielen. Dazu gehören insbesondere die "Förderung der beruflichen Weiterbildung" (FbW) und die Maßnahmen nach § 46 SGB III, der "Eingliederungszuschuss" (EGZ) sowie das "Einstiegsgeld" (ESG). In der logischen Folge werden die Förderungen zur sozialen Integration wie zum Beispiel Arbeitsgelegenheiten (AGH) und die "Job-Perspektive"1 an Bedeutung verlieren.
Gerechtfertigt werden diese Kürzungen, Umschichtungen und Vorgaben von Regierungspolitiker(inne)n: Aufgrund der Wirtschaftsentwicklung ginge man von einem weiteren Rückgang der Arbeitslosigkeit aus. Auch hätten sich viele Eingliederungsmaßnahmen im Blick auf die Integration in den ersten Arbeitsmarkt als wenig effektiv gezeigt und trotz erheblicher Investitionen seien die Arbeitslosenzahlen nicht zurückgegangen. Natürlich hat der Bundesfinanzminister recht, wenn er sagt, dass wir unsere sozialen Sicherungssysteme so ausrichten müssten, dass sie zur Aufnahme regulärer Beschäftigung motivieren und nicht gegenteilige Anreize setzen. Doch die zentrale gesellschaftliche Frage muss sein, wie mit jenen Menschen umgegangen wird, die, aus welchen Gründen auch immer, keine reguläre Beschäftigung finden. Diese Frage gilt es mit verantwortlichen Strategien zu beantworten.
Politiker resignieren
Die Tatsache, dass viele langzeitarbeitslose Menschen schon über mehrere Jahre im SGB-II-Leistungsbezug sind und mehrfach bereits mit Blick auf die Integration in den ersten Arbeitsmarkt erfolglos Aktivierungen durchlaufen haben, mag politische Verantwortungsträger dazu verleiten zu resignieren. Der Gedanke liegt nahe, eine lebenslange Alimentierung und damit eine soziale Entsorgung in die bleibende Arbeitslosigkeit dem mühsamen und vermeintlich kostenträchtigen Geschäft der ständigen Aktivierung und dauerhaften sinnvollen Beschäftigung vorzuziehen. Genau diese soziale Entsorgung dürfen wir uns aber in Deutschland nicht leisten. Die Devise muss gelten: "Wir lassen keinen sitzen!"
Studien belegen: Entwickelte Wohlfahrtsstaaten müssen etwa 20 Prozent ihrer Bevölkerung im Erwerbsalter mit Transferleistungen unterhalten. Entweder werden Lohnersatzleistungen wegen Krankheit und Invalidität oder Grundsicherung für Arbeitsuchende gezahlt. Deutschland hat sich mit Einführung des SGB II mit guten Gründen für eine weite Definition der "Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt" entschieden. Völlig zu Recht heißt es deshalb schon in der Gesetzesbegründung zur "Job-Perspektive" (damals § 16a, heute § 16e SGB II) aus dem Jahr 2007: "Deshalb stellt sich gerade in Deutschland mit einem umfassenden und einheitlichen System der Leistungsgewährung und Betreuung von Menschen, deren Beschäftigungsfähigkeit sehr unterschiedlich ausgeprägt ist, die Frage, mit welchen neuen Wegen die arbeitsmarktferneren und deutlich leistungsgeminderten Erwerbslosen wieder in Erwerbstätigkeit integriert werden können."
Kürzungen sind verheerend
Die Folgen der Kürzungen für die Beschäftigungsträger sind verheerend. Dieser Sektor ist ohnehin wie kaum ein anderer sozialer Bereich gekennzeichnet durch permanente Veränderung der Eingliederungsinstrumente und der Förderpolitik. Dementsprechend hoch ist die Anpassungs- und Innovationsfähigkeit in den Beschäftigungsbetrieben. Aber was an Kürzungen in den nächsten drei Jahren geplant ist, trifft die Beschäftigungsbetriebe bis ins Mark. Das sind keine Kassandrarufe, sondern die derzeit erlebte bittere Realität an vielen Orten in Deutschland. Undenkbar, was passieren würde, wenn auch nur ein Bruchteil dieser prozentualen Kürzungen im Kranken- oder im Rentenrecht vorgenommen werden würde. Aber langzeitarbeitslose Menschen und die sich um sie sorgenden Beschäftigungsbetriebe haben in Deutschland derzeit offensichtlich keine Lobby.
Die öffentlich geförderte Beschäftigung wird behandelt wie ein lästiges Übel und allenfalls geduldet. Sie wird der Verschwendung von Steuergeldern bezichtigt. Damit werden einzugliedernde langzeitarbeitslose Menschen gleichermaßen diskreditiert wie die Beschäftigungsbetriebe (s. auch Beitrag in neue caritas, Ausgabe 20 2010, S. 12) und ihre vielfach über die Maßen engagierten und kreativen Mitarbeiter(innen). In den Betrieben werden tagtäglich viele Menschen bei der Bewältigung ihrer psychosozialen, familiären und sonstigen Alltagsprobleme unterstützt. Diese Menschen erfahren eine Teilhabe am sozialen Leben. Gemeinsam mit ihnen wird eine berufliche Neuorientierung erarbeitet. Damit erfüllen die Beschäftigungsbetriebe einen gesamtgesellschaftlichen Auftrag. Sie arbeiten mit und an Menschen, die ausgegrenzt sind oder direkt vor der Ausgrenzung stehen. Deshalb ist in der politischen und gesellschaftlichen Wahrnehmung ein Bewusstseinswandel dahingehend notwendig, dass diese öffentliche Förderung der sozialen Beschäftigung gesamtgesellschaftlich unverzichtbar ist.
In der Bewertung der bisherigen Eingliederungsinstrumente im SGB II war schon immer der "Creaming-Effekt" ein Problem. Augenfällig wurde dies spätestens bei der "Job-Perspektive". Ursprünglich für die Schwächsten der Schwachen gedacht, zeigte die Praxis schnell, dass das durchschnittliche Qualifikationsniveau der geförderten Beschäftigten mit der Arbeitslosenquote in der Region steigt, in der sie arbeiten. Die Teilnehmer(innen) werden auch bei der geförderten Beschäftigung häufig nach dem Prinzip von Nützlichkeit und Leistung ausgewählt. Nicht anders wird es sich übrigens bei dem neu eingeführten Instrument der Bürgerarbeit2 verhalten.
Derzeit erfährt ein an sich gutes Eingliederungsinstrument, die Arbeitsgelegenheit (AGH) mit Mehraufwandsentschädigung - auch Ein-Euro-Job genannt - einen Niedergang. Sturmreif geschossen wurde es insbesondere durch die vielleicht formal korrekten, aber in der Gesamtschau unverantwortlichen Analysen des Bundesrechnungshofes, die die Haushaltspolitiker(innen) auf den Plan riefen, die ihrerseits das Bundesarbeitsministerium unter Druck setzten. Im Kern der Auseinandersetzung steht das Merkmal der "Zusätzlichkeit". Bereits bei der Einführung des Ein-Euro-Jobs im Jahr 2005 war klar, dass hier eine Quadratur des Kreises versucht wird. Die Beschäftigungsfelder sollten nicht wettbewerbsverzerrend sein, gleichzeitig aber für den ersten Arbeitsmarkt qualifizieren. Hier wurde vom Gesetzgeber bewusst eine konfliktbeladene Schnittstelle geschaffen, die man nicht mit einer dem Bundesrechnungshof eigenen Herangehensweise lösen kann. Eine strenge Beachtung des Merkmals "Zusätzlichkeit" führt nämlich dazu, dass weitgehend nur noch arbeitsmarktfernere Tätigkeiten verrichtet werden dürfen, die wiederum für eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt wenig förderlich sind. Dies nun wiederum wird von der Politik als Ausweis der offensichtlichen Ineffektivität der Maßnahme interpretiert. Damit wird das Opfer gleichsam zum Täter gemacht.
Bei einer dringend erforderlichen Neuordnung nicht nur der Integrationsinstrumente, sondern der gesamten öffentlich geförderten Beschäftigung muss Abschied genommen werden von der Illusion, dass diese Jobs zusätzlich seien. Ebenso verabschieden sollte man sich von der Fiktion, dass diese Beschäftigung nicht mit dem ersten Arbeitsmarkt konkurriert. Im Bereich der Werkstätten für Behinderte und der Integrationsfirmen ist dies eine allseits anerkannte Selbstverständlichkeit. Die gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten sind aber bei der Integration von langzeitarbeitslosen Menschen genauso gegeben. Wie vor 40 Jahren adäquate Antworten auf die Integration behinderter Menschen gefunden wurden, bedarf es heute menschenwürdiger Antworten auf die Tatsache, dass massenhaft einfache Arbeitsplätze wegrationalisiert werden. Auch arbeitsmarktfernere Menschen haben ein Recht auf Teilhabe durch sinnvolle Beschäftigung.
Anmerkung
1. Die Eingliederungsmaßnahme "Job-Perspektive" wurde 2007 als ein Einstieg in einen sozialen Arbeitsmarkt eingeführt. In dieser auf Dauer ausgerichteten Beschäftigungsmaßnahme sollten langzeitarbeitslose Menschen sinnvoll beschäftigt werden, die mindestens zwei Vermittlungshemmnisse haben. Gedacht war an Menschen, die chronische psychische und/oder physische Beeinträchtigungen haben, aufgrund von Alter oder Migration schwer vermittelbar sind, eine fehlende Grundbildung, Schulden- oder Suchtprobleme haben.
2. Die Bürgerarbeit ist ein neues Eingliederungsinstrument, das in den nächsten Jahren in knapp der Hälfte der Job-Center praktiziert werden soll. Es handelt sich um eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung - ohne Beiträge an die Arbeitslosenversicherung. Beschäftigungsträger dieser öffentlichen Stellen können Kommunen und Verbände sein, die zusätzliche und gemeinnützige Arbeit zu vergeben haben. Eine Verdrängung auf dem ersten Arbeitsmarkt soll vermieden werden. Damit enthält die Bürgerarbeit wesentliche Elemente aus den bisherigen Instrumenten AGH in der Mehraufwandsentschädigung und AGH in der Entgeltvariante.