Grundrecht auf menschenwürdiges Existenzminimum garantiert
Hartz IV muss von Grund auf neu gerechnet werden – so lässt sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9. Februar 2010 zusammenfassen. Das höchste deutsche Gericht musste die Frage beantworten, ob die Regelleistungen des SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Die Antwort lautet „Nein“. Bereits im Oktober 2008 hatte der DCV auf systematische Fehler und Ungereimtheiten hingewiesen und eine eigenständige Berechnung der Regelleistung für Kinder, des sogenannten Sozialgeldes, vorgenommen (vgl. neue caritas spezial Oktober 2008, S. 26 ff.). Neben anderen Sozial- und Wohlfahrtsverbänden hatten schließlich auch das Bundessozialgericht und das Hessische Landessozialgericht Zweifel an der Rechtmäßigkeit der ALG-II-Leistungen. Sie haben deshalb in Karlsruhe um Rat gefragt.
Aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz, also der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip, hat das Bundesverfassungsgericht einen Anspruch für Hilfebedürftige auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums abgeleitet. Dieses Grundrecht wurde zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands explizit benannt. Es soll neben der physischen Existenz auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben sichern. Den Gesetzgeber trifft die Pflicht, dieses Grundrecht zu konkretisieren und fortlaufend zu aktualisieren. Denn die Leistungen des Existenzminimums sind nicht statisch, sondern richten sich nach dem Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den jeweiligen Lebensbedingungen. Bei der Umsetzung steht dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu, da es theoretisch mehrere denkbare Verfahren gibt, die Regelleistung zu bemessen. Das Bundesverfassungsgericht kann deshalb auch kein konkretes Bemessungsverfahren vorgeben, geschweige denn konkrete Zahlen nennen. Es kann lediglich prüfen, ob das Verfahren grundsätzlich geeignet ist, ob die Datengrundlagen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt wurden und ob der Gesetzgeber sich an seine eigenen Vorgaben gehalten hat. Das Ergebnis der Berechnungen kann nur daraufhin überprüft werden, ob es „evident unzureichend“ ist, was auf die geltenden Beträge nicht zutrifft. An dieser Stelle des Urteils setzen denn auch die Skeptiker an und äußern Zweifel, ob sich der Erfolg in Karlsruhe für ALG-II-Empfänger tatsächlich „auszahlt“.
Wenn auch die jetzige Regelleistung der Höhe nach nicht verfassungswidrig ist, so muss der Gesetzgeber in Zukunft zumindest offenlegen, wie er zu den Beträgen kommt. Kritisiert wurde, dass bei der Regelsatzbemessung an einigen Stellen gekürzt wurde, ohne dass es hierfür eine Begründung gab. Der Vorwurf lautet, die Regierung hätte „ins Blaue hinein“ geschätzt. Kürzungen sind zwar zulässig, müssen sich aber auf eine empirische Grundlage stützen lassen. Es müssen also Tatsachen angeführt werden, die die Kürzung plausibel machen. Es ist denkbar, dass in Berlin nun bei den Begründungen nachgebessert wird, ohne dass sich die Höhe der Regelleistung signifikant ändert.
In der Abteilung „Verkehr“ wird deutlich, dass der Gesetzgeber nicht immer konsequent war. Hier ist ihm ein systematischer Fehler unterlaufen, auf den der DCV in seiner schriftlichen Stellungnahme ausdrücklich hingewiesen hat. So werden die Ausgaben für den Unterhalt eines Kraftfahrzeuges als nicht regelsatzrelevant eingestuft und deshalb nicht berücksichtigt. Was nicht bedacht wurde: Wer kein Auto zur Verfügung hat, benutzt häufiger den öffentlichen Nahverkehr und hat in diesem Bereich vermutlich höhere Ausgaben. Dies muss nun berücksichtigt werden und könnte höhere Leistungen zur Folge haben.
Auch aus weiteren Gründen ist mit einem Anstieg der Leistungen zu rechnen, denn der Anpassungsfaktor „Rentenwert“ hielt in Karlsruhe nicht stand. Die Anpassung der Regelsätze muss sich nach anderen Kriterien richten, zum Beispiel der Preissteigerung der regelsatzrelevanten Güter. Wäre dieser Faktor berücksichtigt worden, wäre der Regelsatz in den letzten Jahren sicher deutlicher gestiegen als nur von 345 Euro im Jahr 2005 auf mittlerweile 359 Euro seit Juli 2009.
Auch das Sozialgeld für Kinder wird wahrscheinlich steigen. Der Bedarf von Kindern ändere sich mit dem Alter und lasse sich keinesfalls pauschal vom Bedarf eines Erwachsenen ableiten, so die Richter. Kinder seien keine kleinen Erwachsenen. Insbesondere mit dem Eintritt in die Schule entstehen zusätzliche Ausgaben für Schulmaterialien. Hier darf der Bund nicht auf die Bildungszuständigkeit der Länder verweisen, zumindest nicht, solange die Länder nicht flächendeckende Angebote für hilfebedürftige Kinder bereitstellen. Das zum 1. August 2009 eingeführte Schulstarterpaket von 100 Euro pro Schuljahr ist nach Meinung der Verfassungsrichter ungenügend, vor allem sei die Zahl „offensichtlich freihändig geschätzt“.
In seiner Stellungnahme hatte der DCV auch auf die Problematik der verdeckten Armut hingewiesen. Verlässliche Werte dazu lassen sich aber nur schwer ermitteln, weswegen der Gesetzgeber darauf verzichten durfte, diese aus der Referenzgruppe herauszurechnen. Er muss jedoch künftig darauf achten, dass Haushalte mit einem Nettoeinkommen unter SGB-II-Leistungsniveau aus der Referenzgruppe ausgeschlossen werden. Die Caritas forderte schon beim letzten Armuts- und Reichtumsbericht, eine Studie durchzuführen, anhand derer die Zahl der verdeckt Armen ermittelt werden kann.
Als großen Erfolg wertet die Caritas auch die Einführung einer Härtefallklausel in das SGB II. Bisher gab es keine Möglichkeit, bei sogenannten atypischen Bedarfen die Regelleistung abweichend festzusetzen. Es gibt Fälle, in denen ein vom Durchschnitt abweichender laufender besonderer Bedarf gegeben ist, der mit der Regelleistung nicht abgedeckt werden kann. Daher droht eine Unterdeckung des Existenzminimums.
Konsequenzen aus dem Urteil
1. Steigt der Regelsatz?
Zwar hat das Gericht festgestellt, dass die Höhe der jetzigen Regelsätze nicht offensichtlich unzureichend ist. Dennoch ist zu erwarten, dass die Regelleistung steigt. Voraussichtlich im Herbst 2010 stehen die Daten der Einkommens- und Verbrauchs-Stichprobe (EVS) 2008 zur Verfügung, aus denen die Regelsätze ermittelt werden. Der DCV wird sich in die politische Debatte einbringen.
2. Gibt es rückwirkende Zahlungen?
Was die Regelleistung angeht: nein. Bis zum 31. Dezember 2010 muss der Gesetzgeber eine Neuregelung gefunden haben. Diese gilt dann automatisch, Anträge müssen nicht gestellt werden. Was einen sogenannten Sonderbedarf angeht, kann dieser auch rückwirkend gewährt werden, wenn das Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist. Überprüfungsanträge nach § 44 Abs. 1 SGB X und Widersprüche, die im Hinblick auf die Höhe der Regelleistung gestellt wurden, können nun für erledigt erklärt bzw. zurückgenommen werden. Alternativ wird die Grundsicherungsstelle den Antrag vermutlich als unbegründet zurückweisen oder einen ablehnenden Widerspruchsbescheid erlassen, was dann kein weiteres Tätigwerden seitens des Leistungsempfängers erfordert. Wurde bereits Klage erhoben, kann diese zurückgenommen werden. Kosten entstehen in diesen Fällen in der Regel nicht.
3. Härtefallregelung: sofortige Hilfe unter engen Voraussetzungen
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die Bundesagentur für Arbeit (BA) haben einen Katalog möglicher Härtefälle erarbeitet (siehe dazu Sozialrechtseite neue caritas Heft 5/2010, S. 30). Schon Anfang März 2010 lag dem Bundestag ein Gesetzesentwurf zur Entscheidung vor. Das Gericht hat betont, dass es sich um eng begrenzte Einzelfälle handeln wird. Die Regelung greift nicht für einmalige Bedarfe wie Wintermäntel, Haushaltsgegenstände oder Musikinstrumente. Der Katalog dient als Orientierung, ist aber nicht abschließend. Häufig ist die Abgrenzung zwischen einem einmaligen Bedarf, der aus der Regelleistung finanziert werden muss, und einem laufenden atypischen Bedarf (Härtefall) schwierig. Dies muss im Einzelfall geprüft und entschieden werden.