Qualitätsgesicherte Pflege - auch für die Seele
"Die Kapelle wird immer leerer -haben Sie kein Interesse mehr an unseren Andachten?", fragte kritisch einer der Seelsorger beim Leiter des Caritasstifts St. Josef in Verden an der Aller nach und setzte damit einen Prozess in Gang. In einem fruchtbaren Gespräch konnte die Wahrnehmung des Geistlichen überprüft und das Interesse des Altenpflegeheimes bekräftigt werden. Tatsächlich war der Gottesdienstbesuch in der Kapelle des Heimes immer schwächer geworden - es lag an der sich ändernden Bewohnerstruktur. Die Bewohner(innen) des Heimes wurden von Jahr zu Jahr schwächer und immobiler, und der Anteil der Demenzkranken wuchs. Auf der anderen Seite kamen auch Senior(inn)en ins Heim, die nicht mehr unkritisch und ganz selbstverständlich Gottesdienste besuchten. Anfragen ergaben sich aus ihrer Lebensgeschichte, ihren eigenen Bedürfnissen, ihrer derzeitigen Lebenssituation. Was wussten die Verantwortlichen aus Caritas und Seelsorge eigentlich von den seelsorglichen Bedürfnissen älterer, in der Regel pflegebedürftiger und zunehmend demenzkranker Menschen, und was konnte getan werden, um auf diese Bedürfnisse adäquat einzugehen?
Aus diesen Fragestellungen entwickelte sich die Grundidee eines Projektes mit dem Schwerpunkt Altenheimseelsorge. Die Qualität der Seelsorge und der pastoralen Arbeit im Heim, so der Anspruch, sollte sich genauso beschreiben lassen wie die Qualität von pflegerischen, hauswirtschaftlichen, technischen oder Verwaltungsleistungen.
Der vorliegende Beitrag gliedert sich in zwei Abschnitte: Im ersten beschreibt Burkhard Baumann den Anspruch an eine bewohner- und alltagsorientierte, qualitätsgesicherte Seelsorge im Altenpflegeheim. Im zweiten Abschnitt (s.u., ab Absatz "Seelsorge in Bewegung") schildert Willibald Lampe die Erfahrungen mit der Implementierung der neuen Ansätze im Bistum Hildesheim.
Seelsorge als Begleitung im Bewohneralltag
Ziel der Projektinitiative war, eine individuelle, bewohnerbezogene Seelsorge anzubieten, so professionell geplant und durchgeführt wie die Pflege im Heim. Auf dieser Basis sollte es spezielle pastorale Angebote für pflegebedürftige und altersverwirrte Menschen ebenso geben wie für ihre Angehörigen und Pflegenden. Es galt, den pastoralen Anspruch - wie er sich unter anderem in der Rahmenkonzeption für die Altenhilfe des DCV ausdrückt1 - sowie das am christlichen Menschenbild orientierte Leitbild des Pflegeheims zu operationalisieren. Dabei musste zunächst geklärt werden, was überhaupt unter dem Begriff Seelsorge zu verstehen sei.
In dem Modell der Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens (AEDL) nach Monika Krohwinkel2 werden auch die Sicherung der sozialen Bereiche des Lebens und der Umgang mit existenziellen Lebenserfahrungen angesprochen. In diesem existenziellen Sinne ist Seelsorge als das Teilen von Lebenserfahrungen zu verstehen, also von Freud und Leid. Diese Anteilnahme geschieht in der Arbeit mit Älteren insbesondere im Alltag und in der gemeinsamen Rückschau auf das Leben. Dabei kann jede Person, die im Heim lebt oder arbeitet, zum/zur Seelsorger(in) werden. Seelsorge bedeutet hier zuallererst mitmenschliche Begegnung und Begleitung. "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute (...) sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi", so drückt es das Zweite Vatikanische Konzil aus.3 Es geht darum, eine ganzheitliche Lebensführung zu unterstützen und auf die spirituellen Bedürfnisse einzugehen. Dazu zählen auch das Angebot von Gottesdiensten und das Spenden von Sakramenten.
Qualitätsmanagement auch für die seelsorgliche Arbeit
Eine so verstandene Seelsorge als integraler Bestandteil der Arbeit im Heim sollte sich auch durch Nutzung des Instrumentariums des Qualitätsmanagements profilieren, das sich in der Pflege etabliert hat. Dazu wurden in Verden Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität beschrieben und zunächst seelsorgliche Kernprozesse identifiziert. Sie entsprechen den Phasen Einzug/Einleben, Leben im Heim und Abschiednehmen. Drei wesentliche Strukturelemente des Qualitätsmanagements kristallisierten sich heraus.4 Dazu gehörte ein Seelsorgeforum, um insbesondere den Austausch zwischen den Berufsgruppen beziehungsweise den Heimmitarbeiter(inne)n aller Bereiche mit externen Seelsorger(in-ne)n zu ermöglichen. Qualitätszirkel sollten eingerichtet werden, um seelsorgliche Bedürfnisse und die dementsprechend erforderlichen Leistungen und Standards definieren zu können. Als drittes Strukturelement sollte Fortbildung als Schulung im jeweiligen Hause angeboten werden.
Seelsorge wie Pflege planen
Kernstück des Konzeptes ist die neu entwickelte "Seelsorge-Planung": Im Zusammenhang mit dem biografischen Arbeiten - Biografiegespräch mit dem/der neuen Bewohner(in) - wird anhand eines seelsorglichen (Planungs-)Gespräches versucht, seine/ihre seelisch-geistigen Bedürfnisse herauszufinden. Dies geschieht mit aller Vorsicht und allem Respekt; ein kleiner Leitfaden ist dabei behilflich. Entsprechende Ressourcen, Probleme, Ziele und Maßnahmen werden in die Pflegeplanung aufgenommen.5 Ganz konkrete Maßnahmen können zum Beispiel das Erinnern an Gottesdienste beziehungsweise die Begleitung zu diesen sein oder die Vermittlung eines Gespräches mit einem Priester. Die seelsorglichen Gespräche offenbaren wiederkehrende spirituelle Bedürfnisse, die mit der Lebenssituation älterer und pflegebedürftiger Menschen zu tun haben: zum Beispiel den Umgang mit vielfältigen Verlusten oder die Versöhnung mit Teilen der eigenen Lebensgeschichte, mit anderen und mit Gott.
Subjektorientierung in solidarischer Gemeinschaft
Eine konkrete Zielvorstellung vom Ergebnis des seelsorglichen Bemühens lässt sich bewohnerbezogen beschreiben und in die individuelle Planung aufnehmen. In der Umsetzung entsteht so ein auf die Person zugeschnittenes Angebot als Teil seiner/ ihrer Pflegeplanung.
Aus dem geschilderten Seelsorgeverständnis folgt aber auch, dass sich Seelsorge in einer Kultur des "Sich-umeinander-Kümmerns" zu erweisen hat. Zu einem entsprechenden Klima tragen alle bei. Darüber hinaus gibt es derzeit im Caritasstift St. Josef folgende seelsorglichen Angebote für Bewohner(innen), Angehörige und Mitarbeiter(innen):
- seelsorgliches Erstgespräch durch den/die Seelsorgebeauftragte(n) des Hauses (Seelsorgeplanung),
- wöchentliche Andachten und Gottesdienste beider Konfessionen (Kapelle)
- Andachten für Menschen mit Demenz (Wohnbereich Demenz),
- "Reden über Gott und die Welt", ein Glaubensgesprächskreis für orientierte Bewohner(innen),
- Feiern im Jahreskreis, auch in einer dementengerechten Form,
- "Kehraus am Freitag", Kurzandacht für Mitarbeiter(innen),
- Einzelgespräche und Gesprächskreis für Angehörige,
- Gartengestaltung (Sinnesgarten), Hausgestaltung und Dekoration für alle Sinne,
- Vermittlung von hauptamtlichen Seelsorger(inne)n beider Konfessionen,
- Begleitung Sterbender und deren Angehöriger,
- Aussegnung und Erinnerungsrituale bei Verstorbenen,
- ökumenischer Erinnerungsgottesdienst für Angehörige und Mitarbeiter(innen).
Chance fürs christliche Profil
Seelsorge im Heim ist möglich, trotz des Mangels an beruflichen Seelsorger(inne)n. Zu den Voraussetzungen, die sich in der Praxis bewährt haben, zählen besonders:
- Seelsorge als Qualitätsbereich definieren und Qualitätsarbeit durchführen,
- eine(n) Seelsorgebeauftragte(n) in der Einrichtung benennen,
- Seelsorge planen wie andere Qualitätsbereiche auch,
- Mitarbeiter(innen) beteiligen, fortbilden und ermutigen,
- bessere und effizientere Kommunikation und Kooperation fördern.
"Ich hätte nie geglaubt, dass ich einmal eine Aussegnung am Sterbebett durchführen würde", erinnert sich eine Mitarbeiterin in der Pflege, "aber durch die Fortbildung, die Arbeitshilfe und die Ermutigung habe ich mich dann doch getraut; eine wirklich tiefe Erfahrung."
Nur durch einen konzeptionellen, das heißt planmäßigen Umgang mit dem Thema Altenheimseelsorge, kann die Leitung des Hauses sicherstellen, dass die seelsorgliche Begleitung nicht nur ein Zufallsprodukt, sondern ein berechenbares, darstellbares und dann auch ein einzuforderndes Angebot wird. Wird dies professionell umgesetzt, kann hier ein entscheidendes Profilierungsmerkmal liegen, das klar dem Selbstverständnis konfessionell geprägter Altenhilfe entspricht.
Seelsorge in Bewegung
Das Projekt zur Seelsorge in Alten(pflege)heimen im Bistum Hildesheim tragen heute - unter Moderation des Diözesan-Caritasverbandes - viele Einrichtungen mit. Einige pastorale Initiativen in und von Altenhilfeeinrichtungen - darunter besonders auch das Projekt "Seelenpflege in Verden" - hatten den Anfang gemacht. Einige zentrale Punkte und Erfahrungen des Projektes sind im Folgenden benannt, um damit in anderen Regionen und Bistümern für ähnliche Prozesse Mut zu machen.6
- Das Projekt "Altenheimseelsorge" wurde von den Einrichtungen getragen. Über fast zwei Jahre traf sich regelmäßig eine Projektgruppe von bis zu zwanzig Personen aus allen beteiligten Häusern und allen Berufsgruppen, vom Heimleiter bis zum Hausmeister. Das gab dem Projekt Erdung, der Seelsorge einen integralen Ort im Selbstverständnis des jeweiligen Hauses und den Mitarbeiter(inne)n gutes Selbstbewusstsein, denn Seelsorge ist Auftrag aller Mitarbeitenden im Haus.
- Das Projekt erarbeitete als Ergebnis ein Konzept und ein Handbuch. Auf dem Weg dorthin bedeutete es für alle Beteiligten auch eine intensive Auseinandersetzung, Fortbildung und Motivation. Neben dem Handbuch als Endresultat gab es im Laufe der Zeit durch den vielfältigen Austausch zahlreiche Impulse, Veränderungen, Neuerungen, Initiativen in den Einrichtungen. Die Treffen waren somit eine Börse guter Ideen und Praxiserfahrungen.
- Seelsorge ist Auftrag und Aufgabe aller Mitarbeiter(innen). Das Projekt hat dafür ganz viel Bewusstsein und Zustimmung geschaffen.
- Die Mitte guter Seelsorge sind Begegnung und Beziehung. Die Projektgruppe hat bewusst die Liebe als zentrale Kategorie gewählt, weil sich in diesem Begriff unsere menschliche Sehnsucht verdichtet und gleichzeitig unser Verständnis von Gott widerspiegelt (Deus caritas est).
- Alle religiösen Feiern, Riten, Rituale und Worte haben dem Ziel zu dienen, die Menschen mit dieser tragenden Kraft und Liebe Gottes in Berührung und Verbindung zu bringen.
- Das Altenpflegeheim ist kein leichter Ort - weder für die, die dort wohnen, noch für die, die dort arbeiten oder regelmäßig zu Besuch sind. Deshalb richtet sich Seelsorge an die - orientierten, demenzkranken, sterbenden - Bewohner(innen), aber auch an Angehörige und Mitarbeitende. Dabei sind Religiosität und Spiritualität, auf die sich Seelsorge bezieht, als eine menschliche Grunddimension anzusehen, die sich bei den Menschen (konfessionell) unterschiedlich manifestiert.
- Seelsorge geschieht kontextuell, ist eingebettet in den Alltag der Einrichtung. Die Organisationskultur, das Führungsverhalten auf verschiedenen Ebenen, die Kollegialität untereinander prägen das seelsorgliche Klima entscheidend mit.
- Seelsorge braucht Struktur. Wichtige Ergebnisse sind die Bestellung eines/einer Seelsorgebeauftragten in allen Häusern und die Einrichtung einer Seelsorgekonferenz auf Diözesanebene, die sich wie selbstverständlich einordnet in die Konferenzstruktur der diözesanen Altenhilfe. Auf diese Weise wird das Thema Seelsorge wachgehalten und gefördert, gerade in Zeiten, die von hartem Wettbewerb und schwieriger finanzieller Situation geprägt sind.
- Mit diesem Projekt haben die Einrichtungen ihr Verständnis eines christlichen Hauses, ihr Bild vom Menschen und von Pflege deutlich zum Ausdruck gebracht, haben ihre Verantwortung wahrgenommen. Wichtig ist dabei auch die Kooperation mit der Pastoral der lokalen Gemeinde und des Bistums. Das Altenheim will ein wichtiger Verwirklichungsort von Kirche und Pastoral sein, "ein starkes Stück Kirche" im Verbund mit anderen Orten in den neu entstehenden pastoralen Räumen.
- Deutlich ist aber auch: Seelsorge - damit auch christliche Identität und kirchliches Profil - gibt es nicht zum Nulltarif: weder im Blick auf Bewohner(innen) und Angehörige (hier müssen Mitarbeitende motiviert und befähigt werden) noch für die Mitarbeiter(innen) selbst (hier muss es Zeiten geben, in denen auch für ihre Seele gesorgt werden kann).
- Das schon erwähnte Handbuch umfasst in einem Ordner das Leitbild der im Projekt entwickelten Altenheimseelsorge, 13 Grundlagentexte, die das Thema in verschiedene Richtungen entfalten, und Selbstverpflichtungen, Standards, die wir uns auferlegt haben. Unter der Überschrift "Worauf Sie sich verlassen können" konstituieren sie Seelsorge als ein Markenzeichen in den beteiligten Einrichtungen. Ein erstes Praxisheft liegt dem Ordner bei, halbjährlich werden weitere in der Verantwortung eines Redaktionsteams der Seelsorgekonferenz folgen.
- Für alle am Projekt Beteiligten war zu spüren, dass im Bereich der Seelsorge in den Häusern viel in Bewegung gekommen ist. Deshalb hat das Handbuch auch diesen Namen bekommen: "Seelsorge in Bewegung". Diese Bewegung geht weiter in den Häusern und auf Bistumsebene, gegründet in einer breiten Motivation und strukturell abgesichert durch Seelsorgebeauftragte und Seelsorgekonferenz.
Anmerkungen
1. Rahmenkonzeption stationärer Altenhilfe des Verbandes katholischer Heime und Einrichtungen der Altenhilfe in Deutschland, Freiburg i. Br., 1997, insbesondere S. 3.
2. Kuratorium Deutsche Altershilfe (Hrsg.): Rund ums Alter. Alles Wissenswerte von A bis Z. München : C. H. Beck, 1996, S. 228.
3. Zweites Vatikanisches Konzil: Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, "Gaudium et spes", Vorwort.
4. Baumann, Burkhard; Abel, Peter: Seelenpflege : Qualitätsentwicklung und Seelsorge im Alten- und Pflegeheim. Caritasstift St. Josef, Verden/Hildesheim, 2003, S. 17 ff.
5. Ebenda, S. 47 ff.
6. Interessierte, die sich in ihrer Einrichtung oder Region auf einen ähnlichen Prozess einlassen möchten, sind herzlich eingeladen, sich über den unten genannten E-Mail-Kontakt an Willibald Lampe zu wenden.