Facharztbesuche im Altenheim sind Mangelware
Im Heim werden die Bewohner(innen) meist individuell durch niedergelassene Ärzte2 versorgt - in der Regel Hausärzte. Im Jahr 1994 hatten 38 Prozent der stationären Altenpflegeheime mit niedergelassenen Ärzten feste Vereinbarungen, um die medizinische Versorgung sicherzustellen. Inzwischen gilt dies nur noch für 18 Prozent der Einrichtungen, obwohl die Bewohner(innen) in den Heimen seither deutlich kränker und behandlungsbedürftiger geworden sind. Drei Prozent der Einrichtungen haben Arztpraxen von niedergelassenen Ärzten integriert, zwei Prozent der Einrichtungen kooperieren mit einem Krankenhaus und ein Prozent hat einen fest angestellten Arzt. Angestiegen im Vergleich zu 1994 ist der regelmäßige gerontopsychiatrische Konsiliardienst (Beurteilung und Mitbetreuung der Patient(inn)en durch einen anderen Arzt).3
Dabei sind gerade Heimbewohner(innen) oft auf Hausbesuche angewiesen. Denn nur wenn die Patient(inn)en ausreichend mobil sind, können sie ambulante medizinische Leistungen auch erreichen. Schaut man in die SÄVIP-Studie4, so ist bei 74,5 Prozent der Heimbewohner(innen) die Mobilität eingeschränkt. Durch weitere Erkrankungen (zunehmende Multimorbidität der Bewohner(innen)) ist die tatsächliche ärztliche Versorgung außerhalb des Heimes sehr gering. Beispiele weiterer Krankheiten sind Harninkontinenz (72 Prozent der Bewohner(innen)), Stuhlinkontinenz (45 Prozent) und Demenz (53 Prozent). Dies zeigt sich auch bei der Frage der im Pflegeheim diagnostizierten Demenzerkrankungen. Der Prävalenzwert (Krankheitshäufigkeit) der Demenz beispielsweise liegt in Deutschland bei 60 bis 65 Prozent, und die geringere Zahl ist ein Indiz für die fehlende Diagnostik der Demenz im Pflegeheim. Rund 81 Prozent der Heimbewohner(innen) besuchen keine Ärzte außerhalb des Heimes.5 Ein Lösungsansatz - auch aus der Sicht der Einrichtungsträger und der Mitarbeiter(in- nen) ist die Forderung, die Begleitung der Bewohner(innen) zum Arzt für die Personalbemessung der Pflegeheime zu berücksichtigen.
Die allgemeinärztliche Versorgung scheint laut dieser Studie flächendeckend sichergestellt - wenn auch immer weniger Kooperationsverträge bestehen. 72 Prozent der Heime erhalten wöchentliche und noch häufigere Besuche. Demgegenüber steht ein organisatorischer Aspekt. "Die häufig hohe Zahl verschiedener im Heim tätiger Ärzte erschwert die Umsetzung medizinischer Behandlung durch die Pflegekräfte. Eine bessere Koordination der Ärzte untereinander und Einbeziehung in das Fallmanagement der Pflegekräfte ist zum Erzielen einer guten Behandlungsqualität notwendig."6
Bei Fachärzten herrscht Flaute
Schaut man auf die fachärztliche Versorgung, stellt sich die Situation anders dar. 26 Prozent der Pflegeheime werden nicht von Internist(inn)en besucht, 15 Prozent nicht von Neurolog(inn)en. In 38,2 Prozent der Heime gab es über ein Jahr keinen Besuch eines/einer Gynäkologen/in, obwohl 80 Prozent der Bewohner(innen) Frauen sind. Ähnlich unzureichend stellt sich die urologische Versorgung dar, ebenso wie die augenärztliche, HNO-ärztliche und die zahnärztliche Versorgung. Dies ist umso bedeutsamer, da ein gutes Seh- und Hörvermögen Kommunikation erhält, ein Beitrag zur Sturzprophylaxe ist und eine HNO- und zahnärztliche Versorgung auf die wichtige Funktion des Gebisses zielt und somit auch ein Beitrag zur Behebung von Mangelernährung ist. Viele Heimbewohner(innen) tragen Hörgeräte, deren Anpassung, Pflege und Prüfung nicht im Blick sind und die Hörfähigkeit nicht optimal unterstützen. Trotz der hohen Rate von immobilen Bewohner(inne)n spielt die orthopädische Versorgung kaum eine Rolle.
Auch die Untersuchungen, die dem GEK-Pflegereport zugrunde liegen, weisen ein ähnliches Bild auf.7 Hier wurden pflegebedürftige Heimbewohner(innen) mit zwei Vergleichsgruppen in Beziehung gesetzt: mit Pflegebedürftigen in der häuslichen Pflege und mit nicht Pflegebedürftigen. Aus den Routinedaten ergab sich eine Orientierung am Normalfall von einem Arztbesuch pro Quartal. Die Bewertung der ärztlichen Versorgung im Pflegeheim fokussiert interessanterweise dieselben Formen der Unterversorgung wie bei der SÄVIP-Studie. Bei der Bewertung der Arzneimittelversorgung werden eine Überversorgung im Bereich der Psychopharmaka und eine Unterversorgung mit Antidementiva festgestellt.8
Wer nahe Angehörige hat, geht eher zum Arzt
Interessant ist auch der Befund, dass Heimbewohner(innen) mit nahen Angehörigen mehr Arztkontakte aufweisen. Bei verheirateten Heimbewohner(inne)n zeigte sich, dass diese, womöglich als Folge sozialer Kontrolle, genau die Medikamente verordnet bekommen, die eher als zu wenig verordnet gelten (Antidementiva), und die Medikamente nicht verordnet bekommen, die vielfach in den Bereich der Überversorgung fallen (Analgetika, also Schmerzmittel, und Psychopharmaka).9
Der Ruf nach einer stärkeren Einbindung der Fachärzt(inn)e(n) hängt auch damit zusammen, dass die Kompetenzen der Hausärzte bei der Versorgung pflegebedürftiger Menschen kritisiert werden. Laut dem vierten Altenbericht der Bundesregierung erhalten hochaltrige Menschen, die ausschließlich vom/von der Hausarzt/-ärztin versorgt werden, im Durchschnitt zu spät eine angemessene Diagnostik und Therapie.10 Auch die Behandlung durch Neurolog(inn)en oder Psychiater(innen) weisen Versorgungslücken auf. Krankheitsbilder wie Demenz, Depression oder Parkinson bilden sich überproportional im Pflegeheim ab und fordern eine fachärztliche Versorgung. Die Medikationsrate am Beispiel der Antidementiva und Antidepressiva weist auf eine Unterversorgung hin, die auf eine mangelnde fachärztliche Versorgung und der mangelnden Besuchshäufigkeit der entsprechenden Fachdisziplinen zurückzuführen ist.
Ein Hinderungsgrund, als Hausarzt im Pflegeheim tätig zu werden, ist die Präsenzpflicht in der eigenen Praxis. Ärzte sind daher nur eingeschränkt verfügbar. Die aktuelle Vergütungssystematik schafft keine wirklich zusätzlichen Anreize. Aufgrund eines Ortswechsels müssen sich Bewohner(innen) beim Heimeinzug des Öfteren einen neuen Hausarzt suchen. In einigen Regionen zeigt sich bereits die Schwierigkeit, keinen Hausarzt für die Versorgung im Pflegeheim zu finden. Konzepte zur Verbesserung der Versorgungsqualität werden in Modellprojekten, Kooperationsverträgen und einer neuen gesetzlichen Regelung gesucht.
Neue Gestaltungsmöglichkeiten durch § 119b SGB V
Im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 1. Juli 2008 regelt § 119b SGB V nun die ambulante Behandlung in stationären Pflegeeinrichtungen.11 Danach können stationäre Pflegeeinrichtungen vom Zulassungsausschuss ermächtigt werden, an der vertragsärztlichen Versorgung der pflegebedürftigen Versicherten mit angestellten Ärzten teilzunehmen, wenn Kooperationsverträge mit dafür geeigneten vertragsärztlichen Leistungserbringer(inne)n innerhalb von sechs Monaten nicht zustande gekommen sind.
Das Recht auf freie Arztwahl der Versicherten in der Pflegeeinrichtung bleibt dabei erhalten. Der in der Pflegeeinrichtung tätige Arzt soll mit den übrigen Leistungserbringern eng zusammenarbeiten. Für die oftmals nicht optimale heimärztliche Versorgung ergeben sich neue Perspektiven. Mit der neuen Versorgungsmöglichkeit sollen die Schnittstellen Hausarzt/Facharzt/Pflegepersonal verbessert und unnötige Krankenhausaufenthalte vermieden werden.
Der Heimarzt ist aus finanzieller Sicht sinnvoll, wenn das Pflegeheim eine entsprechende Größe hat. Erfahrungswerte dazu, außer in Modellprojekten (Berliner Projekt)12, sind kaum bekannt. Das Pflegeheim wird zum Anstellungsträger des Arztes. Entsprechend der Anforderung nach § 119b SGB V ist der jeweilige Arzt geriatrisch fortgebildet; eine Voraussetzung, die in der derzeit üblichen Versorgung durch die niedergelassenen Hausärzte nicht gefordert wird. Weitere Aspekte, die auch als Hürden zu sehen sind, sind beispielsweise die haftungsrechtlichen Aspekte (Verhältnis Arzt - Heimträger), die Vertretungs- und Notdienstregelung, die freie Arztwahl in der Pflegeeinrichtung im Hinblick auf die finanziellen Verpflichtungen des Trägers durch einen angestellten Arzt und das Delegationsschema für die Pflegepersonen in den stationären Einrichtungen. Die Argumente, die von der Bundesärztekammer und der kassenärztlichen Vereinigung angeführt werden, einen Heimarzt nicht einzuführen, sind meist ausschließlich organisatorischer Art.
Für den Heimarzt vorteilhaft ist, praktisch wie ein Niedergelassener zu agieren, aber das wirtschaftliche Risiko nicht tragen zu müssen. Nachteilig ist, dass er über die ausgesprochene Ermächtigung ausschließlich die Heimbewohner(innen) behandeln darf. Es bleibt abzuwarten, ob und welche Ärzte diese neue Gestaltungsmöglichkeit als Tätigkeitsfeld annehmen, wenn im Sinne des § 119b SGB V die Sicherstellung nur durch eine heimärztliche Versorgung möglich wird.
Die Diskussion darf sich nicht auf die heimärztliche Regelung beschränken, da die fachärztlichen Versorgungsprobleme damit nicht gelöst werden. Die gesetzliche Möglichkeit ist im Zusammenspiel von weiteren Alternativen zu sehen. Die medizinische Versorgungsqualität ist auch durch Kooperationsverträge der Pflegeheime mit gegebenenfalls auch mehreren Ärzten zu unterstützen. Dazu schließen Altenpflegeheim und Arzt (gegebenenfalls auch mehrere Ärzte) einen Kooperationsvertrag. Auch die integrierte Versorgung, die mit § 92b SGB XI um die Beteiligung der Pflegeeinrichtungen erweitert wurde, könnte ein Ansatzpunkt sein.13
Vertraglich einfacher lässt sich ein Mietverhältnis mit einem Arzt für eine Arztpraxis im Pflegeheim beziehungsweise in unmittelbarer Nähe gestalten. Der Arzt als Mieter führt eine selbstständig wirtschaftende Einheit, wobei das Recht auf freie Arztwahl sichergestellt wird.
"Neben"-Befunde für eine mangelhafte Versorgung
Ursachen für eine nicht adäquate medizinische Versorgung können auch in Zuständigkeitsfragen und Barrieren zwischen Bewohner(inne)n, Angehörigen, Pflegekräften und Ärzten liegen. "Neben diesen Gründen spielen aber auch spezielle finanzielle Anreize, die vom Honorierungssystem ausgehen, eine Rolle."14 "Die medizinische Versorgung von Pflegeheimbewohnern und insbesondere die Hausbesuche im Pflegeheim werden für Ärzte als finanziell nicht sehr attraktiv bewertet."15
In der SÄVIP-Studie wurde festgestellt, dass 98,8 Prozent der Arztbesuche vom Heimpersonal ausgelöst werden, gleichwohl die Verantwortung für die medizinische Versorgung formal bei den Heimbewohner(inne)n selbst, ihren Angehörigen und Betreuer(inne)n liegt.
Wegweisende Kriterien für eine gute Zusammenarbeit mit den Hausärzten sind in der Handreichung der Diakonie aufgearbeitet.16 Die Liga der Wohlfahrtsverbände in Baden-Württemberg hat zusammen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg diese Problematik aktuell aufgegriffen und sich zu einer Projektarbeit zusammengefunden. Ziel ist, unter anderem Leitlinien für eine gute Zusammenarbeit aufzustellen.
Einsatz von Pflegeexperten - eine weitere Verbesserung
Neben der medizinischen Versorgung durch Ärzte bietet die Diskussion um den Einsatz von Pflegeexpert(inn)en einen weiteren Ansatzpunkt zur Verbesserung der Situation.17 Pflegeexpert(inn)en beziehungsweise Pflegespezialist(inn)en (Nurse Practitioner, Advanced Practice Nurse) sind Gesundheits- und Krankenpfleger(innen), die über Expertenwissen, komplexe Entscheidungsfindungsfähigkeiten und klinische Kompetenzen für eine erweiterte Praxis verfügen. Sie sind Praktiker(innen), die mit einer breiten Palette von Leistungen der medizinischen Grundversorgung im Rahmen der festgelegten Qualitätsstandards die Versorgung sichern. Zusätzlich zur Gesundheitsförderung und Prävention beobachten sie akute und chronische Krankheiten, haben je nach Berufsrecht, welches international unterschiedlich ist, pharmakologische und nicht- pharmakologische therapeutische Möglichkeiten und koordinieren die interdisziplinäre Versorgung in einem Pflegeheim.
Ein Blick in die internationale Entwicklung zeigt, dass sogenannte "Nurse Practitioner" seit Mitte der 70er Jahre auch die gerontologischen Einsatzfelder in den stationären Altenpflegeeinrichtungen im Blick haben. Zeit, sich auch in Deutschland damit zu befassen.
Anmerkungen
1. Vgl. BMFSFJ (Hrsg.): Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation. 2002.
2. Der Lesefreundlichkeit wegen wird in diesem Artikel ausnahmsweise die weibliche Form "Ärztin" nicht ausgeführt. Frauen sind an entsprechender Stelle mitgemeint.
3. Vgl. Schneekloth, Ulrich; Wahl, Hans Werner: Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in stationären Einrichtungen (MuG IV). 2007, S. 69.
4. Vgl. Hallauer, Johannes et al.: SÄVIP - Studie zur ärztlichen Versorgung in Pflegeheimen, Vincentz Network Marketing Service. Hannover, 2005, S. 17.
5. Vgl. ebd., S. 20.
6. Vgl. ebd., S. 46.
7. Vgl. Rothgang, Heinz et al.: GEK-Pflegereport. In Gmünder Ersatzkasse - GEK (Hrsg): Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Band 66, 2008, S. 210.
8. Ebd., S. 230.
9. Ebd., S. 251.
10. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland : Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger - unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen. 2002, S. 234.
11. KKF-Verlag (HG): Pflege VG-Handbuch Soziale Pflegeversicherung. 2008, S. 289.
12. Im "Berliner Modell - die Pflege mit dem Plus" haben die Krankenkassen AOK und IKK mit Hausärzten und der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) einen Vertrag. Hausärzte erhalten 2,24 Euro pro Patient und Belegtag. Das sind maximal 240 Euro im Quartal. Der Vertrag mit der KV läuft jedoch im März 2010 aus. Die AOK dehnt das Projekt inzwischen auf weitere Heime aus, allerdings unter geänderten Bedingungen.
13. Nach § 92b Integrierte Versorgung können Pflegekassen mit zugelassenen Pflegeeinrichtungen und den weiteren Vertragspartnern nach § 140b Abs. 1 des Fünften Buches Verträge zur integrierten Versorgung schließen oder derartigen Verträgen mit Zustimmung der Vertragspartner beitreten.
14. Rothgang, a.a.O., S. 254.
15. Ebd., S. 255.
16. Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Deutschland e.V. (Hrsg.): Ärztliche Versorgung im Pflegeheim. 2005.
17. Hallauer et al. fordern den Ausbau der wichtigen Ressource Pflegepersonal, da es den dichtesten und regelmäßigen Zugang zu den Bewohner(inne)n hat. Pflegeexpertise kann so Allgemein- und Fachärzte gezielt unterstützen.