Der Kinderschutz steckt noch in den Kinderschuhen
In unseren Einrichtungen nimmt die Zahl der Kinder und Jugendlichen zu, die in Obhut genommen werden. Jugendliche, die keine Empathie gegenüber Mitmenschen entwickeln konnten, schlagen ohne Erbarmen grausam Menschen zu Tode.
Die Kommission Kinderschutz der Caritas-Diakonie-Konferenz Hessen1 hat einen umfangreichen Bericht vorgelegt, der das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt stellt. Der Bericht setzt sich für Kinderrechte ein und hebt die Verantwortung der Gesellschaft für ein gelingendes Aufwachsen der Kinder hervor (siehe auch Titelthema neue caritas, Heft 11/2008, S.9 bis 18; neue caritas, Heft 12/2007, S. 21).
In Familien erleben Kinder Glück und Geborgenheit. Familien können aber auch Orte des Schreckens und der Gewalt werden. Zahlreiche mediale Berichte bewirken zwar eine gewisse Sensibilisierung der öffentlichen Wahrnehmung, denn entsprechende Hinweise bei Jugendämtern und Polizei nehmen zu. Um den Kinderschutz aber dauerhaft zu verbessern, fordern Fachleute, das Kinderrecht in den Vordergrund zu stellen. Die Einstellung, nach der Kinder nur ein Anhängsel ihrer Eltern sind, ist zu überwinden.
Das ausdrückliche Gewaltverbot in der Erziehung, auch in den Familien, wurde beispielsweise im Jahr 2000 als Gesetz (§ 1631, Abs. 2 BGB) verabschiedet. Kinder und Jugendliche werden ausdrücklich als Träger eigener Rechte benannt. Eheliche und uneheliche Kinder werden im Umgang mit beiden Eltern gleichgestellt. Es besteht Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung wurde gesetzlich geregelt. Aber im Grundgesetz kommen die Kinderrechte nicht explizit vor.
Die Eltern stehen in der Verantwortung. "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht" (Art.6 Abs. 2 GG). Der Staat wacht darüber, dass Verletzungen des Kindeswohls nicht vorkommen (Wächteramt). In Deutschland besteht aber wegen der historischen Erfahrungen mit Eingriffen des Staates in die Familien (im Nationalsozialismus und während der DDR-Diktatur) wenig gesellschaftliche und politische Akzeptanz gegenüber der Installation eines Systems der frühen Hilfen für alle Eltern nach dem Vorbild angelsächsischer oder skandinavischer Staaten.
Die Kommission geht davon aus, dass nicht die gesetzlichen Grundlagen und Instrumente des Kinderschutzes mangelhaft sind, sondern der Umgang damit. So werden in der alltäglichen Praxis immer wieder eine Reihe von Problemen sichtbar, die oft auf mangelnde Abstimmung von Bund, Ländern und Kommunen, aber auch der Institutionen untereinander, die für die Umsetzung eines Hilfeplans verantwortlich sind, zurückzuführen sind.
Das Jugendamt als Feindbild
Das Misstrauen gegenüber Institutionen wie dem Jugendamt verhindert oft, dass rechtzeitig Hilfe in Anspruch genommen wird. Dabei stehen die Mitarbeitenden im Spannungsfeld zwischen einer unpersönlichen, formalen Bürokratie und dem sozialen Dienst am Menschen. Sie besitzen in Bezug auf die von ihnen betreuten Familien und Kinder die problembezogene Definitions- und Entscheidungsmacht, sie haften persönlich (auch strafrechtlich) in vollem Umfang für ihr Handeln.
Jugendamt, Polizei und Familiengerichte üben das Wächteramt des Staates aus. Es gibt erhebliche Schwachstellen, die die Organisation selbst, die Zusammenarbeit, aber auch Handlungsziele und Arbeitsabläufe betreffen. Die Polizei wird mit Kindeswohlgefährdung meist im Zusammenhang mit akuten Fällen von häuslicher Gewalt konfrontiert. Sie ist als Zuhörer, Vermittler und Helfer gefragt. Ihre Meldung erfolgt bei den zuständigen Stellen, hier dem Jugendamt.2 Die freien Träger der Erziehungshilfe als Vertragspartner des Jugendamtes haben ihrerseits oft nicht die Möglichkeit, präventiv und eigeninitiativ tätig zu sein. Die fachlichen Kompetenzen und Ressourcen zum Schutz von Kindern werden im Einzelfall erst in Anspruch genommen, "wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist" (§ 27, Abs. 1 SGB VIII), wenn das Kind also deutlich gefährdet ist. Obwohl das Gesetz grundsätzlich einen individuellen Spielraum bei der Gestaltung der Hilfeplanung vorsieht, ist für die freien Träger die Rolle des Auszuführenden klar vorgegeben. Belegungsabhängige Finanzierungen engen die Träger ein, ihre fachlichen Möglichkeiten voll auszuschöpfen.
Dem Familiengericht kann jede Familienschutzgefährdung von jedem Bürger mitgeteilt werden; für die Fachkräfte, die öffentlichen und kirchlichen Jugendhilfeträger, ist die Weitergabe von Informationen gesetzlich geregelt. Doch das Familienrecht gilt immer noch als "Stiefkind der Justiz". Die Arbeit der Familiengerichte leidet unter schlechter personeller Ausstattung, häufig wechselndem Personal und mangelhafter Vorbereitung auf das Amt. Fortbildungen sind nicht verpflichtend.
Kein Schutz für Flüchtlinge
Problematisch sind die gesetzlichen Umsetzungen zum Wohl des Kindes bei Flüchtlingsstatus, insbesondere bei prekärem Aufenthalt. Diese Kinder haben einen eingeschränkten Anspruch auf Schutz und Durchsetzung ihrer Grund- und Menschenrechte. Damit verstößt die Bundesrepublik gegen internationale Rechte und gegen Grundrechte (zum Beispiel Art. 1, 2 und 6 GG).
Für den Bereich der Prävention und das adäquate Erkennen von Kindeswohlgefährdungen kommt den Kindertagesstätten und Schulen eine Schlüsselfunktion zu. Gesetzlich ist zum Auftrag der Erziehung, Bildung und Betreuung der Schutzauftrag vor Kindeswohlgefährdung hinzugekommen. Ausreichende Qualifikation der Erzieher(innen) und Lehrkräfte und die fachliche Zusammenarbeit mit dem Jugendamt ermöglichen Hilfeleistung zum rechten Zeitpunkt. Das Thema Kinderschutz spielt in den Schulen jedoch eine untergeordnete Rolle. Vorrang hat das Vermitteln von Bildung. Anti-Gewalt-Programme beschäftigen sich überwiegend mit der Bekämpfung von Gewalt unter den Schüler(inne)n, gegen Sachen oder von Schüler(inne)n gegen Lehrer(innen). Gewalt gegen Kinder, von Eltern oder Lehrkräften, wird nicht in den Blick genommen. Das Thema Kinderschutz wird nur dann relevant, wenn der Lernerfolg gefährdet wird. Eine Vernetzung von Schulen und Jugendhilfe gibt es viel zu selten.
Im Gesundheitswesen mangelt es bis heute an einer Kooperation des Gesundheitsamtes, der Kinderärzt(inn)e(n), Krankenhäuser und Hebammen mit der Jugendhilfe. Eine adäquate Ausbildung, die zum Beispiel Unfallverletzungen klar von Misshandlungen unterscheiden lässt, Kooperation mit dem Jugendamt trotz der Befürchtung, mit den Eltern Kund(inn)en zu verlieren, speziell ausgebildete Familienhebammen und Kinderkrankenschwestern, die nicht nur in befristeten Modellprojekten eingesetzt werden, wären dem Anliegen des Kinderschutzes dienlich.
Die Kommission zum Schutz der Heranwachsenden spricht bei der kritischen Bestandsaufnahme aber auch Anerkennung für die Fachkräfte in den einzelnen Feldern der Jugendhilfe aus. Die notwendige Zusammenarbeit aller Beteiligten setzt eine Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung und Respekt voraus. Alle sind gefordert, dazu beizutragen, dass kein Kind verloren geht.
Anmerkung
1. Der Kommission gehören 22 Fachleute aus den Wohlfahrtsverbänden, dem Jugendamt, der Polizei, aus Politik, Medizin und Justiz an. Die Broschüre steht zum Download unter www.dicv-limburg.de/61380.html.
2. Als Beispiel gelungener Zusammenarbeit wurde der Kommission das Modell der AG Jaguar von der Polizeidirektion Wiesbaden vorgestellt (Prävention von Jugendgewalt).