Bessere Chancen durch Medienkompetenz
Sich mit dem Themenfeld "Medien und soziale Benachteiligung" auseinanderzusetzen verweist auf vielschichtige Probleme. Als wichtige Punkte lassen sich festhalten:
- Insbesondere für Jugendliche ist der Zugang zu digitalen Medien in den letzten Jahren immer alltäglicher geworden. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass im Sozialisationsfeld Schule nach wie vor schulartenspezifische Unterschiede bestehen: Die Zugangsmöglichkeiten sind an Grund- und an Hauptschulen schlechter, und es gibt dort für Schüler(innen) nicht genügend Möglichkeiten für das Erstellen eigener Medienproduktionen.
- Die Formen und Funktionen der Medienaneignung sind unterschiedlich und lassen Bezüge zu sozialen und bildungsbezogenen Kontexten erkennen. Unterschiede zwischen Nutzergruppen bestehen bezüglich vorhandener Lese-, Schreib- und audiovisueller Kompetenzen sowie bei den inhaltlichen Präferenzen und der Navigationspraxis in der Onlinenutzung. Prägend für unterschiedliche Formen der Medienaneignung bei Kindern und Jugendlichen sind familiäre Milieus und das dort jeweils vorhandene kulturelle Bildungskapital.
- Befunde aus der aktuellen Studie "Medienaneignung in Hauptschulmilieus"1 zeigen, wie Hauptschüler(innen) virtuelle Welten und das Web 2.02 nutzen. Deutlich werden die Stärken in vorhandenen Wissensbeständen und Kompetenzen, aber auch die Problem- und Risikobereiche. Die Studie arbeitet heraus: Soziale Beziehungen werden von den Jugendlichen mittels Medien gestaltet und organisiert. Präsentativ-symbolische Ausdrucksformen (vor allem Bilder, Musik) sind Mittel und Ankerpunkt für die Artikulation und Darstellung eigener Bedürfnisse und Themen. Probleme und Risiken sind dabei am deutlichsten im Bereich der Datenweitergabe zu beobachten.
- Im Bereich der schulischen Medienbildung besteht neben der deutlich schlechteren Medienausstattung an Grund- und Hauptschulen das Problem einer Kluft in den medienbezogenen Grundhaltungen und Orientierungen zwischen vielen Pädagog(inn)en einerseits und vielen Schüler(inne)n andererseits. Dieses Problem ist insbesondere in Hauptschul- und Migrationsmilieus ein Benachteiligungsfaktor, wenn sich fehlende medienpädagogische Kompetenzen bei Lehrkräften mit der Abwertung von Medienpräferenzen der Kinder und Jugendlichen verbinden.
Eine Querschnittsaufgabe mit vielen Ansatzpunkten
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Aspekte sozialer Benachteiligung bei der Medienaneignung vor allem bei den vorhandenen äußeren Ressourcen deutlich werden, die Kindern und Jugendlichen zur Verfügung stehen. Ihre Fähigkeit zu einem reflexiven und kritischen Medienumgang hängt eng mit den familiären und anderen sozialen Anregungsmilieus zusammen. Medien sind nicht Verursacher sozialer Ungleichheit, können aber als Verstärker wirken. Deshalb sind pädagogische Angebote in unterschiedlichen Handlungsfeldern wichtig - von der frühen Bildung über die schulische Bildung bis hin zur Familien- und Elternbildung.
Dabei ist zu beachten, dass "Benachteiligung" als strukturelle Kategorie auf bestimmte Lebenslagen verweist, aber nicht für jedes Mitglied der betreffenden Gruppe zutreffen muss. Sozial und bildungsmäßig benachteiligte Gruppen sind nicht homogen. Es besteht vielmehr die Gefahr einer Stigmatisierung ganzer Gruppen, wenn übersehen wird, dass stets individuell unterschiedliche Verarbeitungsweisen von Benachteiligung möglich sind.
Medienpädagogik ist gefordert, Gegengewichte zu Prozessen gesellschaftlicher Ausgrenzung und sozialer Benachteiligung zu setzen. Projekte wie die Bundesinitiative "Jugend ans Netz", "Digitale Chancen" und andere Projekte auf Bundes- und Länderebene haben hier wichtige Schritte unternommen, um Bildungsklüfte im Medienbereich abzubauen und Netzwerke zur Qualifizierung von Mitarbeiter(inne)n zu bilden. Notwendig sind vor allem zielgruppenspezifische Konzepte einer aktiven Medienarbeit, die sozial, medienästhetisch und kommunikativ auf die jeweiligen Bedürfnisse, Aneignungsformen und Themen hin ausgelegt sind.
Vor allem in der handlungsorientierten Auseinandersetzung mit Medien gelingt es, Fähigkeiten zur reflexiven Distanz gegenüber medialen Inszenierungen auszubilden. Dabei kann an Formen alltäglicher Medienkritik angeknüpft werden, die bei Kindern und Jugendlichen vorhanden sind. Folgende Erfahrungen und Empfehlungen aus Praxis- und Modellprojekten, die überwiegend im Schnittfeld von schulischer und außerschulischer Medienbildung gemacht wurden3, sind hervorzuheben:
- Erfahrungs- und Lebensweltorientierung: Anknüpfen an den vorhandenen Stärken und Themen, die Kinder und Jugendliche haben, die für sie zentral und handlungsleitend sind.
- Bilder, Musik, Körpersprache stärker integrieren: Dies ist besonders für Kinder und Jugendliche wichtig, die Schwierigkeiten mit der Wort- und Schriftsprache haben. Aus Studien über Bildungsbenachteiligung die Schlussfolgerung zu ziehen, Kindern und Jugendlichen aus benachteiligenden Verhältnissen seien verstärkt schriftsprachliche Kompetenzen zu vermitteln, reicht nicht aus. Notwendig ist ein integriertes Konzept, das wort- und schriftsprachliche mit bildhaften und multimedialen Ausdrucks- und Kommunikationsformen in eine Balance bringt.
- Ästhetische Reflexivität fördern: Zur Integration medialer Kompetenzen gehört die Vermittlung und Förderung einer Reflexivität, die Kinder und Jugendliche für ästhetische Qualitätskriterien sensibilisiert. Dies bedeutet zum Beispiel, selbst erstellte Foto- und Videoaufnahmen gemeinsam anzusehen, zu vergleichen, sich gegenseitig Verbesserungshinweise zu geben. Ausgangspunkt und Gegenstand solcher Reflexionen sind die (audio-)visuellen Materialien und die damit verbundenen Ausdrucksintentionen; sinnliche Wahrnehmung und reflexive Verarbeitung sind als Symbolverstehen miteinander verknüpft.
- Medienästhetisch-kulturelle Kompetenzen sind auch für die Arbeitswelt wichtig. Jugendliche haben zunächst einmal das Bedürfnis, für eigene Medienproduktionen Themen aufzugreifen, die sie in ihrer Freizeit beschäftigen. Die dabei erworbenen Kompetenzen sind auch für die Arbeitswelt wichtig: sozial-kommunikative, ästhetische, technische, methodische Kompetenzen. Diese Verknüpfungsmöglichkeiten von "ästhetisch-kulturell" und "arbeitsweltbezogen" sollte man konzeptionell viel stärker im Auge haben - anstatt in Berufsschule und Arbeitswelt einseitig auf technisch-instrumentelle Medienkurse zu setzen.
- Spielerische und experimentelle Arbeitsweisen fördern: Heute leben wir in einer Zeit, in der wir mit einer enormen Fülle verschiedenartigster Informationen konfrontiert sind. Es ist notwendig, eigene Kriterien für die Auswahl zu entwickeln und gleichzeitig für unterschiedliche Perspektiven offen zu sein, um eigene Horizonte zu erweitern. In pädagogischen Kontexten hat sich hierfür ein Mix aus spielerischen Arbeitsformen, einem Rahmen und situationsspezifischen Inputs bewährt. "Rahmen" meint, dass Pädagog(inn)en eine gewisse Struktur bieten, die neben bestimmten Vorgaben (wie zum Beispiel einem Filmgenre) zugleich Zeit und Flexibilität fürs spielerisch-experimentelle Gestalten lässt. Hierzu gehören auch kleinschrittige Übungsaufgaben und Produktionsmöglichkeiten, die weder unter- noch überfordern.
- Präsentation und Kommunikation lernen. Dies sind sogenannte Schlüsselkompetenzen, die immer wichtiger werden: nicht nur zu produzieren, sondern das Selbstgestaltete anderen zu zeigen und vorzustellen, Feedbacks zu erhalten, zuzuhören, auf andere einzugehen. Das Präsentieren befähigt, zu dem eigenen Produkt zu stehen, Kritik auszuhalten, auf Kritik einzugehen. Es ist ein Erfahrungswert aus vielen Projekten, dass sich durch das Präsentieren selbst erstellter Medienproduktionen Selbstbewusstsein und der Mut gewinnen lassen, die eigene Arbeit fortzusetzen.
Neue Ausbildungsinhalte für Pädagogen sind erforderlich
Um Medienkompetenzen von Kindern und Jugendlichen insbesondere aus Migrationsmilieus zu verbessern, benötigen wir Pädagog(inn)en, die über eine medienpädagogische Grundbildung verfügen und die bereit sind, sich auf die Symbol- und Medienwelten der Kinder und Jugendlichen einzulassen. Anstatt kognitionslastige Konzepte zu favorisieren, die Sinnlichkeit, Intuition und Assoziation in der Wahrnehmung unterschätzen (zum Beispiel Überbetonung planerischer Elemente in der Filmproduktion), sollten Lehrkräfte genau hinschauen, wie Kinder und Jugendliche mit digitalen Medien umgehen, welche Form des Zugangs, der Aneignung und des Ausdrucks sie bevorzugen und entwickeln.
Nach wie vor sind viele Pädagog(inn)en zu sehr in einer Symbolsozialisation befangen, die auf dem Diskursiven, auf dem Wort- und Schriftsprachlichen beruht. Sie haben oft Angst, sich auf bestimmte Gesten, körperliche Ausdrucksformen, symbolische Codes einzulassen. Sie gehen oft immer noch zu thematisch vor, anstatt erst einmal einen pädagogischen Bezug herzustellen.
Die Herausforderung besteht darin, konsequent an den vorhandenen Erfahrungen, Themen und Ausdrucksbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen anzusetzen. Ähnlich wie beim Erwerb der Schriftsprache bedarf es sehr langfristig angelegter Bemühungen - von Formen einer medialen Früherziehung bis hin zum Erwerb differenzierter medialer Kenntnisse und Gestaltungsformen. Mediale Kompetenzbildung braucht Zeit und Raum für Ausprobieren, Produktion und Reflexion und lässt sich nicht im Rahmen eines einzelnen Projekts realisieren.
Die Förderung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen aus bildungsmäßig und sozialstrukturell benachteiligten Milieus setzt qualifizierte Pädagog(inn)en voraus. Hierfür ist es not- wendig, medienpädagogische Inhalte in der Ausbildung von pädagogischen Fachkräften verbindlich in Studien- und Prüfungsordnungen zu verankern. Es geht dabei nicht nur um Wissensbestände, sondern auch um die Reflexion eigener Haltungen gegenüber Medien. Die Entwicklung differenzierter Medienkritik ist ohne medienbiografische Selbstreflexionen der Studierenden - ihr Reflektieren eigener Medienerfahrungen - nicht möglich. Diese Selbstreflexionen sind eine Voraussetzung für ein zielgruppenbezogenes Handeln, das alters-, bildungs-, geschlechts- und milieubezogene Unterschiede berücksichtigt. Das Problem der "Mittelschichtlastigkeit" pädagogischer Konzepte ist im Übrigen nicht nur an Schulen vorhanden. Es ist mitunter auch ein Problem im außerschulischen Bereich, wie zum Beispiel eine aktuelle Studie von Stefan Welling zur Computerpraxis Jugendlicher und den Formen medienpädagogischen Handelns bei Jugendhaus-Mitarbeiter(inne)n zeigt.4
Literaturhinweise
Kompetenzzentrum Informelle Bildung (Hrsg.): Grenzenlose Cyberwelt? : Zum Verhältnis von digitaler Ungleichheit und neuen Bildungszugängen für Jugendliche. Wiesbaden, 2007.
Maurer, Björn: Medienarbeit mit Kindern aus Migrationskontexten. Grundlagen und Praxisbausteine. Reihe Medienpädagogische Praxisforschung, Bd.1. München, 2004.
Niesyto, Horst: Medienpädagogik und soziokulturelle Unterschiede. Eine Studie zur Förderung der aktiven Medienarbeit mit Kindern und Jugendlichen aus bildungsmäßig und sozial benachteiligten Verhältnissen. Baden-Baden/Ludwigsburg, 2000.
Niesyto, Horst: Die soziale Frage in Medienforschung und Medienpädagogik. Vortragsmanuskript, 2008. URL: www.jff.de/dateien/Tagungsdoku_SozU_Teil2.pdf
Anmerkung
1. Wagner, Ulrike: Medienaneignung in Hauptschulmilieus. München, 2008.
2 "Web 2.0" meint das aktuell rasch wachsende "Internet der zweiten Generation", das Nutzer(inne)n ungleich mehr interaktive Möglichkeiten bietet als früher, um sich mit ihrer Individualität in Online-Angebote einzubringen und diese mitzugestalten. Das kann beispielsweise durch das Hochladen eigener Beiträge geschehen.
3. Die Erfahrungen beziehen sich vor allem auf die internationalen Praxisforschungsprojekte "VideoCulture - Video und interkulturelle Kommunikation" und "Children in Communication about Migration" (CHICAM); siehe www.ph-ludwigsburg.de/7352.html.
4. Welling, Stefan: Computerpraxis Jugendlicher und medienpädagogisches Handeln. Reihe Medienpädagogische Praxisforschung, Bd. 4. München, 2008.