Zwischen Armutszeugnis und Notwendigkeit
Wie drückt man es treffend aus? "Armut im Überfluss" oder "Armut in Überfluss"? Beide Formulierungen scheinen zu stimmen, wenn man das Konzept betrachtet und den Boom, den die Tafeln in Deutschland seit Jahren erleben. Das Bistum Trier macht da keine Ausnahme. Tafeln sind auch hier im Kommen und werden von den Menschen sehr angenommen. Eben von jenen, die sie am nötigsten brauchen: Arbeitslosengeld-II-Empfänger(innen), Menschen mit zu geringem Arbeitseinkommen, Alleinerziehende, Menschen mit kleiner Rente, Wohnungslose, Migrant(inn)en.
Vor diesem Hintergrund wächst der erschreckende Gedanke, dass sich Tafeln heimlich und schleichend zu einem auf Dauer tragenden sozialen Erfolgsmodell entwickeln könnten. Zweifellos würde das für unser soziales Sicherungssystem bedeuten, dass wir uns darauf einlassen, einen Teil der Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes "abzuspeisen". Tafeln provozieren förmlich den Widerspruch. Sie sind ein "Erfolgsmodell", das eigentlich niemand wollen kann, und doch scheinen sie gegenwärtig unverzichtbar, weil notwendig. Eine schwierige Gratwanderung für einen Wohlfahrtsverband, wenn er sich auf die Trägerschaft einer Tafel einlässt. Bei den Caritasverbänden im Bistum Trier hat dies zu einem gründlichen innerverbandlichen Diskussionsprozess bis hinein in alle Gremien geführt, der mit einer verbandlichen Positionierung "Tafel plus"1 abgeschlossen wurde.
Soziale Teilhabe statt Armenspeisung
"Zuerst den Armen und Benachteiligten helfen", so ist das oberste Ziel im Leitbild der Caritas im Bistum Trier überschrieben. Aber weiter steht dort auch: "Den Menschen in seiner Würde schützen" und "Sich gemeinsam für eine humane Gesellschaft in Frieden und Gerechtigkeit einsetzen". Der Fachausschuss Armut des Diözesan-Caritasrates im Bistum Trier hat sich über fast zwei Jahre hinweg mit dieser schwierigen Thematik befasst. Auslöser waren Anträge an den sogenannten Armutsfonds, mit dessen Hilfe seit 1994 Projekte der Armutsbekämpfung gefördert werden. Die Anträge von Tafelprojekten haben gezeigt, dass der Aufbau und Betrieb solcher Einrichtungen eine umfangreiche Ausstattung der Räumlichkeiten sowie die Anschaffung geeigneter Fahrzeuge erforderlich macht.
Unstrittig war für den Ausschuss, dass Tafeln helfen, Not zu lindern und arme Menschen existenziell zu unterstützen. Fragwürdig blieb aber, ob dies eine Form von Hilfe ist, die der Würde des Menschen entspricht und die nachhaltig wirken kann. Diskutiert wurde auch, inwieweit man damit Entwicklungen bei den sozialen Sicherungssystemen begünstigt, wie sie eigentlich nicht gewollt sind. Denn als Wohlfahrtsverband müssen wir auf Sicherungssysteme hinwirken, die armutsfest sind und die Teilhabe auch armer Menschen am Wirtschaftssystem in selbstbestimmter Weise ermöglichen.
Kritisch diskutiert wurden auch die Folgen einer solchen Form sozialer Hilfe. Was heißt es zum Beispiel für das Empfinden und die Entwicklung von Kindern, wenn die Eltern regelmäßig auf geschenkte Lebensmittel einer Tafel angewiesen sind? Welche sozialen Spannungen entstehen, wenn Menschen unterschiedlicher Nationalität, unterschiedlichen Alters, unterschiedlich scheinender Betroffenheit sich wöchentlich an den Ausgabestellen drängen, um etwas von dem abzubekommen, was gerade verfügbar ist? Und schließlich war auch die Frage zu prüfen, wie sich ein solches System der Lebensmittelversorgung langfristig auf den Handel und die Versorgungsstrukturen auswirkt.
Der Fachausschuss hat sich mit den Fragen und Sichtweisen kritisch auseinandergesetzt. Er hat sich mit Trägervertretern sowie mit hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter(inne)n von Tafeln unterhalten, Projekte besucht und sich einen Eindruck von den Bedingungen und Abläufen in den Ausgabestellen verschafft. Einen Ausweg aus der Widersprüchlichkeit, aus dem, was man für notwendig und vernünftig halten muss und dem, was bedenklich und problematisch erscheint, hat er nicht gefunden. Klar wurde aber, dass es bei den Tafeln nicht um eine reine Ausgabe von Lebensmitteln gehen darf. Über das Stadium einer Armenspeisung als Antwort auf ungelöste soziale Probleme und menschliche Unzulänglichkeiten sollte die Caritas hinaus sein.
Eine Tafel muss mehr bieten als Lebensmittel
Entwickelt wurde im Fachausschuss das Papier "Tafel plus" als Positionierung und Empfehlung für Träger von kirchlichen und verbandlichen Tafelprojekten. Darin werden, basierend auf dem verbandlichen Selbstverständnis von Helfer, Anwalt und Solidaritätsstifter eine Reihe von Kriterien genannt, durch die sich die Ausgabestellen auszeichnen sollen. Wesentliche Grundsätze, die auch mit der Trägerschaft einer Tafel nicht aufgegeben oder vernachlässigt werden dürfen, sind:
- der Anspruch an Politik und Gesellschaft, dass jeder erwachsene Mensch das Recht auf menschenwürdige Erwerbsarbeit haben muss, um selbst für sich und den Unterhalt seiner Familie und Kinder sorgen zu können;
- der Anspruch, dass die Würde hilfebedürftiger Menschen durch Art und Form der Hilfegewährung nicht verletzt werden darf;
- der Anspruch, dass Tafeln sich nicht auf die Umverteilung von Lebensmitteln beschränken dürfen, sondern bei erkennbarem Bedarf weitergehende Hilfen erschlossen und Wege aus der Armut gesucht und aufgezeigt werden.
In dem Papier werden Hinweise zu möglichen Konzepten gegeben, um den Grundsätzen gerecht zu werden.
Im vergangenen Jahr hat erstmals ein Treffen der Trägervertreter stattgefunden. Dabei wurde deutlich, dass viele der mit "Tafel plus" verbundenen Erwartungen bereits in die Praxis Eingang gefunden haben:
- In fast allen Ausgabenstellen gibt es beispielsweise eine direkte Vernetzung mit den Beratungsdiensten der Caritas bis hin zur Verfügbarkeit oder Anwesenheit einzelner Berater(innen) am Ausgabetag. Soweit räumlich möglich, haben einzelne Ausgabestellen eigene Beratungsbüros eingerichtet, um bei Bedarf ein Erstgespräch führen zu können.
- In einzelnen Ausgabestellen werden Kochrezepte gesammelt und verteilt sowie Kochkurse für Tafelkunden angeboten.
- Es wurden Aktionen gestartet, Schulranzen und Schulmaterialien über Sach- und Geldspenden zu organisieren.
- Einzelne Ausgabestellen haben einen Bringdienst für Senior(inn)en und Menschen mit Behinderung aufgebaut.
- Vielfältige Kooperationen mit Pfarrgemeinden und Verbänden entstanden: abgestimmte Öffnungszeiten mit dem Roten Kreuz als Betreiber einer Kleiderkammer sowie ein Beschäftigungsprojekt in einer Tafel.
Bleibt abschließend die Frage, wie die Caritas Erfolg in Verbindung mit einer Tafel beschreiben will. Nach "Tafel plus" heißt Erfolg, bedürftigen Menschen im möglichen Umfang zu helfen und gleichzeitig auf sozialrechtliche Änderungen hinzuwirken, die langfristig dazu führen, existenzielle Not zu vermeiden.
Erfolgreich ist der Einsatz demnach erst, wenn der Zulauf zu den Tafeln zurückgeht, weil der Bedarf abnimmt. Im Umkehrschluss heißt das, es ist kein Erfolg, wenn immer mehr Menschen die Unterstützung der Tafel brauchen. Das wäre eher ein Armutszeugnis.
Anmerkung
1. Das Positionspapier "Tafel plus" kann unter www.caritas-trier.de herutergeladen werden.