Die Arbeit kann nicht mit Geld bezahlt werden
Knapp 70 Prozent der wohnungslosen und von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen haben ein Alkoholproblem (sowohl Abhängigkeit als auch Missbrauch). An ihren Treffpunkten trinken die Wohnungslosen häufig schon am frühen Morgen Alkohol. In den Wohnungen sammeln sich leere Schnapsflaschen. Ein Teufelskreis beginnt: Durch den Alkohol verlieren die Menschen häufig ihre Wohnung - und der Alkohol verhindert, dass sie in der Gesellschaft wieder Fuß fassen können. Spricht man die Klient(inn)en auf ihren Alkoholkonsum an, hört man oft: "Ich hab’ alles im Griff", "Ich kann jederzeit damit aufhören".
Die Mitarbeiter(innen) der Wohnungslosenhilfe ihrerseits haben häufig Hemmungen, die Klient(inn)en auf den Alkohol anzusprechen - aus Angst, sie brechen die Beratung ab. Zu einem Entzug lassen sich nur die wenigsten motivieren. Deshalb haben sich die Mitarbeiter(innen) der Frankfurter Caritas-Beratungsstelle für wohnungslose Menschen, Casa 211, intensiv mit der Frage beschäftigt, wie der Zugang zur Suchtkrankenhilfe für die Betroffenen erleichtert werden kann.
Das Problem "Motivation" wurde von Anfang an mitdiskutiert: Wie können die Klient(inn)en dazu ermuntert werden, sich mit den Themen Alkohol und Gesundheit auseinanderzusetzen? Bei diesen Diskussionen in der Casa 21 entstand das Projekt "Walk" ("Wohnungslosigkeit und Alkohol") im Jahr 2002 zunächst unter dem Namen "Alkfrei - Spaß dabei", ein Lösungsansatz, der mit der Fachambulanz für Suchtkranke (FaS) des Caritasverbandes Frankfurt entwickelt wurde.
Verantwortliche der Wohnungslosenhilfe und der Suchtkrankenhilfe der Caritas Frankfurt haben Hand in Hand an einem Konzept und dessen Umsetzung gearbeitet. Eine Suchtberaterin hat die Koordination des Projekts übernommen, die Rahmenbedingungen festgelegt und die Finanzierung sichergestellt. Sie wurde in die aufsuchende Arbeit der Beratungsstellen eingebunden. So konnte sie Kontakt zu den wohnungslosen Menschen aufnehmen und sich ein Bild von deren Lebenssituation machen. Darüber hinaus wurden Kontakte zu den anderen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe im Caritasverband Frankfurt geknüpft (Wohnwagenprojekt, betreutes Wohnen, Tagesstätten, Arbeitsprojekt), um auch dort den Bedarf an Suchtberatung zu ermitteln.
Das Angebot ist differenziert
Um eine zieloffene Suchtberatung gewährleisten zu können, ist ein differenziertes Angebot für die Betroffenen notwendig. Das Projekt umfasst folgende flexibel anwendbaren Module:
- Einzelberatung,
- Gruppenangebote,
- Freizeitangebote,
- tagesstrukturierende und motivationsfördernde Angebote,
- soziales Kompetenztraining,
- persönliche Begleitung,
- Fallkonferenzen.
In der Einzelberatung kommt Folgendes zur Sprache: Clearing (Ausloten der Veränderungsmotivation und Auftragsklärung), Diagnostik, Information über Wirkungen des Alkohols, Abgrenzung zwischen Missbrauch und Abhängigkeit, Alkoholfolgeerkrankungen, das Suchthilfesystem sowie Beratung über mögliche Hilfen und deren Planung. Dazu gehören auch die Antragstellung und Vermittlung in Entgiftung, Therapie oder andere Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe und die Zusammenarbeit mit anderen involvierten Stellen der Wohnungslosenhilfe, zum Beispiel, um eine Tagesstrukturierung zu erarbeiten. Außerdem werden Rückfälle bearbeitet, die ambulante Nachsorge nach erfolgreicher Therapie/ Entgiftung sichergestellt und der/die Klient(in) psychosozial betreut. Als besonders hilfreich hat sich die motivierende Gesprächsführung nach Miller und Rollnick2 erwiesen. Die Einzelberatung findet in der Casa 21, der FaS, häufig aber auch in den Zimmern, Wohnwagen, Wohnungen der Betroffenen oder im Krankenhaus statt.
In der Gruppe motiviert werden
Angebote für die Gruppe sind Motivations- und Informationsangebote sowie das kontrollierte Trinken nach einem speziellen Ansatz für wohnungslose Menschen, "kT WALK" genannt. Die Motivations- und Informationsgruppe mit zwei bis acht Teilnehmer(inne)n findet einmal wöchentlich für eine Stunde in der Casa 21 statt. Nach einer Vorstellungsrunde, in der meist auch erzählt wird, was die Teilnehmer(innen) zurzeit bewegt, folgt ein Infoblock über Alkohol, Cannabis und Medikamente, deren Wirkungen sowie über das Hilfesystem. Auch die Teilnehmer(innen) bringen Themen ein. Dabei geht es häufig um Kindheit, Trennung und Scheidung, Sorgerecht und Umgang mit dem Jugendamt, Scham und Schuldgefühle.
Das Gruppenprogramm zum kontrollierten Trinken mit vier Teilnehmer(inne)n pro Kurs ist ein verhaltenstherapeutisches Programm mit festgelegten Themen und 13 wöchentlichen eineinhalbstündigen Sitzungen. Inhaltlich geht es dabei um die Vermittlung von Wissen über Alkohol und Alkoholfolgeerkrankungen. Es wird eruiert, welche Belastungen durch den Alkohol entstanden sind und welche Vor- und Nachteile ein Festhalten am Status quo beziehungsweise eine Veränderung hätte. Was sie ändern möchten und in welchen Schritten, wird dabei von den Klient(inn)en selbst festgelegt und in Trinktagebüchern beziehungsweise Trinkplänen eigenverantwortlich aufgeschrieben und überprüft. In den weiteren Sitzungen geht es um den Austausch über erfolgreiche Strategien, um das Ziel zu erreichen. Der/die Klient(in) überlegt, wie er/sie mit Belastungs- und Risikosituationen, mit Freizeit und Langeweile, mit Frust- und Verführungssituationen umgehen kann. Der/die Klient(in) kann sich jederzeit immer noch für die Abstinenz entscheiden.
Freizeit geht auch ohne Alkohol
Die Freizeitangebote beziehungsweise die tagesstrukturierenden und motivationsfördernden Aktivitäten haben unterschiedliche Ziele. Zum einen geht es darum, Anstöße für die Freizeitgestaltung zu geben, die Erfahrung von alkoholfreien Erlebnissen zu vermitteln und Teilnehmer(innen) für das Projekt zu werben. Zum anderen sollen Erfolgserlebnisse vermittelt werden, um den Wunsch zu wecken, selbst wieder aktiver zu werden. In der Freizeit besuchen die Klient(inn)en gemeinsam Museen oder den Zoo, grillen im Sommer oder feiern zusammen Advent. Die Motivation fördern eintägige Wander- und Kletteraktionen, Fahrradtouren, Frankfurter Schtomp (Rhythmik- und Musikgruppe mit Alltagsgegenständen), das Café Creativ oder auch Kunstausstellungen. Beim Kletterprojekt gibt es zusätzlich Kletterausflüge über eine Woche.
Rücksichtnahme kann man lernen
Soziale Kompetenzen üben die Klient(inn)en zurzeit hauptsächlich während der erlebnis- und kunstpädagogischen Angebote. Das Erlebnis- und Kletterprojekt beispielsweise trainiert das Zusammenleben in der Gemeinschaft, die Einhaltung von Regeln, Rücksichtnahme auf andere, Einbringen in die Gruppe und kletterspezifisch die Erprobung der körperlichen Ressourcen sowie die Sensibilisierung für die Körperwahrnehmung. Beim Frankfurter Schtomp geht es um die "musikalische" Abstimmung mit den anderen in der Gruppe, das Behalten von Choreographien, um das Einbringen eigener Ideen. Bei Auftritten müssen die Klient(inn)en Ängste überwinden. Die Projekte vermitteln ein hohes Maß an Selbstbewusstsein.
Auch innerhalb der wöchentlichen Gruppenangebote geht es darum, dem Gegenüber zuzuhören, mitzufühlen, sich aber dennoch abzugrenzen, den anderen ausreden zu lassen und eigene Themen einzubringen. Pünktlichkeit und Verbindlichkeit sind sowohl für die Teilnahme an den Gruppen als auch bei der Erstellung von Sozialberichten erforderlich.
Die Klient(inn)en in Entgiftung und Therapie zu begleiten, ist ein wichtiger Bestandteil der Motivation. Es geht auch darum, den Klient(inn)en Halt zu geben, sie zu stabilisieren und einen ordentlichen Übergang in die Maßnahme zu ermöglichen. So können Besuche der Sozialarbeiter(innen) in der Entgiftung dazu dienen, dass der/die Klient(in) die zehn Tage durchhält und dass über weitere Schritte gesprochen wird. Denn dies ist häufig die erste Zeit innerhalb der Beratungsphase, in der der/die Klient(in) trocken ist. Die Begleitung in Therapie hat vor allem den Zweck, den Therapeuten im Übergabegespräch für die besondere Lebenslage der Klient(inn)en zu sensibilisieren und typische Verhaltensweisen zu besprechen. Für die Klient(inn)en wird die Zusammenarbeit zwischen Klinik und Beratungsstelle deutlich. Besuche während der Therapie dienen wiederum der Stabilisierung, der Vorbereitung der Heimkehr sowie der Motivation für nachsorgende Angebote. Darüber hinaus werden die Klient(inn)en zu Vorstellungsgesprächen in soziotherapeutische Wohnheime, ins betreute Wohnen, in Adaptionseinrichtungen (stationäre Nachsorge mit dem Fokus auf berufliche Rehabilitation) und zu Hilfeplankonferenzen begleitet. Dies ist sehr zeitintensiv. Deshalb ist die Zusammenarbeit mit zuständigen Sozialarbeiter(inne)n der Wohnungslosenhilfe sowie ehrenamtlich Engagierten unerlässlich.
In regelmäßigen Fallkonferenzen besprechen Mitarbeiter(innen) der Wohnungslosen- und der Suchthilfe Problemfälle. Man tauscht sich über Klient(inn)en aus, um eine Überbetreuung beziehungsweise das Ausspielen durch den Klienten zu verhindern. Es werden gemeinsame Handlungspläne und Lösungsvorschläge erarbeitet. Die Suchthilfe informiert über aktuelle Hilfeangebote und die Wohnungslosenhilfe über Bedarfe und Entwicklungen. Es werden auch Themen wie die eigene Hilflosigkeit im Umgang mit Alkohol, Resignation und Todessehnsüchten bei den Klient(inn)en besprochen. Wichtig für den einheitlichen Umgang der Mitarbeiter(innen) mit dem Thema Alkohol war eine gemeinsame Fortbildung in der "motivierenden Gesprächsführung".
Wichtig ist, wie’s weitergeht
Noch weiter ausgebaut werden müssen die Angebote für das "Danach". Nach erfolgreicher Therapie kehren die Klient(inn)en meist in ihre alten Lebenszusammenhänge zurück. Manche sind dann noch ohne Wohnung, auf jeden Fall aber ohne Beschäftigung und geeignete Tagesstruktur. Adaptionseinrichtungen der klassischen Suchthilfe sind häufig nur unzureichend auf die speziellen Bedürfnisse von Wohnungslosen eingestellt. Aber auch eigenständig dranzubleiben, wie beispielsweise die Trinkpläne beizubehalten, ist ohne den regelmäßigen Besuch einer Gruppe für viele nicht dauerhaft möglich.
Die Erfahrungen zeigen, dass das Projekt "Walk" ein gelungener Ansatz ist, um Suchtmittelabhängigkeit und ihre Folgen bei wohnungslosen und von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen zu reduzieren. Der Erfolg braucht aber Geduld und ist nur in kleinen Schritten zu erzielen.
So konnten im Jahr 2007 von 58 Teilnehmer(inne)n acht in eine stationäre Entwöhnungsbehandlung vermittelt werden. Zwei davon haben eine Adaption angeschlossen und nun im Odenwald sowohl eine eigene Wohnung als auch eine Beschäftigung.
Von den Teilnehmer(inne)n des ersten Kurses "kT Walk" haben 50 Prozent ihren Konsum um mehr als die Hälfte reduziert. Über das Angebot des kontrollierten Trinkens werden auch Klient(inn)en erreicht, die bereits viele Therapien gemacht haben und sich eine dauerhafte Abstinenz nicht vorstellen können. Wenn diese ihren Konsum dann von 30 "Halben" (Liter) Bier und "ein wenig Schnaps" in der Woche auf zehn "Halbe" reduzieren, ist dies schon ein Erfolg. Zudem verringern sich auch die Folgen von zu viel Alkohol, wie zum Beispiel Ärger mit Nachbarn und Strafverfolgung wegen Körperverletzungen im Vollrausch. Die Teilnehmer(innen) berichten, wieder aktiver zu werden und sich auch um ihre Post und ihre Verpflichtungen zu kümmern.
Leider zeigt die Erfahrung auch, dass suchtmittelabhängigen Wohnungslosen oft nicht dauerhaft geholfen werden kann. So haben manche innerhalb der letzten Jahre vier Therapien gemacht, diese teilweise abgebrochen, teilweise erfolgreich beendet, wurden weiter in soziotherapeutische Wohnheime und Adaptionen vermittelt. Auch wenn die nüchternen Phasen von Mal zu Mal länger werden, wird doch mit jedem Misserfolg die anschließende Depression größer. Es droht die Resignation.
Das Projekt "Walk" ist ein guter Ansatz, der aber weiter verbessert werden muss. So plant der Caritasverband Frankfurt ab Januar 2009 als nächsten Schritt ein Angebot zum ambulant betreuten Wohnen für chronisch mehrfachbeeinträchtigte abhängige Menschen. Eine Kooperation mit den Wohnbaugesellschaften oder dem Wohnungsamt soll es den Klient(inn)en nach einer Therapie ermöglichen, schnell eine Wohnung zu bekommen.
Anmerkungen
1. "Casa" steht für: Caritas Aufsuchende Hilfen und Sozialberatung, Allerheiligenstr. 21.
2. Motivierende Gesprächsführung wurde in den 1980er Jahren von William R. Miller und Stephen Rollnick zur Beratung von Menschen mit Suchtproblemen entwickelt.