Wo Not ist, hat auch größtmögliche Hilfe zu sein
Trotz etablierter Handlungsfelder wie Konfliktprävention, Stabilisierungsmissionen, Sanktionen und Diplomatie schafft es die internationale Staatengemeinschaft nicht, den erhofften weltweiten Frieden zu verwirklichen. Im Gegenteil, die Welt war 2022 zum neunten Mal in Folge weniger friedlich. Seit dem Völkermord in Ruanda 1994 hat es nicht mehr so viele Tote durch kriegerische Auseinandersetzungen wie im Jahr 2022 gegeben. Allein im Tigray-Konflikt in Äthiopien kamen zwischen 350.000 bis 600.000 Menschen durch direkte Gewalteinflüsse sowie infolge von Hunger und fehlender Gesundheitsversorgung ums Leben. Weitere Beispiele für die Zunahme der Gewalt in innerstaatlichen Konflikten sind Myanmar, Haiti, Kolumbien, Sudan und Kamerun. Durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine gehören zwischenstaatliche Konflikte nicht mehr der Vergangenheit an. Das lassen auch die Spannungen zwischen China und den Vereinigten Staaten um Hegemonialbestrebungen oder das Aufflackern des lang schwelenden Konflikts zwischen Indien und Pakistan um die Kaschmirregion erahnen. Mehr als 110 Millionen Menschen sind weltweit1 auf der Flucht vor Konflikten und Verfolgung; davon sind 62,5 Millionen im eigenen Land2 vertrieben. Dies sind nahezu immer "Langzeitsituationen", die teilweise über mehr als 30 Jahre dauern. Daher fordert Filippo Grandi, Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen3, "eine grundlegend neue und positivere Haltung gegenüber allen, die flüchten, gepaart mit einem viel entschlosseneren Bestreben, Konflikte zu lösen, die jahrelang andauern und die Ursache dieses immensen Leidens sind".
In vielen, wenn nicht sogar allen Gewaltkonflikten weltweit sind nichtstaatliche Akteure wie Söldnertruppen oder Milizen präsent. Sie werden von Regierungen zur Machtdurchsetzung oder Destabilisierung einer Region eingesetzt. Wenn solche Kräfte eigene Agenden verfolgen, führt dies oft zur Verlängerung der Auseinandersetzung4 und geht mit noch größerer Regellosigkeit sowie Intensität der Gewalt einher. "Kriegsökonomien" um Mineralien, Tropenhölzer, Menschenhandel oder Drogen befeuern das Fortbestehen volatiler Situationen. Auch transnational operierende Gruppen wie beispielsweise der IS (Islamische Staat) bereichern sich durch diese Dynamiken. Politische und wirtschaftliche Eigeninteressen unterminieren jede Friedensbemühung. Wer im Krieg gewinnt und durch die Regellosigkeit außerordentliche Privilegien genießt, hat wenig Interesse an einem funktionierenden Frieden.
Neben dem unmittelbaren menschlichen Leid werden zivile Infrastrukturen und die Lebensgrundlagen der Menschen für Jahrzehnte zerstört; entweder gezielt als taktisches Mittel oder als Nebenfolge von Kriegshandlungen. Im Jemen zertrümmern Bomben die medizinische Infrastruktur und Pumpen für sauberes Trinkwasser. Cholera und Diarrhoe sind epidemisch auftretende Konsequenzen. In Mali verbrennen dschihadistische Gruppen Ernten und Felder. Sie wollen Gemeinschaften durch Drohung und Abschreckung dazu zwingen, ihre militärische Kontrolle zu tolerieren. In der Ukraine verwüsten die Zerstörung des Kachowka-Staudamms und der Gebrauch von Uranmunition die Biodiversität. Im Irak schlummern noch immer Überreste von Streubomben und Landminen im Boden und verseuchen landwirtschaftliche Nutzflächen. Diese desaströsen Interdependenzen führen dazu, dass sich humanitäre Krisen über immer längere Zeiträume erstrecken und verdeutlichen, dass zu einem "positiven Frieden" nicht nur das Schweigen von Waffen, sondern ebenso gesicherte Lebensgrundlagen für die Menschen sowie die Überwindung von Abhängigkeiten und Ungleichheiten gehören.
Neben den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren ist die Klimakrise ein weiterer Treiber für neue, anhaltende und wiederkehrende Konflikte. Die Grand-Ethiopian-Renaissance-Talsperre kann für Ägypten und Sudan, die vom Nil abhängig sind, zum Kriegsgrund werden. Für Peru und Kolumbien sind die Gletschermassen eine lebenswichtige Wasserquelle, die nicht nur Trinkwasser, sondern auch Wasser für die Landwirtschaft und Kraftwerke liefert. Der Verlust solch einer Ressource wird drastische Folgen für den sozialen Zusammenhalt nach sich ziehen. Daher standen zum ersten Mal Fragen des Friedens auf der offiziellen Agenda5 des 28. Weltklimagipfels.
Der Friedensauftrag der Caritas
Es sind Kontexte des Staatszerfalls, in denen Hilfswerke versuchen, Antworten auf die Nöte der Menschen zu finden. Die unkontrollierbare Gewalt und gezielte Bedrohungen richten sich auch gegen die Helfenden selbst. Daher ist es zuvörderst die Aufgabe, die betroffenen Menschen in Not überhaupt zu erreichen; also sicher in Gewaltkonflikten arbeiten zu können. Unparteiliche Hilfe, eine neutrale Haltung und konfliktsensible Projekte auf Grundlage des "Do-no-harm-Prinzips" sind dafür unerlässlich. Akzeptanz und Vertrauen sind die Schlüsselbegriffe. Die Verwurzelung kirchlicher Strukturen bis auf die Gemeindeebene mit Mitarbeitenden, die nicht erst in Krisengebiete eingeflogen werden müssen, sondern bereits vor Ort sind, tragen dazu bei. Dennoch sind die Partner ungeheuren Gefahren ausgesetzt, wie der Tod eines lokalen Mitarbeiters der Caritas Jerusalem durch ein Bombardement eines Gesundheitszentrums am 21. November 2023 bezeugt. Am 8. Dezember 2023 kam ein langjähriger Caritas-Mitarbeiter bei der Explosion einer Landmine im Südwesten von Burkina Faso ums Leben. Dort war eine auch vom Militär befahrene Landstraße von terroristischen Gruppen vermint worden.
Humanitäre Hilfe ist kein Ersatz für Politik, Diplomatie oder Rechtsregime, sondern Anzeichen für deren Scheitern. Die Ursachen von Kriegen und Konflikten liegen weit außerhalb der Handlungsmöglichkeiten. Dennoch ist neben der Arbeit in, auch die Arbeit an Konflikten geboten. In der Enzyklika "Fratelli tutti" ruft Papst Franziskus explizit zur Vertiefung und Vermittlung des Handwerks des Friedens auf. Diesen Anspruch integriert Caritas international in seinen Projekten weltweit. In der Zentralafrikanischen Republik schafft die Caritas in Aufnahmecamps für Binnenvertriebene Möglichkeiten für landwirtschaftliche Aktivitäten. Damit tragen die Menschen eigenständig zur Ernährungssicherung bei und können mit dem Verkauf der Produkte auf dem eigens dafür geschaffenen Markt Einkommen erzielen. Angebote wie Veterinärmedizin und hygienische Schlachtorte binden muslimische Pastoralisten aus der Region ein. Der Markt ist einer der wenigen Orte, an dem sich Muslime und Christen nach der religiös aufgeladenen Gewalteskalation von 2017 im friedlichen Miteinander begegnen. Auch die Reintegration von ehemalige Kombattanten trägt zu Zukunftsaussichten ohne Waffen bei. Im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo konnte die Caritas an der Freilassung von über 11.000 Kindern aus der Zwangsrekrutierung mitwirken und ihre Rückkehr ins zivile Leben begleiten. Es geht um gesicherte Lebensgrundlagen.
Zivilbevölkerung muss einbezogen werden
Eine Sichtweise auf Frieden als bloße Eindämmung von Gewalt lässt die Zivilgesellschaft und betroffene Menschen als wichtigen Garanten für Friedensprozesse außen vor. In vielen Friedensprozessen sind vor allem Frauen und indigene Menschen ausgeschlossen, obwohl gerade ihre Einbindung nachweislich zum Gelingen beiträgt. Daher bringt sich Caritas bei Verhandlungen mit Konfliktparteien und Autoritäten ein mit dem Ziel, dass die betroffene Zivilbevölkerung einbezogen und ihre Rechte erfüllt werden. Ein historisches Beispiel ist Mosambik Anfang der 1990er-Jahre, als katholische Organisationen die ersten Kontakte zwischen den Kriegsparteien herstellten, um anschließend auf Verhandlungen und der Unterzeichnung eines Friedensvertrags zuzusteuern. In jüngster Vergangenheit hat die Kirche in Kolumbien zur Beilegung des 50 Jahre andauernden Konflikts zwischen dem Staat und der Guerillaorganisation FARC beigetragen. Doch die Lage ist angespannt, fast täglich kommt es zu gewalttägigen Auseinandersetzungen. Die Caritas und ihre Partner begleiten den Friedensprozess. Es geht um Wahrheitsfindung, Versöhnung und Entschädigungen. Dazu gehört auch die Aufarbeitung von 80.500 Fällen, in denen Personen als verschwunden gelten.
Trotz aller Bemühungen heißt es wahrscheinlich dieses Jahr, die Welt sei 2023 zum zehnten Mal in Folge weniger friedlich gewesen. Macht humanitäre Hilfe in Anbetracht der nicht enden wollenden Gewalt, der neuen, anhaltenden und wiederkehrenden Zerstörung überhaupt Sinn? Ermüden nicht alle Friedensbestrebungen im Gefühl der Sinnlosigkeit? Nun, da "am Anfang des Christseins ... nicht eine große Idee, sondern die Begegnung mit einer Person" steht, kann das Merkmal, das definiert, wer Nächster ist, allein sein: "dessen Bedürftigkeit in meinem Angesicht".6 Wo immer Not ist, hat auch größtmögliche Hilfe zu sein. Der Friedensauftrag der Caritas ist, sich auf den Weg zu machen zu den Menschen, das Ausharren bei den Menschen und Lösungen anzustreben mit den Menschen. Mal sind das Verteilungen von Gütern oder Auszahlungen von Bargeldmitteln, dann landwirtschaftliche Aktivitäten, Reintegrationsprogramme oder Aufarbeitung. Frieden ist die ganz alltägliche Aufgabe. Wir werden ihn nicht haben, sondern immer wieder machen müssen: Dazu benötigt es "Responsability", die Fähigkeit, immer wieder Antworten zu finden, auf die neue, anhaltende und wiederkehrende Gewalt und Zerstörung. Frieden ist eine Jahrhundertaufgabe: Die Welt hat bisher niemals genug positiven Frieden gefunden, um seiner überhaupt müde werden zu können. Darüber hinaus ist das anwaltschaftliche Handeln in politischen Diskursen zu bekräftigen: Schließlich entscheidet auch jede:r Einzelne, inwieweit geopolitische Spannungen eskalieren und eine Renaissance von geächteten Waffen wie Streubomben eingeläutet wird. Alle lassen die Klimakrise weiter ausarten und schaffen mit dem Anstieg der globalen Aufrüstung ein doppeltes Sicherheitsrisiko7: "Es geht nicht nur um das Vernichtungspotential ... Es geht auch darum, welche Ressourcen durch die globale Aufrüstung gebunden werden und für andere Menschheitsaufgaben entsprechend nicht zur Verfügung stehen."
1. www.unhcr.org/refugee-statistics
2. www.internal-displacement.org/publications/ 2023-global-report-on-internal-displacement
3. www.unhcr.org/dach/de/services/statistiken
4. www.friedensgutachten.de/user/pages/02.2023/02.ausgabe/01.gesamt/FGA2023_Gesamt.pdf
5. www.cop28.com/en/schedule
6. Hilpert, K.: Die Verpflichtung zur Solidarität mit dem Kranken - Zur christlichen Ethik des Helfens. In: Caritas, Zeitschrift für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft, April 1989, S. 162 ff.
7. https://taz.de/!5762705