Teilhabe erfahren – Unterstützung evaluieren
In der Eingliederungshilfe des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe (JJ) wurde 2020 die "Personal Outcomes Scale" (POS) eingeführt. Die POS ist ein Erhebungsinstrument, mit dem im leitfadenorientierten Interview die aktuelle Lebenssituation teilhabeorientiert betrachtet und bewertet wird. Durch Verlaufsmessungen lassen sich auch längerfristige Entwicklungen hinsichtlich der individuellen Teilhabe und Lebensqualität abbilden.1 Der Einsatz von POS soll nicht nur eine stärker an der konkreten Lebenswelt der Person orientierte Hilfeplanung ermöglichen, sondern auch durch mehr Mitsprache die Kundenzufriedenheit erhöhen.
Innerhalb der Sozialen Arbeit spricht vieles für einen personen- und teilhabezentrierten Ansatz. Übergeordnetes Ziel ist es, die individuelle Lebensqualität derjenigen Person zu verbessern, bei der Assistenz geleistet wird. In der Eingliederungshilfe stellt sich die Frage: Wie kann Teilhabe unter der Prämisse, dass diese primär subjektiv erfahren wird, wirkungsorientiert evaluiert werden? Dies ist auf der Basis valider Interviewverfahren möglich.
Das Konzept der Qualität des Lebens ist dabei als mehrdimensionaler Ansatz zu verstehen, der sich aus Kernbereichen zusammensetzt, die von persönlichen Merkmalen, Werten und Umweltfaktoren beeinflusst werden. Im Rahmen von internationalen Forschungsarbeiten wurden acht Lebensbereiche, die sogenannten Domänen, identifiziert, in welchen die individuelle Qualität des Lebens einer Person abgebildet wird.
Die Qualität des Lebens wird im Rahmen eines von qualifizierten Interviewer:innen geführten Gesprächs mit der Person mit Assistenzbedarf erhoben. Darüber hinaus werden bei den POS-Interviews Kommentare erfasst und ausgewertet: Welche Themen sind den Befragten besonders wichtig? Welche Ziele und Wünsche verfolgen sie im Hinblick auf die Verbesserung ihrer Lebensqualität und welche konkrete Unterstützung wird dafür benötigt?
Durch den Vergleich der POS-Interviews derselben Befragten über mehrere Jahre hinweg können Entwicklungsverläufe und Veränderungen festgestellt werden. Hilfreich ist dies sowohl für die einzelnen Befragten als auch für Einrichtungen oder Organisationen, die das Datenmaterial für ihr betriebliches Qualitäts- und Steuerungsmanagement nutzen können.
Ergebnisse 2019-2023
In der Eingliederungshilfe des Trägers wurden bisher 323 suchtkranke Personen interviewt, davon 74,3 Prozent männlich, 25,7 Prozent weiblich. Die Interviewten waren zum Zeitpunkt der Befragung im Durchschnitt 43,3 Jahre alt. Die Altersspanne reicht von 20 bis 68 Jahren.
Die Abhängigkeitsdauer beträgt im Durchschnitt 18,2 Jahre. Insgesamt 141 Interviewte (48,3 Prozent) haben zusätzlich zur Suchtproblematik eine psychiatrische Diagnose.
Das POS-Interview mit der geringsten Punktzahl weist ein Ergebnis von 76 Punkten auf, die höchste Punktzahl betrug 137, was einer Punktevarianz von 61 entspricht. Es gilt: Je höher der Punktwert, desto höher die Lebensqualität.2
Entsprechend deutlich variiert der individuelle Hilfebedarf. Die Lebensqualität ist im Bereich "Selbstbestimmung" am höchsten. In diesem Bereich geht es um Wahlmöglichkeiten und Autonomie in der konkreten Lebensführung, Ziele und Zielvorstellungen sowie um die Fähigkeit, Entscheidungen im wohlverstandenen Eigeninteresse zu treffen. Die geringste Lebensqualität wird im Bereich "Soziale Inklusion" erfahren. In dieser Domäne wird die gesellschaftliche Integration erfasst. Andererseits beinhaltet "Soziale Inklusion" die Beteiligung sowie die ausgeübten Rollen im unmittelbaren sozialen Umfeld der Befragten.
Unterschiede innerhalb der Stichprobe
Alter: Der Median liegt bei 39; vergleicht man die jüngere Hälfte (unter 39) mit der älteren (über 39), zeigen sich deutliche Unterschiede. Der Mittelwert der Jüngeren liegt bei 113,5 Punkten, der der Älteren bei nur 109,7.
Geschlecht: Mittelwert Männer: 110,9, Mittelwert Frauen: 112,8
Hinsichtlich der Suchtmittel gibt es kaum Differenzen, die größten Einschränkungen ihrer Lebensqualität beschreiben Heroinabhängige, diese sind im Durchschnitt aber auch deutlich älter.
Unterschiede bestehen auch zwischen den einzelnen Wohnformen. (s. Tabelle 2).
Von 90 Personen liegen Verlaufsmessungen vor. Sie wurden zwölf Monate nach dem ersten Interview ein zweites Mal interviewt (s. Tabelle 3).
Die Veränderungen sind in den Bereichen "Materielles Wohlbefinden" (+0,8) und "Selbstbestimmung" (+ 0,5) besonders hoch. Einen leichten Rückgang gab es im Bereich der "Sozialen Beziehungen" (- 0,2). Diese Effekte sind nicht selbsterklärend, sondern erhalten ihren nachvollziehbaren Sinn erst, wenn sie in Bezug zur Lebenswelt der Klientel plausibel interpretiert werden.3 Es ist unserer Erfahrung nach sinnvoll, die Ergebnisse der Verlaufsbefragungen in Fachteams zu besprechen, auszuwerten und im Sinne einer qualitativen Wirkungsanalyse zu plausibilisieren. Leitfrage sollte sein: Inwiefern hängen die Veränderungen mit dem Angebot vor Ort zusammen. Diesbezügliche Plausibilisierungsergebnisse sind in Arbeit.
Individuelle Kommentare
Das Interview bietet die Möglichkeit, subjektive Deutungsmuster spezifisch zu thematisieren, repräsentative Kommentare aus den Interviews sind besonders erhellend. Allein bei den Erstbefragungen wurden insgesamt 992 Kommentare notiert.
Persönliche Entwicklung
In der Domäne "Persönliche Entwicklung" liegen viele Kommentare vor, die sich vornehmlich auf Wünsche bezüglich der eigenen Zukunft beziehen. Diese reichen vom Spracherwerb über die intensivere Pflege von Hobbys bis zur beruflichen Neuorientierung. Am häufigsten wird die Erweiterung persönlicher Fähigkeiten und Kenntnisse genannt, gefolgt von beruflichen. Gleichwohl gibt es deutliche Hinweise auf die materiellen und bio-psycho-sozialen Hemmfaktoren der persönlichen Entwicklung.
Selbstbestimmung
Im Bereich Selbstbestimmung wird folgende Frage besonders häufig kommentiert: "Wenn Sie gebeten werden etwas zu tun, können Sie sich dann dagegen entscheiden?" Oft kommt es in den Kommentaren zu Bemerkungen wie: "Ich fühle mich nicht ernst genommen und übergangen." Dies gilt vor allem im Bereich der Familie. Demgegenüber scheint der Bereich des Betreuten Wohnens die Akzeptanz der Entscheidungen zu verbessern. Von "Betreuerin immer" über "in der betreuten Wohngruppe" und "im Privaten schon", erscheint der geschützte Rahmen der Eingliederungshilfe das Selbstbewusstsein zu stärken.
Soziale Beziehungen
Es wird deutlich, dass soziale Beziehungen oft nicht als Ressource geschätzt, sondern als problematisch erlebt werden. Nicht selten besteht das soziale Umfeld aus ehemaligen Mitkonsumenten. So werden soziale Kontakte zu ehemaligen Bekannten gemieden, aber auch zur eigenen Familie, weil diese in der Vergangenheit konflikthaft waren. Da die Klientel oft aus beruflichen Kontexten ausgeschlossen bleibt, werden soziale Beziehungen in Freizeit und Familie besonders wichtig, bleiben aber in der Regel selten.
Soziale Inklusion
Dass im Bereich der sozialen Inklusion niedrige Werte erzielt werden, zeigt sich auch in den Kommentaren. Eine Interviewerin notiert: "Klient gibt an, nicht mehr viele enge Freunde zu haben. Einige seien darüber hinaus verstorben." Zur Nachbarschaft im weiteren Sozialraum gibt es wenig Kontakte. Das Thema Einsamkeit prägt ebenso die Lebensrealität einiger Befragter. Drogenabhängige, die sich für Abstinenz und Betreutes Wohnen entscheiden, verlieren dadurch nicht selten auch ihr langjähriges konsumaffines soziales Umfeld. Alternativen existieren oft nicht. Mitunter wird auch explizit formuliert: "Es gibt keinen Wunsch nach mehr Inklusion".
Rechte
Der Wunsch nach einem Haustier dominiert diese Domäne. Insgesamt 25 Personen wünschen sich ein Haustier. Es gibt kaum Hinweise, die auf eine eingeschränkte Autonomie im Wohnumfeld verweisen. Eine Person gibt an, keinen Zimmerschlüssel zu besitzen.
Die Kommentare zeigen die insgesamt hohen Werte. Lediglich im Bereich politischer Wahlen sieht es anders aus: Einige Bewohner bringen deutlich zum Ausdruck, dass sie sich von politischer Teilhabe wenig versprechen.
Emotionales Wohlbefinden
Hier lässt sich zunächst vermuten, dass insgesamt eine geringe Lebenszufriedenheit vorherrscht. Trotz der multiplen Problemlagen wie beruflicher Desintegration, gesundheitlichen Einschränkungen, Verschuldung etc. fühlen sich aber viele (knapp 50 Prozent) der Befragten erfolgreich in dem, was sie tun. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Klientel den Erfolgsmaßstab an konkrete aktuelle Problemlagen anlegt, zum Beispiel "Meine Erkrankung hat sich verbessert" oder "Ich habe die Therapie beendet".
Physisches Wohlbefinden
Unter der Kategorie "Physisches Wohlbefinden" wird nach der allgemeinen Gesundheit, Ernährung, den Fähigkeiten der Selbstpflege, Mobilität und Erholung gefragt. Es existieren vielschichtige Problemlagen. Hier wird insgesamt ein relativ geringer Wert erreicht, da in der Regel im Betreuungskontext nicht mehr primär der Suchtstoff den Lebensmittelpunkt bildet und Raum entsteht, andere Problemfelder, wie parallel vorhandene gesundheitliche Probleme, wahrzunehmen.
Materielles Wohlbefinden
Nur 15,7 Prozent der Befragten haben die Möglichkeit, regelmäßig etwas Geld zurückzulegen. Über die Hälfte gibt an, dies "nie" zu können. Auf die Frage "Haben Sie genügend Geld, um etwas zurückzulegen?" wird oft geantwortet: "Wie denn …?", "Fast unmöglich, was zurückzulegen" oder: "Nein, kann nicht mit Geld umgehen." Gespart werden kann oftmals nicht, teilweise wird darauf kreativ reagiert: "Ich kaufe Sonderangebote oder auf dem Flohmarkt." Auch wird trotz erlebtem materiellem Mangel die Bedeutung von "Besitztümern" benannt: "Gitarre und Fahrrad sind für mich sehr wichtig, sie erinnern mich an eine bessere Zeit."
So kann Hilfe besser geplant werden
Das POS-Verfahren ist beim Träger Jugendberatung und Jugendhilfe in der Eingliederungshilfe fest etabliert. Die Ergebnisse werden zur Hilfeplanung genutzt, sie werden auch im Kontext der Wirkungsorientierung ausgewertet und liefern so wichtige Hinweise auf individuelle Veränderungen im Betreuungsverlauf.
Stand Juni 2023 wurden in den zurückliegenden vier Jahren bislang 323 Interviews geführt. Die Interviewqualität ist in allen Einrichtungen hoch. Möglich ist dies nur als systematischer Prozess, in dem Verantwortlichkeiten feststehen und in dem die interne Kommunikation organisiert wird. Kontinuierliche Schulungen von Interviewer:innen sowie deren fachlicher Austausch untereinander sind unerlässlich.
Die Lebensqualität wird in den Bereichen Selbstbestimmung und Persönliche Entwicklung am höchsten eingeschätzt. Die größten Defizite gibt es im Bereich "Materielles Wohlbefinden" und "Soziale Inklusion". Die zusätzlich zu den Zahlenwerten erfassten Kommentare sind besonders instruktiv. Sie geben einen Einblick in die Lebenswelt der Befragten. Da auch viele Interviews ohne Kommentare vorliegen, gilt es, künftig Aussagesätze noch systematischer zu erfassen. Die Auswertungsergebnisse werden in Zusammenarbeit mit den Teams hypothesengeleitet analysiert. Folgerungen für die Betreuungspraxis werden abgeleitet und umgesetzt.
Im Fachdiskurs und in der Öffentlichkeit erzielt der Träger Jugendberatung und Jugendhilfe mit POS eine hohe Aufmerksamkeit. Das Interesse an einem praktikablen wirkungsorientierten Verfahren in der Eingliederungshilfe ist groß. Dies sollte genutzt werden, um trägerübergreifend den Fachaustausch zu intensivieren und geeignete Praxiskonzepte zu etablieren.
1. www.konturen.de/fachbeitraege/wirkungsorientierung-in-der-sozialen-arbeit-2
Vgl. außerdem Ottmann, S. K.; König, J.; Gander, C.:
Wirkungsmodelle in der Eingliederungshilfe. In: Zeitschrift für Evaluation, 20. Jg., Heft 2/2021, S. 319.
2. Alle acht Domänen beinhalten sechs Fragen, die mittels einer Dreier-Skala (ein bis drei Punkte) bewertet werden. Der Domänen-Höchstwert beträgt folglich 18, der Höchstwert in der Gesamtskala 144.
3. Konstantin, L.; Schneider, D.: Die Personal Outcomes Scale (POS) in der Eingliederungshilfe von JJ. Frankfurt a. M., 2022, S. 20 f.