„Lebenswirklichkeiten“ ermöglicht besondere Begegnungen
Die Caritas hat den Anspruch, sozialpolitischer Seismograph zu sein. Mit ihrem Netzwerk ist sie nah an den Menschen, ihren Sorgen und Nöten. Sie formuliert auf dieser Grundlage politische Handlungsbedarfe und Forderungen und bringt sie in den politischen Diskurs ein, versteht sich im besten Sinne als Lobbyistin für die von Not betroffenen Menschen.
Das Soziale wird oft vor allem als Kostenfaktor gesehen. Wenn in den Haushalten gekürzt werden muss, dann häufig dort, wo politisch der geringste Widerstand zu erwarten ist, nämlich im Sozialbereich - und hier besonders bei den zuwendungsfinanzierten Leistungen für die Ärmsten. Um dem zu begegnen, geht das Programm "Lebenswirklichkeiten" im Diözesan-Caritasverband Trier (DiCV) neue Wege. Das Programm will die Perspektive und damit auch die Interessen marginalisierter und exkludierter Personengruppen (der "Armen") im politischen Diskurs und in parlamentarischen Entscheidungsprozessen stärken. Der DiCV tut dies zusammen mit dem Bistum Trier sowie seinem Partner "Exposure- und Dialogprogramme".
Ziel ist es, Entscheidungsträger:innen aus Politik, Kirche, Verwaltung und Gesellschaft für die Lebenssituation vulnerabler Personengruppen und für die in den sozialen Diensten und Einrichtungen geleistete soziale Arbeit zu sensibilisieren. "Lebenswirklichkeiten" ermöglicht es, aus der jeweils eigenen Blase herauszutreten, eigene Wahrnehmungen zu reflektieren und zu weiten. Angestrebt wird, die Perspektive, die Fragen und Interessen der Menschen, um die es in der sozialen Arbeit geht, aufzunehmen und responsiv zu sein.1
Konzeptionelle Grundlage ist die Begegnung von Mensch zu Mensch
Im Programm werden Verantwortliche aus Politik, Kirche, Verwaltung und Gesellschaft eingeladen, in das Leben ihrer Gastgeber:innen einzutauchen (engl.: to immerse) und sich deren Lebenswirklichkeit auszusetzen (engl.: to expose).2 Gastgeber:innen sind Personen, die sich in den mitwirkenden sozialen Diensten und Einrichtungen aufhalten, dort arbeiten und/oder leben. Auf diese Weise können die Entscheidungsträger:innen einen oder mehrere Tage zu Gast bei Menschen sein, denen sie im Alltag eher nicht direkt begegnen, etwa Geflüchteten, Wohnungslosen und Arbeitssuchenden.
"Lebenswirklichkeiten" setzt konzeptionell an der Kontakthypothese3 an: Persönliche Begegnungen bauen Vorurteile ab und ermöglichen Gleichwertigkeitserfahrungen. Das Programm adaptiert ferner das von dem Göttinger Soziologen Berthold Vogel entwickelte Soziale-Orte-Konzept für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt: Soziale Dienste und Einrichtungen werden zu neuen Begegnungs- und Erfahrungsräumen.
Die Exposure-Methode
"Lebenswirklichkeiten" überträgt das in der Entwicklungszusammenarbeit erprobte Konzept des erfahrungsbezogenen Perspektivwechsels4 in den hiesigen sozialpolitischen Kontext. Der oft eher abstrakte Blick auf Armut verändert sich durch persönliche Erfahrungen. Er weitet und schärft sich zugleich. Dies kann zu einem veränderten Handeln motivieren, sowohl persönlich wie auch beruflich. Die Arbeit von Exposure- und Dialogprogrammen in der Entwicklungszusammenarbeit wurde bereits evaluiert und die Wirksamkeit der Methodik im internationalen Kontext nachgewiesen. "Die Programme nehmen durch die Teilnahme von Entscheidungsträger:innen Einfluss auf die Strategien zur Beseitigung von Armut und Ausgrenzung."5
Im Zuge der Umsetzung der Trierer Synodenergebnisse6 hin zu einer diakonischen Kirche war es für den DiCV Trier klar, dass Exposure einen festen Platz erhalten sollte. Zugleich gab es aus einem Exposure- und Dialogprogramm zur Langzeitarbeitslosigkeit7 die Erkenntnis, dass niedrigschwelliger angesetzt werden muss, um Führungsverantwortliche als Gäste zu gewinnen. "Lebenswirklichkeiten" ist als "lernendes Programm" angelegt.
Aufbau des Programms
"Lebenswirklichkeiten" startete 2022 in Koblenz noch unter coronabedingten Einschränkungen. Im zweiten Programmjahr ist es im Saarland unterwegs gewesen, die Auftaktveranstaltung fand im saarländischen Landesparlament unter der Schirmherrschaft von Landtagspräsidentin Heike Becker statt, die auch selbst am Programm teilnahm. Ein Programmheft stellte Begegnungsräume, Methodik und Ablauf, aber auch die Erfahrungen früherer Exposure-Gäste vor. Es ging an einen ausgewählten Verteiler von Funktions- und Entscheidungsträger:innen und wurde im Netzwerk über Schlüsselpersonen beworben. Im vergangenen Jahr nahmen 40 Führungspersönlichkeiten am Programm teil, das folgende Elemente umfasste:
◆ ein Erstgespräch mit den Gästen zu ihrer Motivation und zur Auswahl des Begegnungsraums;
◆ ein individuelles Vorbereitungsgespräch mit dem:der Prozessbegleiter:in, der Vertretung aus dem gewählten Begegnungsraum unter der Moderation der Programmleitung;
◆ eine Erstreflexion nach dem Exposure zwischen Prozessbegleiter:in und Gast mit dem Angebot der weiteren Kontaktierung und Begleitung im Bedarfsfall;
◆ das Erstellen eines Erfahrungsberichts nach Leitfragen und
◆ eine abschließende gemeinsame Reflexion aller Gäste im Zuge der Abschlussveranstaltung.
Integraler Bestandteil des Programms ist zudem eine Auswertung mit den Gastgeber:innen.
In diesem Jahr liegt der Schwerpunkt darauf, sich weiter zu professionalisieren und die Nachhaltigkeit der Erfahrungen zu sichern.
Statements von Gästen
"Lebenswirklichkeiten" kann Folgendes ermöglichen:
(1) Als Gast aus der beruflichen Rolle heraustreten und sich als lernende Person auf unbekanntem Gebiet bewegen. Eigene Wahrnehmungen hinterfragen, die eigene Perspektive erweitern oder wechseln, verbunden mit einem Zugewinn an fachlichen Kompetenzen zu bestehenden sozialpolitischen Lösungsansätzen. "Was für den einen normal und alltäglich ist, kann für die nächste Person eine große Bürde darstellen. Umso wichtiger ist es, sich in die Lage dieser ‚anderen‘ hineinversetzen zu können, ihnen mit Respekt zu begegnen und ihre Probleme anzuerkennen."
Katarina Barley MdEP, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments8
(2) Als Gastgeber:in erfahren, dass sich jemand für mich interessiert und ich gesehen werde. Und ich nicht wertlos bin. "Frau Bätzing-Lichtenthäler hat sich sehr für mich und meine Arbeit interessiert; wir haben miteinander gearbeitet und viel gelacht."
Sandra Dolff, Gastgeberin, Gebäudereinigung Inklusionsbetrieb CarMen gGmbH
(3) Als Sozialarbeiter:in im Begegnungsraum von außen gesellschaftspolitische Wertschätzung für die geleistete soziale Arbeit erfahren und parteilich sein. "Es tut gut, dass auch unsere Caritas-Mitarbeitenden sehr viel Wertschätzung erhalten haben, von Gastgebenden und Teilnehmenden."
Martina Best-Liesenfeld, Direktorin des Caritasverbandes Koblenz10
Wechselseitiges Vertrauen als Basis
"Vertrauen als Grundlage gesellschaftlicher Integration" (und auch des Programms Lebenswirklichkeiten) war der Titel des Vortrags von Philipp Sandermann, Leuphana Universität Lüneburg, bei der Auftaktveranstaltung 2023 im saarländischen Landtag.11 Nur vertrauensvolle und professionelle Arbeitsbeziehungen der Sozialarbeiter:innen zu ihren Klient:innen/Adressat:innen ermöglichen überhaupt erst die nicht alltäglichen Begegnungen und Erfahrungen. Genauso bedarf es auch des Vertrauens aufseiten der Gäste in die Caritas als Institution und als Programmteam. Das Programm baut auf den langjährigen vertrauensvollen Beziehungen der mitwirkenden Akteur:innen auf. Sich berühren zu lassen und sensibel zu sein für die Lage der anderen ist Voraussetzung für solidarisches Handeln. Hierzu trägt "Lebenswirklichkeiten" bei, das seinerseits durch Aktion Mensch gefördert wird. Mehr Infos und Podcast: www.lebenswirklichkeiten-trier.de; https://lebenswirklichkeiten.podigee.io
Lokale Partner
Im Saarland ermöglichten 2023 sechs soziale Organisationen die Exposure-Begegnungsräume: die Fachberatungsstelle Aldona im Themenfeld Prostitution, Menschenhandel und Gewalt, ferner der Initiativkreis Wärmestube Saarbrücken, das Bruder-Konrad-Haus des Caritasverbandes Saarbrücken, die Caritas-Einrichtungen in der Landesaufnahmestelle Lebach, die Erwerbslosen-Selbsthilfe Püttlingen und die Dillinger Tafel des Caritasverbandes Saar-Hochwald. Bei den Lebenswirklichkeiten 2022 war der Caritasverband Koblenz mit seinen Diensten und Einrichtungen unser lokaler Partner: Mit dabei waren unter anderem der Inklusionsbetrieb CarMen gGmbH mit seinem Kleiderladen, der Fahrradwerkstatt und der Gebäude- und Straßenreinigung sowie das Wohnungslosencafé in der Neustadt 20.
1. caritas concret 1/2022, Kurzlink: https://t.ly/A2xrJ
2. www.agiamondo.de/angebot/exposure-und-dialogprogramme/
3. https://lexikon.stangl.eu/23058/kontakthypothese
4. www.agiamondo.de/angebot/exposure-und-dialogprogramme/
5. Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Christliche Sozialwissenschaften: Tätigkeitsbericht 2005, S. 14. Download per Kurzlink: https://is.gd/C1Bpow
6. Download per Kurzlink: https://t.ly/LB_US
7. Exposure- und Dialogprogramme e.V.: Einblicke. Bonn, 2014, Download per Kurzlink: https://is.gd/8yebcZ
8. DiCV Trier (Hrsg.): Programmheft Lebenswirklichkeiten 2022, S. 8.
9. Ebd., S. 32.
10. DiCV Trier: Pressemitteilung vom 5. Dezember 2022, Kurzlink: https://t.ly/g9jsk
11. Bischöfliche Pressestelle Saarbrücken: Pressemitteilung vom 20. Juli 2023, Kurzlink:
https://t.ly/RyoUI