Sozialstation Marburg-Ost
Christine Kempf von der Alltagsbegleitung für Demenzerkrankte bringt Neuigkeiten in die Zentrale: Eine der Betreuten will nicht mehr von der bisherigen Kollegin betreut werden. Begründung: Sie komme aus dem falschen Dorf und spreche den falschen Dialekt. "Das darf man nicht persönlich nehmen!", lacht Frau Kempf, "Das ist normale Härte!"
Auch wenn die Wünsche der Betreuten sonst im Vordergrund stehen, ".kann natürlich nicht auf alles eingegangen werden, sonst wäre die Organisation der ambulanten Betreuungsleistungen gar nicht möglich", erläutert Raphael Glade, Pflegedienstleiter in der Caritas Sozialstation Marburg-Ost. Hier auf dem Richtsberg, einem der sozialen Brennpunkte, werden die Einsätze der sechzehn Mitarbeiter koordiniert, die in drei Schichten Touren sowohl im städtischen Einzugsgebiet als auch in den umliegenden Dörfern fahren. Glade sieht die hauptsächliche Aufgabe seiner Sozialstation darin, eine "Dienstleistung auf hohem Niveau mit einem spezifischen Caritas-Profil" anzubieten. Dabei ist die möglichst große Nähe zu den Patienten wichtiger Bestandteil des Konzepts. "Wer um 22 Uhr schlafen will, möchte nicht um 19 Uhr ins Bett gebracht werden", erklärt Glade und sieht in der flexibleren Gestaltung der ambulanten Einsätze einen großen Vorzug seiner Sozialstation gegenüber stationären Einrichtung.
Seine Mitarbeiterinnen sind, so sagt er, "teamfähige Einzelkämpferinnen", denn der Beziehungsaspekt ist eine bedeutsame Komponente bei den zu besuchenden Menschen, die meistens über einen längeren Zeitraum, manchmal über viele Jahre hinweg betreut werden. "Da entstehen schon richtige Beziehungen", erläutert Glade. Hauptziel sei es, "vor allem hoch betagten Menschen zu ermöglichen, so lange wie möglich in der gewohnten Umgebung zu bleiben".
Auch als Leiter im normalen Einsatz
Als einziger Vollzeitangestellter fährt Raphael Glade auch selbst Einsätze. Die Verbindung zu seinen Mitarbeitern sowie zu den betreuten Menschen ist ihm wichtig. In wöchentlichen Teambesprechungen werden die aktuellen Probleme und die Besuche bei den etwa 60 Patienten besprochen. Auch der Kontakt zu den Angehörigen wird gepflegt. Häufig leisten die Angehörigen "den wichtigsten Teil der Betreuungsarbeit", so die Einschätzung von Claudia Fischer, einer der Pflegefachkräfte, auf ihrer Tour der "kleinen Mittagsversorgung". Als ausgebildete Krankenschwester ist sie vor sechzehn Jahren zur Arbeit bei ambulanten Diensten gewechselt und hat seit zwei Jahren eine halbe Stelle bei der Caritas inne. Ihre Besuche sind für die Patienten häufig das Highlight des Tages. "Wenn sie kommt, geht die Sonne auf!", schmunzelt Anton Starnitzki (75 Jahre) , dessen Frau Waltraut (71 Jahre) drei mal täglich Insulin gespritzt bekommt, seitdem er selbst nicht mehr in der Lage ist, diese Arbeit zu verrichten. "Wir sind rundherum zufrieden, das sind alles nette Leute, " bestätigt seine Frau und freut sich über die regelmäßigen Besuche und die Anteilnahme an ihren Alltagssorgen.
"Ja, meistens sind die Menschen erfreut über unser Erscheinen", bestätigt Claudia Fischer und räumt ein, dass es für sie selbst nicht immer einfach ist, nach Feierabend abzuschalten. "Da ist es manchmal schon schwer sich abzugrenzen. Aber man muss sich sagen: Ich habe sie alle gut versorgt, ich habe alles getan, was ich tun konnte..." Ihre ruhige, besonne Art vermittelt den Patienten ein Stück Vertrautheit, ja Geborgenheit. Die Patienten haben Vertrauen - das ist zu merken. Auch wenn der Zeitrahmen eng ist, lässt Claudia Fischer keine Hektik verspüren.
Pflegerinnenbesuch als nette Abwechslung
Da alle Arbeitsschritte sorgfältig dokumentiert werden, können die Kollegen sich problemlos gegenseitig auf dem Laufenden halten. Für Maria Hühne (64 Jahre) sind die Besuche der Leute von der Sozialstation "eine ganz, ganz wertvolle Hilfe". Gleich zwei Pflegefälle hat sie in ihrem Hause zu betreuen: Ehegatte und Schwiegermutter. Ihr Mann, der nach einem Schlaganfall zum Pflegefall geworden ist, geht tagsüber in eine Tagesstätte, während ihre 89jährige Schwiegermutter, die mit fortgeschrittener Demenz im Rollstuhl sitzt, den ganzen Tag zu Hause ist. "Alleine hab´ ich das nicht mehr geschafft.", erzählt Frau Hühne, "Seitdem der Sozialdienst kommt, geht es besser. Auch mein Mann ist ausgeglichener und zugänglicher geworden."
Der Umgang mit den Pflegedienstkräften ist eine Abwechslung und Bereicherung im Alltag der Familie. Liebevoll und unverdrossen umsorgt Maria Hühne ihre Schwiegermutter, füttert ihr löffelweise Brei, bietet Pfefferminztee und Wasser an und sorgt in der Wohnstube mit Musik für eine behagliche Atmosphäre. Und wo bleibt ihr persönlicher Freiraum? "Einmal pro Woche gehe ich mit meiner Nachbarin zum walken", berichtet sie.
Als Claudia Fischer an diesem Tag kommt, um die alte Frau ins Bett zu bringen, sitzt diese wie meistens in sich gesunken in ihrem Rollstuhl. Claudia begrüßt die alte Dame, indem sie sich zu ihrem Rollstuhl hinabbeugt und sie in dem vertrauten Dialekt anspricht. Da huscht ein Lächeln über das Gesicht der alten Frau. "Ja, manchmal lacht sie mit uns!", erklärt die Schwiegertochter. Sie und die Caritas-Mitarbeiterin sind ein eingespieltes Team, sie reden vertraut miteinander und bemühen sich, auch der hochbetagten Seniorin gelegentlich eine Reaktion zu entlocken. Dies gelingt auch diesmal, als sie auf die Frage, ob sie etwas trinken möge, mit dem völlig unverhofften Ausspruch "Kaffee" antwortet und verschmitzt guckt. Mit dieser Überraschung sorgt sie bei ihren Besucherinnen für große Heiterkeit.
Auch Anna Balzer (77) ist darauf angewiesen, dass mehrmals täglich jemand zu ihr, die sie alleine wohnt, ins Haus kommt. Nach einem Sturz, bei dem sie eine Nacht lang auf dem Kellerboden verbringen musste, trägt sie einen so genannten Notruffinger an einer Kordel um den Hals, um im Ernstfall direkt Hilfe holen zu können. Der Sohn kümmert sich um Haushalt, Behördengänge und erledigt die Einkäufe, der Bruder übernimmt die Gartenarbeiten, und die Nichte kümmert sich um die Wäsche und bügelt. Auch wenn Anna Balzer also in ein gut funktionierendes soziales Netz eingebunden ist, wäre ihr Dasein in ihrem Häuschen alleine nicht durchführbar. "Ich muss für alles jemanden haben", stellt sie sachlich fest. Es ist hart, nach einem über viele Jahrzehnte hinweg selbst bestimmten Leben mit diesem Angewiesensein und den Abhängigkeiten klar zu kommen, "Aber was soll man machen? Man schimpft und betet und betet und schimpft, aber ändern kann man es doch nicht!" So lobt sie die freundliche Ansprache und die gute Pflege durch den Sozialdienst, der drei Mal täglich bei ihr ist: "Wenn ich die nicht hätte, könnte ich mich morgens nicht anziehen und abends nicht ausziehen!" Sohn Erhard (51 Jahre), der im Nachbarhaus lebt, ergänzt: "Das ist eine prima Einrichtung, damit ältere Leute solange wie möglich zu Hause bleiben können".