Game Of Survival
"Tanzen ist für mich nicht nur ein Hobby, es ist mein Leben", sagt Elina Doludarieva mit Überzeugung in der Stimme. Vor zwei Jahren kam die 19-Jährige aus der Ukraine nach Stralsund. Seit Elina drei Jahre alt ist, begleitet der Tanz sie durch alle Höhen und Tiefen des Lebens. Kaum in Deutschland angekommen, suchte sie nach Möglichkeiten, ihrer Leidenschaft nachzugehen. Doch der Anfang in Stralsund war alles andere als leicht. Zunächst gab es für Elina nur die Option, in einer Tanzschule zu tanzen. Doch das reichte ihr nicht. Also beschloss sie, gemeinsam mit ihrer besten Freundin Kateryna Nosonenko, eine eigene Tanzgruppe zu gründen. Und schon nach der ersten Ankündigung in Stralsund kamen sieben Mädchen zur ersten Probe. Die Gruppe nannte sich das "Ensemble Bunt". Der Name, der aus dem Ukrainischen übersetzt "Aufstand" bedeutet, spiegelt die Entschlossenheit der Tänzerinnen wider. Das Ensemble besteht inzwischen aus 18 Mädchen und jungen Frauen im Alter von 13 bis 21 Jahren, überwiegend aus der Ukraine, Russland und Kasachstan. Ein Mal pro Woche trainiert die Gruppe in einem Raum der örtlichen evangelischen Kirchengemeinde - oder auch mal am Strand. Ihr Tanzstil ist eine Kombination aus modernem Tanz und Akrobatik. Das Besondere an ihrem Ausdruck ist, dass er immer Geschichten aus dem realen Leben erzählt - die Tänzerinnen wollen damit Botschaften von Stärke und Empowerment vermitteln. So auch in ihrem aktuellen Stück "Game of Survival", das das Leben in der kleinen Stadt Stralsund und die Herausforderungen von Klatsch und Tratsch thematisiert. Diese Choreografie ist die erste, die die jungen Tänzerinnen ohne die Anleitung einer Lehrerin erarbeitet haben. "Game of Survival" ist in einem kollektiven Prozess entstanden, so dass jede sich mit einbringen konnte.
"Hand in Hand für Norddeutschland" hat’s möglich gemacht
Die Gründung und Weiterentwicklung des Ensembles wäre ohne die Unterstützung durch Spendengelder kaum möglich gewesen. Dank der Benefizaktion "Hand in Hand für Norddeutschland", einer Aktion des Norddeutschen Rundfunks (NDR), die nach dem Angriff auf die Ukraine ins Leben gerufen wurde, konnten viele soziale Projekte realisiert werden. Auch das "Ensemble Bunt" profitierte von diesen Mitteln, die allerdings im Sommer ausliefen. Die Caritas in Vorpommern ist deshalb aktiv, um neue Finanzierungsmöglichkeiten zu finden. Neben der Jugendgruppe gibt es auch zwei Kindertanzgruppen, die Mädchen und Jungen im Alter von vier bis sechs Jahren sowie von sieben bis 12 Jahren die Möglichkeit gibt, ihre Liebe zum Tanz zu entdecken.
Elina inspiriert und will hoch hinaus
Elina selbst ist ein wahres Energiebündel. Neben ihren Aktivitäten im Tanzensemble hat sie es geschafft, Sprachkurse zu besuchen, ihr Abitur online abzuschließen und ein IT-Studium zu beginnen - ebenfalls online. "Ich muss sagen, dass meine Eltern mich in jeder Hinsicht bei meiner Leidenschaft für den Tanz und bei der Gründung einer Tanzgruppe unterstützt haben - ohne diese Unterstützung hätte ich das alles nicht geschafft", erzählt Elina. Ihre Mitstreiterinnen bewundern sie für ihre Motivation und ihr Engagement. "Elina schenkt mir gute Laune, ich komme immer mit einem Lächeln zum Training", erzählt eine der Teilnehmerinnen. Eine andere ergänzt: "Alles, was Elina hier macht, finde ich wunderbar. Sie bringt uns einfach vom Alltagsstress weg."
Im Jahr 2023 nahm Elina gemeinsam mit ihrer besten Freundin und Tanzpartnerin Kateryna an einem Wettbewerb teil, bei dem sie sich mit einem Duett über den Krieg in der Ukraine ins Halbfinale tanzten. Der Ehrgeiz brachte Elina dazu, sich mit ihrem ersten eigenen Ensemble beim "Tanztreffen der Jugend" zu bewerben. Dieser bundesweite Wettbewerb wird vom Haus der Berliner Festspiele ausgerichtet. Er bietet jungen Tänzer:innen und Choreographinn:en viel mehr als den bloßen Wettkampf und einen Auftritt im großen Saal. Bei dem siebentägigen Festival kommen die durch eine Fachjury ausgewählten Tanzgruppen in Berlin zusammen. Hier bekommen sie ein tägliches Programm mit Impuls- und Intensiv-Workshops, können sich untereinander vernetzen und von ehemaligen Teilnehmer:innen lernen, die ebenfalls zum Festival anreisen. 51 Tanzgruppen hatten sich 2024 beworben - das Ensemble Bunt schaffte es unter die Top Ten und durfte Ende September nach Berlin kommen. "Es war ein langer Weg bis hierher", erzählt Elina. "Wir mussten unser Stück ‚Game of Survival‘ in Stralsund vor einer Jury präsentieren, und als wir dann die Nachricht erhielten, dass wir im Finale sind, konnten wir es kaum glauben."
Der Auftritt vor großem Publikum
Es ist der Abend des Auftritts beim Tanztreffen der Jugend: Großer Saal im Haus der Berliner Festspiele. Die Scheinwerfer gehen an und Elina tritt zunächst nur mit einer Tanzpartnerin auf die Bühne. In glitzernden schwarzen Sakkos, langen schwarzen Bundfaltenhosen und professionell gestylt eröffnet das Duo die zehnminütige Choreografie von "Game of Survival". Das Publikum jubelt. Nach dem ersten Akt steht das gesamte "Ensemble Bunt" auf der Bühne. Jetzt entfaltet sich die erarbeitete Produktion in so schnellen und präzisen Bewegungen, dass das Publikum immer wieder spontan applaudiert und jubelt. Wie Klatsch und Tratsch als Auswüchse des Neids eine Gesellschaft prägen, macht die Gruppe in ihrem Ausdruck sehr deutlich - zum Beispiel durch den Einsatz von weißen Handschuhen, die sich die ganze Gruppe anzieht. Im Bühnenlicht leuchten die weißen Hände im Kontrast zum dunklen Outfit auf - in blitzartigen Bewegungen verdecken sie in klarer Anspielung den Mund oder bilden alle zusammen eine Art Mauer vor dem Körper. Als nach zehn Minuten die Lichter ausgehen, bekommen Elina und ihre Tänzerinnen Standing Ovations.
Die Zukunft ist bunt, so viel ist klar
Die Leidenschaft und Energie, die Elina in das "Ensemble Bunt" steckt, sind enorm. Auch wenn die Finanzierung durch den NDR endete, möchte sie weiterhin mit ihren Tänzerinnen auf der Bühne stehen, an neuen Wettbewerben teilnehmen, sich in der Szene vernetzen und künftig am liebsten hauptberuflich als Choreografin und Tänzerin arbeiten. Für Elina und ihr Ensemble steht fest: Der "Aufstand" hat gerade erst begonnen.
Text: Christina Kölpin