Heimat für zerkratzte Seelen
Nach 7000 Kilometern war Roohullah Anwari am Ziel. Im beschaulichen Neuhausen auf den Fildern, südlich von Stuttgart. Vier Monate zuvor war er in Afghanistan aufgebrochen. Über den Iran, die Türkei und Griechenland kam er ohne Papiere, ohne Verwandte und ohne Einreiseerlaubnis am Flughafen Stuttgart an. Nach Festnahme und Verhör durch die Bundespolizei erhielt er Duldungspapiere und einen Vormund. Der beantragte Hilfen zur Erziehung für den Jungen.
So kam Roohullah in die Kinder- und Jugendhilfe Neuhausen. Diese Einrichtung des Sozialdienstes katholischer Frauen nimmt unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auf, die am Stuttgarter Flughafen landen: aus dem Irak, Iran, Vietnam, Pakistan, Afghanistan, Kamerun und Syrien. Die meisten sind 16 oder 17. Der Jüngste ist sechs. Oder sieben. Ganz genau wusste er es selbst nicht.
Der Jugend- und Heimerzieher Andreas Wolf und zwei Sozialpädagoginnen sorgen dafür, dass ihre Gäste medizinische Versorgung, ein Zimmer und Kleidung bekommen. Denn die meisten reisen nur mit dem an, was sie am Leib tragen. Zuerst sind für Wolf vertrauensbildende Maßnahmen angesagt. „Die Jugendlichen haben auf der Flucht nur Menschen erlebt, die gegen sie waren“, sagt der 50-Jährige. Sie wurden misshandelt, verprügelt, gejagt. Von Polizisten, Kontrolleuren, Grenzern und Soldaten. Wenn sie jetzt Passbilder machen lassen oder zum Amt gehen müssten, seien das für sie „angstbesetzte Sachen“.
Wolf und sein Team helfen ihnen bei allen Problemen: „Wir machen das, was alle Eltern für ihre Kinder in dem Alter tun. Wir bemuttern sie nicht; wir sind für sie da.“ An den Wochenenden fahren sie mit ihnen an den Bodensee, gehen ins Museum und erkunden mit ihnen die Stadt: Wo sind Apotheke und Supermarkt? Wo gibt es günstig Klamotten? Andreas Wolf nennt sich „Ansprechpartner“. Aber wer sieht, wie er mit seinen Jungs spricht und sie mit ihm, weiß, dass „Ersatzvater“ das richtige Wort ist.
Das Graben in der Vergangenheit tut richtig weh
Roohullah erzählt über sein Leben vor der Flucht. Wie die Taliban ins Klassenzimmer kamen und die Schüler drangsalierten. Roohullah verließ die Schule und half im Lebensmittelgeschäft seines Vaters. Als Amerikaner 14 Taliban töteten, verschleppten die Taliban seinen Onkel. Unter Folter gestand er natürlich, dass er den Amerikanern den Tipp gegeben habe. Und Roohullahs Vater sei Mittäter gewesen. Der Vater floh, und die Taliban nahmen zur Strafe seinen Sohn mit.
„Ich war drei Monate bei ihnen. Ich wurde oft geschlagen“, sagt der junge Mann. Stockend und schwer atmend presst er die Worte raus. Er gräbt in seiner Vergangenheit, und das tut ihm weh. Er kratzt wieder die Narbe am linken Ellenbogen auf. Bis es blutet.
Als Selbstmordattentäter soll er für seinen Vater büßen. Doch ihm gelingt die Flucht. Was danach geschah, sagt Roohullah nicht: „Wenn ich das erzähle, muss ich die ganze Nacht darüber nachdenken.“
Zurzeit leben sechs Afghanen im Alter von 16 bis 18 Jahren in Neuhausen. „Sie haben alle einen Rucksack voller Probleme“, sagt Andreas Wolf. Nach der Eingewöhnungszeit in Deutschland legen sich die Schatten der Vergangenheit wieder auf die jungen Seelen. „Alle sind traumatisiert – durch die Flucht oder durch Erlebnisse in der Heimat“, sagt Wolf. Fast alle sind in einer Therapie. Darüber hinaus müssen sie den Sprung vom Mittelalter in die Moderne verarbeiten. Müssen lernen, dass plötzlich Freiheit herrscht. Auch Religionsfreiheit. Dass auch Frauen etwas zu sagen haben. Dass alle gleich sind. Dass Toleranz und Gemeinsinn gefragt sind. Flüchtlinge, die in ihrer Heimat verfeindet waren, müssen hier miteinander auskommen.
Leben in ständiger Angst
Hamid Amiri und Morteza Hosseini – ebenfalls Afghanen – haben Schlimmes erlebt. Beide wuchsen in Teheran auf. Dort, wo Afghanen in der Regel illegal, ohne Papiere, ohne Arbeit und ohne Schulbildung ihr Dasein fristen müssen. Die iranische Polizei sperrte Hamids Familie nach einer Razzia ein. Gegen eine Schmiergeldzahlung kam sie wieder frei. Sie erhielten zwar Papiere, durften Teheran aber nicht verlassen, lebten in ständiger Angst vor Willkür und Ausweisung. Dann wurde Hamid, der heute 16 ist, erneut verhaftet. Nach einer Woche Gefängnis gelang ihm die Flucht.
Morteza kam als Kind mit seiner Großmutter von Afghanistan nach Teheran. Auch er durfte keine Schule besuchen; seine Oma musste privaten Unterricht privat bezahlen. Als junger Afghane ohne Papiere, der illegal im Iran lebte, hatte er keine Chance, Arbeit zu finden. Und plötzlich sagt Morteza: „Vor zwei Jahren hatte ich ein großes Problem.“ Doch darüber kann er nicht reden. Aber es muss so schlimm gewesen sein, dass der Junge allein nach Europa floh. Über die Türkei zunächst nach Griechenland, wo er drei Monate im Gefängnis saß, bevor er nach Deutschland kam.
Eigentlich sehen Roohullah, Hamid und Morteza aus wie die netten Jungs von nebenan. Doch ihr modernes Outfit passt nicht zu den Sorgen, die sie quälen. Internet, Telefon und Facebook bringen ihnen das Grauen aus der Heimat direkt nach Neuhausen. Alle drei haben seit über einem Jahr keinen Kontakt mehr zu ihren Familien. Morteza weiß nicht, was aus seiner Oma wurde. Roohullah weiß nicht, ob die Taliban seine Familie getötet haben. Hamid weiß nichts von seiner Familie. Nach der Flucht rief er seine Schwester an. Die Leitung war tot.
Doch auch ohne Familie sehen die drei ihre Zukunft in Deutschland. „Hier lebt ein Hund besser als ein Mensch in Afghanistan“, sagt Roohullah. Hier können die drei zur Schule. Etwas aus sich machen. Morteza will Apotheker werden, Hamid Friseur, Roohullah Automechaniker. Andreas Wolf ist optimistisch. Gegenüber vielen Einheimischen hätten die Flüchtlinge einen großen Vorteil: „Unsere Jungs sind super motiviert. Sie wissen: Sie haben nur eine einzige Chance. Die müssen sie nutzen.“
Lebensbedingungen:
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden in der Regel nicht abgeschoben. Meistens kommen sie per Flugzeug, Bahn oder über Schlepper, die sie im Lkw mitnehmen und irgendwo aussetzen. Sie erhalten im Monat 44 Euro Taschengeld, 36 Euro Kleidergeld, elf Euro für Hygiene-Artikel und pro Tag fünf Euro Essensgeld.
Info:
5000 Flüchtlinge waren 2012 bei ihrer Einreise nach Deutschland minderjährig und ohne Begleitung.