Bei der Rückkehr sind die Kinder erwachsen
Wie Hunderttausende anderer ukrainischer Frauen hat Solter Romanivna (55) illegal als Hausangestellte in Italien gearbeitet. Neben Belgien ist dies ein beliebtes Land bei den Ukrainerinnen, denn hier ist die Einreise mit einem Touristenvisum einfacher als nach Deutschland. Solter Romanivna hat in den ersten beiden Jahren eine alte Frau gepflegt, in ständiger Angst, von der Polizei aufgegriffen zu werden. Die Familie war nett, sagt sie, und hat sie anständig bezahlt, für ukrainische Verhältnisse. Aber man hat ihre Lage "ein bisschen benutzt". Das heißt im Klartext: zwei Jahre lang tagaus, tagein Arbeit, nachts auf Abruf, ohne freie Wochenenden, ohne Urlaub, ohne das Haus je zu verlassen. Ohne die Kinder - der Sohn war elf, die Tochter neun Jahre alt - und ihren Ehemann zu sehen. Egal, ob in Italien, Belgien, Deutschland oder einem anderen EU-Land: Überall arbeiten die ukrainischen Migrantinnen illegal, ohne Sozialversicherung, und sind dem Wohlwollen ihrer Arbeitgeber ausgeliefert, was Lohn und Dienstzeiten anbelangt. Nach dem Tod der alten Frau wurde Romanivna weitervermittelt. Es folgten weitere neun Jahre Arbeit in Italien. Als sie schließlich in die Ukraine zurückkehrte, waren ihr Mann und ihre Mutter gestorben. Ihre Kinder waren erwachsen.
Die Familie ist Frauensache
Es sind die Frauen, die gehen. 85 Prozent der ukrainischen Arbeitsmigranten sind weiblich. Mit ihnen fehlt der emotionale Mittelpunkt der Familien. Denn nach wie vor gilt die soziale Verantwortung für die Kinder, die Alten und die Angehörigen als Frauensache. Mit ihrem Weggang klafft eine Lücke in der sozialen Fürsorge in den Herkunftsländern, die zum gesellschaftlichen Problem wird. Fast ausnahmslos sorgen sich Migrantinnen vor ihrer Ausreise um einen Platz für ihre Kinder.
Meist werden sie bei den Großeltern in Obhut gegeben. Doch die sind häufig überfordert mit Kindern, die durch die Trennung eine extrem schwierige Lebensphase zu bewältigen haben. Wie zum Beispiel Vico (Name geändert). Der Dreizehnjährige, der das Caritas-Tageszentrum für Kinder in schwierigen Lebenslagen in Lviv besucht, zieht alle Register des Protests. Er isst, soviel er kriegen kann, spielt pausenlos Computer, schikaniert die Großmutter, ist aggressiv. Der Junge weiß mit den Geschenken und dem Geld, das seine Mutter für ihn monatlich aus Deutschland überweist, zu manipulieren.
Ein anderes Beispiel ist Dimar, ein fünfzehnjähriger Junge aus Drohobytsch. Dimar erzählt traurig von seiner abwesenden Familie. Zuerst ist die Mutter emigriert, nun auch die beiden älteren Schwestern, die in Russland in einer Bar arbeiten. Er selbst ist mit dem Vater zurückgeblieben, doch das Verhältnis zwischen ihnen ist problematisch. Täglich skypt er mit seiner Mutter. Er setzt alles daran, so bald wie möglich selbst aufzubrechen, um, wie er sagt, "die Familie wieder zusammenzuführen".
"Bankomama" schickt das Geld
Kurz nach der Trennung dominieren meist Trauer und Schmerz. Später, wenn das Familienleben nur noch eine entfernte Erinnerung ist, überwiegt die Ablehnung: Nach einer Studie der Caritas Ukraine wollen 90 Prozent der Jugendlichen lieber auf die Rückkehr der Mutter verzichten als auf den monatlichen Geldsegen. "Migrantensyndrom" nennt das Andrij Waskowycz, der Präsident der ukrainischen Caritas: "Die Mütter sind in den Jahren der Abwesenheit zum Bankomaten geworden."
Viele der Migrantinnen haben Schuldgefühle: Sie sehen sich in der Pflicht, die Familie finanziell über Wasser zu halten, und spüren gleichzeitig hohen emotionalen Druck, weil sie in ihrer Rolle als familiärer Versorgerin, als Mutter, Ehefrau und Betreuerin der Angehörigen nicht gerecht werden können.
Die Probleme scheinen übermächtig: Da ist die Illegalität des Aufenthaltsstatus, da ist das Sozial- und Lohndumping, das durch die irreguläre Beschäftigung ermöglicht wird. Da ist die weltweite soziale Ungleichheit, die Arbeitsmigration bedingt. Da ist der Zerfall sozialer Strukturen in den Heimatländern durch die Abwanderung. Da ist die Geschlechter-Kluft, die familiäre Fürsorge zur Frauendomäne macht. Da ist die Abwertung von Pflege und Betreuungsarbeit, die eine gesellschaftliche Aufgabe zur Privatsache erklärt.
Die Herkunftsländer stärken
Das größte dieser Probleme aber ist das politische Versagen, der fehlende Wille, diese Situation zu verändern. Tatsächlich sind Modelle vorstellbar, die für alle Seiten sozialverträgliche Strategien vereinen und die bestehende Ungerechtigkeiten zumindest abfedern können. Ein erster Schritt ist es, die Aufenthaltsbestimmungen durch legalisierte Arbeitsverhältnisse zu erleichtern. Gleichzeitig müssen die sozialen Strukturen in den Herkunftsländern gestärkt werden, um dort die Folgen der Abwanderung aufzufangen. Auch das traditionelle Familienbild - die Frau als versorgender Mittelpunkt - ist kein unumstößliches Modell.