Die Brückenbauer vom Neckar
Eigentlich gibt Tesfe Redae nicht gern Ratschläge. Das tut er nur, wenn er gefragt wird. Und Tesfe Redae wird oft gefragt von seinen Landsleuten. Zum Beispiel dann, wenn ein eritreisches Kind im Kindergarten nicht mitkommt. Oder wenn ein Schüler aus Äthiopien im Unterricht negativ auffällt. Denn der 51-jährige Karosseriebauer, der aus Äthiopien stammt, ist ein so genannter Kulturdolmetscher. Das sind Menschen mit ausländischen Wurzeln, die in der Region Stuttgart leben und hier ihren Landsleuten ehrenamtlich helfen. Im Auftrag der Caritas.
Seit 2008 gibt es das Projekt Kulturdolmetscher in Stuttgart. 46 Migranten aus 26 Nationen wurden inzwischen ausgebildet. 35 sind aktiv, wenn es zwischen Deutschen und Migranten zu Missverständnissen wegen der Unkenntnis über die jeweils andere Kultur kommt. Oder wenn Behörden weder Sozialstrukturen noch kulturelle Besonderheiten anderer Länder kennen. Dann treten Menschen wie Tesfe Redae in Aktion. Sie vermitteln, übersetzen, erklären, werben um Verständnis und moderieren. Kurz: Sie bauen Brücken von der einen zur anderen Kultur.
Dabei profitieren sie von ihrem eigenen Erleben. Auch sie mussten sich in Deutschland einfinden. "Das, was ich selbst erfahren habe, das vermittle ich auch", sagt Tesfe Redae.
Auch Recep Aydin engagiert sich als Kulturdolmetscher. Sein Leitsatz ist: "Wenn jemand meine Hilfe braucht, dann helfe ich." Und was hat er dabei nicht alles erlebt! Als ein türkisches Mädchen einen Deutschen heiraten will, denken alle, die Familie des Mädchens sei dagegen. Aydin findet schnell heraus, dass die Mutter des Mannes gegen die Hochzeit ist. Auch dank seiner Vermittlung sind die jungen Leute inzwischen verheiratet.
Zuwanderer haben Probleme mit deutscher Gründlichkeit
Aber nicht alle Einsätze des 45-jährigen Türken sind so schön. So musste er einer türkischen Familie die schreckliche Nachricht vom Tod eines Angehörigen übermitteln. Oder der Familie einer Frau gut zureden, die im Krankenhaus sterben sollte. Er überzeugte die Angehörigen von der bitteren Wahrheit, dass auch eine Verlegung in ein anderes Krankenhaus nichts helfen würde. Bei der Bestattung von Muslimen hilft Recep Aydin entweder bei der Organisation des Transportes des Toten in die Türkei oder bei einer würdigen Bestattung in Kornwestheim auf dem muslimischen Friedhof. So baut er auch Brücken zwischen den Religionen.
Nimet Leone stammt ebenfalls aus der Türkei und engagiert sich seit über 32 Jahren ehrenamtlich. Dabei stößt die 56-Jährige auch mal an Grenzen, die sie akzeptieren muss: "Ich bin kein Superman. Ich kann eine Lösung zeigen. Wenn der andere will, begleite ich ihn. Wenn nicht, kann ich ihm auch nicht helfen." Manchmal braucht Nimet Leone auch einen langen Atem: Ewig redete sie auf die Eltern eines Jungen ein, der in der Realschule total überfordert war. Mit Erfolg: Nach einem Jahr Zureden schickten ihn die Eltern auf die Hauptschule.
Vor allem deutsche Behörden machen Migranten Angst. Angst, unfreundlich empfangen zu werden, nicht alles zu verstehen, nicht zurecht zu kommen. Gerade die deutsche Gründlichkeit ist vielen Zuwanderern völlig fremd. Kulturdolmetscherin Rocio Scheffold, die aus Peru stammt, sagt: "Viele Migranten verstehen nicht, dass es ein Problem gibt, wenn man keine Geburtsurkunde hat." Gerade junge Frauen aus Lateinamerika glauben, dass ihnen nach der Heirat mit einem Deutschen nichts mehr passieren könne. "Denen muss ich klar machen, dass die Heirat nur bestimmte Sicherheiten bietet, aber nicht für immer. Die Liebe geht vorbei, die Gesetze bleiben." Auch Tesfe Redae kennt diese Haltung: "Meine Landsleute sagen oft: ‚Oh, so habe ich mir das aber nicht vorgestellt.’ Dass wir uns hier durchboxen müssen, dass es Probleme gibt, auch unter Ausländern, das verstehen die nicht." Oft vermitteln die Medien ein falsches Bild von Deutschland. Wenn die Kulturdolmetscher ihren Landsleuten mit viel Fingerspitzengefühl beibringen, dass sie nicht im Schlaraffenland sind, ist die Ernüchterung meist sehr groß.
Projektleiterin Ulrike Gremminger von der Stuttgarter Caritas achtet sehr darauf, dass "ihre" Kulturdolmetscher nicht ausgenutzt werden. Sie prüft die Anfragen von Pflegeheimen, Sozialdiensten, Hospizen, Ämtern und Behörden sehr genau, auch um die Kulturdolmetscher nicht zu überfordern. "Sie sind keine Psychotherapeuten oder Eheberater, erst recht keine kostenlosen Dolmetscher. Da muss ich sie schützen."
Mit der Caritas im Rücken ist sofort Vertrauen da
Dass die Ehrenamtlichen den Caritasverband im Rücken haben, öffnet ihnen so manche Tür. Nimet Leone: "Wenn wir sagen, dass wir im Auftrag der Caritas kommen, ist sofort Vertrauen da." Ämter und Behörden schätzen den Einsatz der Kulturdolmetscher. Recep Aydin: "Beim Amt haben die große Augen gemacht, als ich von unserem Dienst berichtete. Ärzte und Polizisten sind gottfroh, wenn sie jemanden haben, den sie bei Problemen mit der Sprache und Kultur einschalten können."
Ehrenamtliche sind auch auf schwierige Situationen vorbereitet
Misserfolge gibt es aber auch. Zum Beispiel bei der unbelehrbaren Peruanerin, die nicht nur gegen ihren Mann handgreiflich wurde, sondern auch Probleme mit Polizei und Nachbarn hatte. Dass sie selbst das Problem war, wollte sie partout nicht wahrhaben. Rocio Scheffold: "Das konnte ich ihr nicht begreiflich machen, weil sie fest davon überzeugt war, dass sie Recht hatte." Damit die Ehrenamtlichen nicht unvorbereitet in solche Situationen geraten, bereitet die Caritas sie - mit deutscher Gründlichkeit - auf ihre Aufgabe vor. In Schulungen lernen sie unter anderem interkulturelles Training und das Pflege- und Gesundheitssystem. Regelmäßig können sie in Gesprächsrunden über ihre Probleme sprechen. Und dafür sind sie dankbar. Nimet Leone sagt: "Das, was wir bei der Caritas gelernt haben, hilft uns sehr." Und Rocio Scheffold ergänzt: "Wenn ich die Ausbildung nicht gemacht hätte, ginge mir das alles zu nah. Wir haben gelernt, Abstand zu halten." Bei Ulrike Gremminger fühlt sie sich in besten Händen: "Für mich ist es eine Stütze, dass ich jederzeit zu Ulrike kommen kann, wenn ich nicht mehr weiter weiß."
Letzten Endes können die Kulturdolmetscher einen Fall auch ablehnen. Das ist aber noch nie vorgekommen.
Finanzierung:
Von 2008 bis 2010 finanzierte die Bürgerstiftung Stuttgart das Projekt und unterstützte es bis 2012 freiwillig. Die Finanzierung über 2013 hinaus ist noch nicht gesichert.
Ansprechpartnerin:
Ulrike Gremminger, 0711 550591113, u.gremminger@caritas-stuttgart.de