Babylotsinnen helfen beim Start ins Leben
Dankbar für die Entlastung: die Kinderkrankenpflegerin Michaela Stach mit Babylotsin Ute Mordeja.Katharina Gebauer
Sanft streichelt Ute Mordeja dem neugeborenen Emil über die schwarzen Haare. Die rötlichen Stellen am Kopf lassen erahnen, dass sein Weg ins Leben kein leichter war. Nach stundenlangem Mühen musste er zwei Tage zuvor doch per Kaiserschnitt geholt werden. "Wir beide brauchen jetzt Zeit, uns zu erholen", sagt die erschöpfte Mutter. Doch schon in ein paar Tagen muss ihr Mann wieder auf Montage und wird nur an den Wochenenden zu Hause sein. Da kommt Ute Mordeja ins Spiel, eine der beiden Babylotsinnen im katholischen St.-Bernward-Krankenhaus in Hildesheim. Sie erklärt Emils Mama, dass sie in der ersten Zeit durchaus Unterstützung von einer Haushaltshilfe bekommen könnte. Diese Aussicht zaubert dem jungen Paar ein Lächeln ins Gesicht.
Durch Neues und Unbekanntes lotsen
Ein Kind stellt erst mal alles auf den Kopf. Erst recht, wenn es zu früh kommt, unerwartete Komplikationen auftreten oder das Baby nicht gesund ist. Da braucht es Menschen, die junge Eltern durch dieses unbekannte Fahrwasser lotsen, ihnen Mut machen und mit Rat und Tat zur Seite stehen. Vier bis fünf Entbindungen gibt es in dem Hildesheimer Krankenhaus pro Tag. Ute Mordeja und ihre Kollegin Hannah Fricke besuchen möglichst alle Mütter auf Station. Die eine Familienhebamme, die andere Sozialpädagogin - ein Team, das sich perfekt ergänzt.
Emils Fall ist ein leichter: "Die Familie ist offen, liebevoll, nimmt Hilfe an. Das Baby hat alles, was es für einen guten Start ins Leben braucht", sagt Ute Mordeja auf dem Weg zum nächsten Wochenbettzimmer. Bei rund 30 Prozent der Gebärenden bestehe Unterstützungsbedarf, erzählt sie, Tendenz steigend. Ihre Aufgabe ist es, zunächst herauszufinden, was die frischgebackenen Eltern brauchen, damit es dem Baby gut geht. "Der Start ist entscheidend, wir helfen mit, ein starkes Fundament zu bauen", sagt sie.
Durch die Losten bleibt beneidenswert viel Zeit
Die Babylotsinnen haben, worum sie im Krankenhaus alle beneiden: Zeit. In Ruhe setzen sie sich ans Bett, fragen nach dem Befinden, hören zu, beraten und bieten Hilfe an. Sie helfen Anträge für Haushalts- oder Familienhilfen auszufüllen oder vermitteln die Betroffenen an Beratungsstellen weiter. "Ich weiß, wie schwer es ist, im Antragsdschungel zurechtzukommen, eine Hebamme für die Nachsorge oder eine Kinderarztpraxis zu finden. Dann telefoniere und recherchiere ich in der Regel, bis ich fündig werde, da kann ich sehr hartnäckig sein", erzählt Mordeja. Manche Fälle fordern sie extrem, wenn etwa die Mutter suchtkrank oder verschuldet ist, häusliche Gewalt erlebt, psychische Probleme oder keine feste Bleibe hat. Da muss sie alle Hebel in Bewegung setzen, um dem Baby einen einigermaßen guten Weg ins Leben zu ermöglichen. Wenn die Mutter in solchen Gefährdungslagen alle Angebote abblockt, schaltet sie die interne Kinderschutzgruppe des Krankenhauses und auch mal das Jugendamt ein, denn oberste Priorität hat das Wohl des Kindes.
Emils Eltern freuen sich sehr über die Unterstützung durch die Babylotsin Ute Mordeja.Katharina Gebauer
2015 hat die Caritas das Projekt "Babylotse" in Kooperation mit den Stiftungen SeeYou und Auridis gestartet. Inzwischen gibt es deutschlandweit 100 Kliniken, in denen Babylotsinnen arbeiten, darunter eine Handvoll Babylotsen. Sie alle haben eine fachliche Ausbildung im Sozialbereich, als Hebamme oder Kinderkrankenpflegerin. Genauso versteht sich das freiwillige und kostenlose Angebot: als Schnittstelle zwischen Gesundheits- und Jugendhilfe.
Das Kindeswohl ist stets im Blick
Die Praxis zeigt: Schnelle Hilfe wirkt, je früher, umso besser. Und sie zahlt sich aus - in finanzieller Hinsicht, aber auch fürs Arbeitsklima. "Viele Studien belegen, dass das Geld, das wir in die präventive Arbeit der Babylotsinnen investieren, die Gesundheitskosten - etwa für Therapien - deutlich reduziert", sagt die Pressesprecherin des St.-Bernward-Krankenhauses, Judith Seiffert. Auch innerhalb des Hauses bringe die Festanstellung zweier Babylotsinnen große Vorteile, berichtet die Kinderkrankenpflegerin Michaela Stach: "Die Babylotsinnen entlasten uns sehr. Zu wissen, dass diese beiden Kolleginnen das Kindeswohl im Blick haben, gibt uns ein gutes Gefühl. Wir könnten das neben unseren medizinischen Aufgaben gar nicht leisten."
Die Finanzierung des Programms ist nicht gesichert
Dennoch ist die Regelfinanzierung, für die sich die Caritas seit Jahren einsetzt, nicht gesichert. Viele Kliniken müssen sich jedes Jahr um Spenden und Fördergelder von Kommunen, Land und Bund bemühen. Im St.-Bernward-Krankenhaus, dessen Selbstverständnis die ganzheitliche Genesung zugrunde liegt, gab es 2019 die ersten Babylotsinnen - dank Fördermitteln des örtlichen Caritasverbandes. Inzwischen finanziert die Klinik die fest angestellten Mitarbeiterinnen aus Eigenmitteln. Ihr liegt viel daran, Schwangeren ein lückenloses Rundumpaket anzubieten, medizinisch wie sozial. Das Qualitäts-Plus kommt an und spricht sich herum. "Die Klinik hat einen guten Ruf und bietet für den Notfall alles, was das Baby braucht", sagt Emils Mama. Sie hatte zum Glück nur einen kurzen Weg vom Kreiß- in den Operationssaal.
Vor allem für Frühchen ist man bestens ausgestattet. Ab der 23. Schwangerschaftswoche haben sie eine Überlebenschance. "Wir sind in der Lage, die kleinsten Frühchen zu versorgen", sagt Judith Seiffert. Viele schaffen es. "Das sind unglaubliche Kämpfernaturen", weiß die Kinderkrankenpflegerin Michaela Stach.
Nicht selten sind Mütter, deren Kinder zu früh kamen, besonders belastet und müssen von den Babylotsinnen intensiv begleitet werden. "Frauen sind oft geschockt, wenn sie anstelle eines rosigen Babys ein sehr kleines Kind mit einem zarten, fast greisenhaft wirkenden Gesicht bekommen", das erlebt Ute Mordeja immer wieder. Um mit eigenen Schuldgefühlen umgehen und solche Schicksalsschläge annehmen zu lernen, bietet die Klinik psychologische Gespräche an.
Schock statt Mutterglück
Anika Neuber, Therapeutin für Emotionelle Erste Hilfe - ein körperorientiertes Verfahren zur Stärkung der Eltern-Kind-Bindung -, moniert, dass bis heute die gesellschaftliche Wertschätzung für die Erziehungsrolle fehle. Zudem beobachtet sie den zunehmend negativen Einfluss sozialer Medien: "Viele haben ein perfektes Bild von Schwangerschaft und Mutterglück vor Augen, wie es ihnen zum Beispiel auf Instagram vorgegaukelt wird. Wenn es dann nicht nach Plan läuft - das Kind schreit, krank oder beeinträchtigt ist -, kommen sie nicht klar."
Emils Mutter kann in den ersten Tagen Hilfe gut gebrauchen. Jens Schulze
Ute Mordeja rückt in Gesprächen etliche verzerrte Bilder zurecht: dass Schlafmangel keine Folter, sondern normal ist. Dass nicht immer alles perfekt sein muss. Dass Verwandte, Freunde oder Nachbarn einbezogen werden sollen, wenn sich die Mutter überfordert oder erschöpft fühlt. Und dass sie in den ersten zwölf Monaten jederzeit anrufen darf, wenn Rat oder Hilfe erwünscht sind. Dann wirft sie einen kurzen Blick auf die Uhr und verabschiedet sich eilig: "Ich muss noch zu einer 17-Jährigen", sagt sie im Gehen. Das dürfte ein schwierigerer Fall als der von Emil sein.