Caritas-Präsident Peter Neher über soziale Herausforderungen der Digitalisierung
Für die Onlineberatungen erhielte der Verband zwar Unterstützung aus dem Familienministerium, "aber es liegen Welten zwischen den Summen, mit denen soziale Projekte unterstützt werden, und dem Umfang der Förderungen für Wirtschaft und Wissenschaft."
Neher, 1955 in Pfronten geboren, ist seit 2003 Präsident des Deutschen Caritasverbandes. Unter dem Dachverband versammeln sich 900 Vereine und Wohlfahrtsorganisationen der katholischen Kirche. Die Pflegedienste und Sozialeinrichtungen sind zusammen ein riesiger Arbeitgeber: Über 600.000 hauptamtliche Mitarbeiter beschäftigen die Träger der Caritas zusammengenommen. Jeden Tag erreichen sie hunderttausende Menschen - und das nicht zuletzt über digitale Kanäle
Unterstützung für digitale Teilhabe
"Bereits jetzt bieten wir Onlineberatung in fünfzehn Bereichen an. Zum Beispiel für Schwangere, Schuldenberatung und Hilfe bei Suizidgefahr", sagt Neher. Ein wichtiges Anliegen ist dem Verband deshalb auch die Teilhabe am digitalen Leben. "Im täglichen Leben, etwa im Umgang mit Ämtern, wird heutzutage vorausgesetzt, dass die Menschen online sind", erklärt er. "Wir müssen deshalb in unserem Bereich beide Seiten unterstützen, die Mitarbeitenden und die Hilfesuchenden." Deshalb fordert Neher, das Thema Digitalisierung in die Lehrpläne für soziale Berufe aufzunehmen.
Für 2019 hat der Caritasverband seine Jahreskampagne unter das Motto "Sozial braucht digital" gestellt. Neher begegnet in seiner täglichen Arbeit immer wieder der Ambivalenz von Faszination und Bedenken gegenüber Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz. Viele der Bedenken beziehen sich auf Datenschutz und Sicherheit, aber auch auf den eigenen Arbeitsplatz - ist der womöglich nun gefährdet? Auch Fragen der Datenautonomie werden im Verband diskutiert. Und Neher hofft, dass die Caritas so Anstöße zur gesellschaftlichen Debatte geben kann. "Unsere Kampagne heißt ‚Sozial braucht digital‘, aber man kann es genauso gut umdrehen: ‚Digital braucht auch sozial‘."
Apps als Suchtmonitor
Die Caritas hat selbst Angebote geschaffen, um die Abgehängten ins Netz zu bringen. Beispielsweise erklären junge Ehrenamtliche in der "Smartphone-Sprechstunde" im Caritasverband Westeifel älteren Nutzern den Umgang mit dem Smartphone und den wichtigsten Apps. Digitale Hilfsmittel setzt die Caritas auch in der Unterstützung von Therapien ein. Die Cari-App etwa unterstützt die Caritas Fachambulanz für junge suchtkranke Patienten darin, frühzeitig die Zeichen für einen möglichen Rückfall zu erkennen.
In Alten- und Pflegeheimen des Diözesan-Caritasverbandes München und Freising, berichtet Neher, werde in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrum ein Pflegeroboter getestet. "Auf den ersten Blick finden das viele Menschen abschreckend - ein Roboter, der pflegebedürftige Menschen unterstützt", sagt Neher. Aber dieser Roboter, dessen Einsatz sich in der Testphase befinde, werde von den Patienten gut angenommen. Er kann zum Beispiel Patienten mit Muskelschwäche einen Becher zum Trinken reichen, ohne dass diese dafür einen Pfleger rufen müssen. "Und in solchen Fällen macht der Einsatz von Robotern Sinn: Er macht die Pflege nicht unmenschlich, sondern er gibt den Patienten mehr Autonomie."
Und bis zu welchem Grad ist denn nun der Einsatz von Digitalisierung in Sozialarbeit und Pflege vertretbar? Neher sagt: "Wir sehen das ganz biblisch: ‚Prüfet alles, das Gute behaltet!"
Drei Fragen an Peter Neher
Herr Neher, welche Innovation würden Sie sich wünschen?
Langzeitarbeitslose, niedrigqualifizierte und ältere Menschen brauchen Extra-Angebote, um nicht abgehängt zu werden. Junge Menschen müssen auf die veränderte digitalisierte Arbeitswelt vorbereitet und auch die Menschen mittleren Alters erreicht werden. Das gilt aber nicht nur für die Arbeitswelt der Menschen, sondern auch damit sie souverän an einer zunehmend digitalvernetzten Gesellschaft teilnehmen können. Innovativ wäre eine groß angelegte Bildungsoffensive von Bund und Ländern mit Bildungskonzepten für lebenslanges Lernen. Auch Förderprogramme zur digitalen Transformation und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt würde ich mir wünschen.
Wer aus der Digitalszene hat Sie beeindruckt?
Mich beeindrucken die Menschen, die in unseren Einrichtungen und Diensten schon jetzt in ihrem Arbeitsalltag konkret die Vor- und Nachteile einer digitalen Welt erleben und bewerten können. Sie können ganz praktisch einschätzen, inwiefern beispielsweise die digitale Pflegedokumentation via App mehr Zeit für die Bewohnerinnen und Bewohner im Altenheim lässt.
Als Digitalminister würde ich ...
…das politische Augenmerk der Digitalisierung nicht nur auf die Wirtschaft und die Wissenschaft legen, sondern auch auf den sozialen Bereich. Denn die Teilhabe aller und insbesondere sozial benachteiligter Menschen lässt sich nur verwirklichen, wenn es gelingt, die digitalen Entwicklungen im sozialen Bereich mitzudenken und reflektiert in die Praxis umzusetzen.
Quelle: Tagesspiegel Newsletter Background Digitalisierung & KI