Digital ist längst real
Digitalisierung – bei dem Begriff kommen vielleicht Erinnerungen an den letzten Urlaub: Das Hotel bequem online gebucht, Fotos mit dem Smartphone gemacht und gleich verschickt, die Rechnung per Onlinebanking gezahlt. Aber Digitalisierung steht auch für Arbeitsverdichtung, für Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit. Für eine mitunter als entfremdend empfundene Technisierung des Berufsalltags.
Wie immer man dazu steht: Digital ist längst real. Auch die Soziale Arbeit kommt vielfach – von der Pflege über die Arbeit mit Geflüchteten bis zur Schwangerenberatung – ohne digitale Zugänge und Tools nicht mehr aus, um umfassend nah bei den Menschen zu sein.
Die Caritas stellt sich der Lebenswirklichkeit des Digitalen. Mit ihrer Kampagne 2019 möchte sie gute Praxis sichtbar machen, Diskussionsanstöße zu kritischen Fragen geben und Mitstreiter(innen) auf dem Weg zur „Caritas 4.0“ suchen.
Sozial braucht ethische Debatten über das Digitale
Viele Neuerungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, sind nicht per se „gut“ oder „schlecht“. Vielmehr muss oft genau hingeschaut werden, welche Folgen einzelne Neuerungen mit sich bringen.
Auch unter den Vorzeichen der Digitalisierung dienen Begriffe wie Freiheit, Unverfügbarkeit und Selbstbestimmung als Richtschnur bei Entscheidungen. Nicht immer liefert diese jedoch eindeutige Antworten. Im Falle von Ambient Assisted Living beispielsweise kann der Gewinn an Selbstständigkeit mit einem Verlust der Datensouveränität verbunden sein. Beim Einsatz von Pflegerobotern wiederum stehen Selbstbestimmung, das Verhältnis von Nähe und Distanz und die Arbeitsökonomie in der Beziehung von zu Pflegenden und Pflegenden in einem Spannungsfeld.
Die Fragen, die die Digitalisierung aufwirft, sind klar zu benennen, um gemeinsam mit anderen Akteur(inn)en nach konstruktiven Antworten suchen zu können. Zum anderen gilt es, sich angesichts der vielen Fragen nicht entmutigen zu lassen, sondern den Mut zum Ausprobieren zu beweisen.
Sozial braucht digitale Zugänge und Ausstattung
Vier von fünf Deutschen nutzen das Internet mit großer Selbstverständlichkeit. Sie leben in "hybriden Sozialräumen": In diesen sind analoge und digitale Anteile miteinander verwoben, ergänzen sich gegenseitig - aber keine der beiden Wirklichkeiten geht in der anderen vollständig auf.
Zwölf Millionen Bürger(innen) sind aber "Offliner", meist Ältere oder Menschen mit geringerem Bildungsgrad, die sich von digitalen Geräten oder Fragen der Datensicherheit überfordert fühlen. Sie nutzen die Teilhabe-Möglichkeiten nicht, die das Internet bietet. Dabei ist in unserer heutigen Gesellschaft, in der das Digitale alles durchdringt, digitale Teilhabe unverzichtbar für soziale Teilhabe.
Die "digitale Kluft" zwischen On- und Offlinern droht sich weiter zu vergrößern. Neue Risiken entstehen, dass Menschen ausgeschlossen werden. Hier will die Caritas frühzeitig vorbeugen und deshalb
Offlinern helfen, online zu gehen
Armuts- oder behinderungsbedingte Zugangshürden zur digitalen Welt gilt es abzubauen. Um ihren Klient(inn)en digitale Teilhabe zu ermöglichen, sind die Dienste und Einrichtungen der Caritas gefordert, in ihren Räumen kostengünstige und leistungsfähige Internet-Zugänge bereitzustellen.
Gut einem Fünftel der Offliner ist die Internet-Nutzung zu kompliziert – hier liegt die Aufgabe der Caritas in der niedrigschwelligen Gestaltung digitaler Angebote. Dies kann beispielsweise durch mehrsprachige Angebote geschehen, durch die Verwendung Leichter Sprache und durch hinterlegte Bildbeschreibungen für blinde Nutzer(innen).
Für Menschen mit Beeinträchtigungen ist zudem eine Assistenz bei der Internet-Nutzung von großer Bedeutung, sei es durch persönliche Unterstützung oder/und durch technische Hilfen.
Und es braucht technisch versierte Mitarbeitende der Sozialen Arbeit, die den Nutzen eines neuen digitalen Produkts für ihre Klient(inn)en einschätzen können. Ist das Produkt hilfreich, dann muss es Nutzer(inne)n auch zugänglich gemacht werden – beispielsweise, indem Krankenkassen für die Finanzierung von Software oder Geräten sorgen.
Onlineberatung ausbauen
Das Online-Beratungsangebot der Caritas wird sich in den nächsten Jahren zu einer nutzerfreundlichen, digitalen Infrastruktur weiterentwickeln. Damit sollen Ratsuchende zu allen Caritas-Beratungsbereichen gelangen, einschließlich der Selbsthilfe-Angebote.
Die Vorteile der digitalen Kommunikation, wie einfache Erreichbarkeit und zugleich Anonymität, werden damit im Dienste der Hilfesuchenden besser ausgeschöpft. Zugleich wird die bewährte Beratung von Mensch zu Mensch gestärkt; Ratsuchende können entscheiden, ob sie mit ihrem Anliegen aus der digitalen Beratungswelt in eine örtliche nahegelegene Beratungsstelle weitergehen. Mit diesem hybriden Angebot reagiert die Caritas auf den wachsenden sozialen Beratungsbedarf in einer unübersichtlich gewordenen Welt.
digitale Plattformen für Hilfe-Angebote nutzen
Wer gute Erfahrungen mit dem Buchen von Reisen oder Handwerkern über Online-Plattformen gemacht hat, dem liegt es nahe, auch Angebote sozialer Dienstleister darüber zu suchen. Dass soziale Dienstleistungen für Suchmaschinen oder Vermittlungs-Plattformen auffindbar sind, ist daher zunehmend eine Voraussetzung für die Erreichbarkeit der Zielgruppen dieser Angebote.
Daraus ergeben sich zwei Aufgaben für die Caritas 4.0: Erstens sich zu fragen, welche Hilfeangebote sie (zusammen mit Partnern insbesondere der freien Wohlfahrtspflege und der Behörden) über die digitale Plattform-Welt an Menschen in Not unterbreitet. Und zweitens, auf die faire, nicht-monopolistische Ausgestaltung dieser Vermittlungs-Plattformen Einfluss zu nehmen – über netzpolitische Lobby-Arbeit
Medienkompetenz vermitteln
Damit das Internet ein offenes Kommunikationsmedium für gesellschaftliche Beteiligung und Meinungsbildung bleibt, kämpft die Caritas für respektvolle Debatten und gegen Fake News. Für die eigenen Mitarbeitenden hat sie sich schon 2011 Leitlinien (Social Media Guidelines) gegeben, die im Verband partizipativ erarbeitet wurden.
Im Sinne einer Befähigungsinitiative zum Erwerb digitaler Kompetenzen für alle will die Caritas sich stärker als Bildungsanbieterin sichtbar machen: Von der Kita über die Schulsozialarbeit, von der Pflegeschule bis zum Mehrgenerationenhaus verfügt sie über mögliche Lernorte dazu.
Wo digitale Medien neue Gefährdungspotenziale bergen, beispielsweise zur Online-Sucht, baut die Caritas Präventions- und Hilfeangebote aus.
Sozialpolitik braucht Sprachfähigkeit in digital- und netzpolitischen Fragen
Damit sich die positiven Möglichkeiten des Internets – z.B. die Stärkung von Bürgerrechten durch digitale Partizipation – entfalten können, braucht es angemessene politische Rahmensetzungen. Dann können Meinungsfreiheit, Netzneutralität, Datensouveränität oder Informationsfreiheit garantiert und Überwachung, „Datenklau“ und Fake-News verhindert werden. So wie heute alle politischen Themen (Verkehr, Sicherheit, Wirtschaft, Finanzen, etc.) eine digitale Dimension besitzen, gilt dies insbesondere auch für die Sozialpolitik.
Der Deutsche Caritasverband setzt sich deshalb ein für
die Einbeziehung aller Erwerbseinkommen in die Sozialversicherungspflicht
Die Digitalisierung der Arbeitswelt führt zu Verschiebungen im sozialen Gefüge. Die Organisation der Erwerbsarbeit über digitale Plattformen macht es leicht, abhängige Beschäftigung mit selbstständiger Teilzeitarbeit zu kombinieren oder sich als Cloudworker phasenweise in die Selbstständigkeit zu begeben. Deshalb nimmt die Zahl der Menschen zu, die zwischen abhängiger und selbstständiger Beschäftigung wechseln.
Nach geltendem Recht führt das dazu, dass vermehrt Wechsel zwischen Versicherungspflicht und -freiheit stattfinden. Damit ist insbesondere der Aufbau einer hinreichenden (gesetzlichen) Altersvorsorge für diese Personen gefährdet, aber auch ein verlässlicher Arbeitsschutz und eine tragfähige Unfallversicherung fehlen.
Der Deutsche Caritasverband fordert daher: Die Pflicht zur Beitragszahlung in der gesetzlichen Rentenversicherung sollte für jede Erwerbstätigkeit gelten, die Altersvorsorgepflicht sollte von der Art der Erwerbstätigkeit abgekoppelt werden. Die generelle Einbeziehung aller Erwerbseinkommen in die Sozialversicherungspflicht ist dringende Herausforderung für die Sozialpolitik.
ein Bildungssystem, das lebenslang Lernen ermöglicht
Im digitalen Wandel werden diejenigen erfolgreich sein, die kontinuierlich über Bildung und ausreichende Bildungsmöglichkeiten verfügen. Deshalb braucht es ein kompetenzorientiertes Bildungssystem, das lebensbegleitendes Lernen ermöglicht und Bildungsspaltung entgegenwirkt.
Der Deutsche Caritasverband begrüßt Ansätze wie das Qualifizierungschancengesetz, da es die Fort- und Weiterbildung von Arbeitnehmer(innen) für die digitale Arbeitswelt erleichtert. Wenn Weiterbildung jedoch überwiegend am Arbeitsplatz stattfindet, besteht das Risiko, dass Angehörige bestimmter Gruppen vergessen werden.
Deshalb fordert der Deutsche Caritasverband, dass neue Maßnahmen insbesondere auch die Teilhabechancen derer im Blick haben, die z.B. als Langzeiterwerbslose keine Möglichkeiten haben „on the job“ Weiterbildungsmöglichkeiten zu nutzen. Oder auch Niedrigqualifizierte, ältere Menschen oder Menschen mit Migrationshintergrund zu fokussieren, die bisher unterdurchschnittlich von Weiterbildungsangeboten profitieren.
eine responsive Digitalpolitik
Responsive Politik bedeutet, dass politisch handelnde Personen sich in die Perspektive derjenigen versetzen, die von den jeweiligen Maßnahmen und Gesetzen betroffen sind. Eine responsive Digitalisierungspolitik richtet den digitalen Wandel folglich so aus, dass gerade auch diejenigen profitieren, für die der Umgang mit dem digitalen Wandel schwierig ist.
In diesem Zuge geraten beispielsweise die Digitalstrategie der öffentlichen Verwaltungen, das E-Government und die Automatisierung der Datenverarbeitung durch die öffentlichen Hände in den Blick. Die informationelle Selbstbestimmung der Klientinnen und Klienten der freien Wohlfahrtspflege steht über dem Datenhunger von Sozialversicherungen und öffentlichen Verwaltungen.
Der Deutsche Caritasverband wird diesen Fragen zusammen mit Partnern nachgehen, nicht zuletzt um seine Angebote in gutem Zusammenspiel und auch konstruktiver Kritik mit den öffentlichen Verwaltungen zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger vorhalten zu können.
eine soziale Netzpolitik
Enorme elektronische Speicher- und Rechenkapazitäten ermöglichen es, Nutzerinformationen in riesigem Umfang auszuwerten. Dadurch lässt sich das Nutzerverhalten immer präziser vorhersagen. Das machen sich Entscheidungsverfahren zu Nutze, die auf Algorithmen beruhen. Sie bergen jedoch die Gefahr, bestimmte Gruppen aufgrund von statistischen Wahrscheinlichkeiten zu benachteiligen. Daher müssen die über sie vorbereiteten Entscheidungen nachvollziehbar und korrigierbar sein.
Der Deutsche Caritasverband setzt sich für transparente und sichere Lösungen ein. Dazu kooperiert er mit Organisationen der Zivilgesellschaft, die entsprechende Systeme im Dienst der Betroffenen untersuchen, bewerten und transparentere oder respektvollere Lösungen erarbeiten.