…auch bei den Wahlen
Stellen Sie sich vor, wir haben Wahlen, aber Sie dürfen nicht wählen gehen. In manchen Ländern dieser Erde gilt diese traurige Wahrheit. Es sind zumeist Staaten, in denen Despotismus, Korruption und Staatsterror regieren.
Das Jahr 2013 steht in Deutschland unter dem Zeichen der Bundestagswahlen, die im Herbst stattfinden werden. Im letzten Jahr gab es nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der Überhangmandatsregelung im damals bestehenden Wahlgesetz hektische Bemühungen der Politik, ein neues Wahlgesetz vorzulegen. Dieses neue Wahlgesetz ist im Eilverfahren verabschiedet worden und wird von vielen weiterhin als unausgegorene Lösung kritisiert.
Ein Punkt, der nur von wenigen kritisiert wird, ist der Ausschluss von bestimmten Gruppen vom Wahlrecht. Sprich, es gibt in Deutschland etliche Menschen, die an diesem essenziellen Grundrecht nicht partizipieren können. Auf Bundesebene davon betroffen sind unter anderem Menschen, denen ein Betreuer oder eine Betreuerin für alle Angelegenheiten bestellt worden ist (§ 13 Nr. 2 Bundeswahlgesetz). Dies trifft auf Menschen mit Behinderung, psychischen und demenziellen Erkrankungen zu.
Nach den menschenrechtlichen Maßstäben der von der Bundesrepublik Deutschland vorbehaltlos akzeptierten UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) sowie nach den Maßstäben des deutschen Grundgesetzes ist dieser Ausschluss nicht hinnehmbar. In der BRK ist die volle Wahlrechtsteilnahme in Artikel 29 (a) benannt. Im Gegensatz zu einem Defizit- und Unfähigkeitsverständnis im bestehenden Wahlgesetz geht die BRK von einem positiven Befähigungsbild aus - in dem Sinne, dass die Frage nicht lauten darf, was kann ein Mensch nicht, sondern: Was braucht ein Mensch an Assistenz und Unterstützung, damit er seine grundrechtlichen Güter wahrnehmen kann?
Damit rücken sowohl die sozialen als auch sächlichen Barrieren in den Blick, die Menschen vielfach die selbstbestimmte Teilhabe untersagen. Mit der vorbehaltlosen Abschaffung des bestehenden Wahlrechtsausschlusses wären diese Barrieren noch nicht beseitigt. Dafür braucht es eine gesamtgesellschaftliche Diskussion darüber, warum die Ausübung von Grundrechten so wichtig ist und wie sie sichergestellt werden kann. Die Diskussion muss gerade mit den Menschen geführt werden, die diese Grundrechte nicht oder noch nicht ausüben können. Diese Debatte braucht es auch, um der grassierenden Politik- und Demokratieverdrossenheit entgegenzuwirken.
Der verstorbene portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago hat in seinem Roman "Die Stadt der Sehenden" ein umgekehrtes Schreckensszenario gezeichnet: Die Bürgerschaft verweigert sich der Wahl. Wir jedoch müssen uns erst einmal dafür einsetzen, dass alle in Deutschland ihr Grundrecht zur Wahl ausüben können.