Wo kann ich endlich ankommen?
Der 25-jährige Anas1 half nach seinem Abitur als ehrenamtlicher Krankenpfleger im Zentrum der Stadt Idlib in Syrien. Das Gebiet und auch das Krankenhaus wurden immer wieder bombardiert. Nach mehreren Jahren Krieg traf Anas 2018 schweren Herzens die Entscheidung, zu seinem in Deutschland lebenden Bruder zu fliehen, um so sein Leben zu retten. Er schaffte es, über die syrisch-türkische Grenze zu flüchten, und reiste auf dem Weg nach Deutschland weiter über Griechenland, Albanien, Kosovo, Serbien und Rumänien.
Diese Hoffnung endete jäh an der rumänischen Grenze. Hier wurden Anas und die Gruppe, mit der er reiste, verhaftet und zwei Tage lang auf einer Polizeistation festgehalten - ohne Essen und Trinken. In einer städtischen Unterkunft wurden ihnen lediglich Schlafplätze auf dem Boden des Flures zugeteilt. Nach einigen Tagen forderten Behördenmitarbeiter(innen) sie auf, vorgelegte Asylanträge zu unterschreiben. Einige aus der Gruppe wollten nicht unterschreiben. Diese Personen, darunter Anas, wurden von hinzugerufenen Polizist(inn)en mit Stöcken auf Arme und Beine geschlagen und beschimpft. Man drohte ihnen an, sie direkt nach Syrien abzuschieben, wenn sie ihre Mitwirkung verweigern würden. Unter diesem Druck unterschrieb Anas den vorgelegten Antrag. Da er keine weitere Unterbringung oder andere Hilfsangebote erhielt, wollte er weiter nach Deutschland. In Österreich konnte er einen Arzt aufsuchen, um seine Verletzungen - als Folge der Misshandlung durch rumänische Polizeibeamt(inn)en - behandeln zu lassen. Knapp drei Wochen später gelang Anas die Weiterreise nach Hamburg und nach über sechs Jahren sah er endlich seinen älteren Bruder wieder. Er stellte einen Asylantrag, der kurze Zeit später als "unzulässig" abgelehnt wurde. Aufgrund des europäischen Dublin-Abkommens wurde er zur Rückreise nach Rumänien aufgefordert - wenn er nicht freiwillig ausreisen würde, werde man ihn zwangsweise überstellen.
Viele Probleme - wenig Beratungsstellen
Begleitet durch die Härtefallberatung suchte er in Hamburg eine psychotherapeutische Beratungsstelle auf, da er unter schweren Schlafstörungen, Panik beim Geräusch von Flugzeugen und Alpträumen von den Bombenangriffen in Idlib leidet. Nach Einschätzung der Therapeutin vermischt sich das Trauma durch die Kriegserlebnisse mit der aktuell retraumatisierenden Bedrohungssituation: der Furcht vor einer Abschiebung nach Rumänien und der dort erlebten Gewalt und behördlichen Willkür. Für die Caritas ist Anas damit ein klassischer "europäischer" Härtefall: Auch wenn wir uns hier innerhalb Europas bewegen, wäre Anas eine Rückführung nach Rumänien aufgrund des dort Erlebten nicht zuzumuten. Diese Ansicht teilte auch ein kirchlicher Unterstützerkreis, so dass für Anas ein Platz im Kirchenasyl gefunden werden konnte. Nach sechs Monaten müssen die deutschen Behörden seinen Fall übernehmen und das Asylgesuch bearbeiten. Erst dann wird Anas’ Geschichte überhaupt zum ersten Mal angeschaut.
Anas’ Geschichte ist nur ein Beispiel dafür, mit welchen schwierigen Situationen Geflüchtete im europäischen Dublin-System oder nach einem abgelehnten Asylantrag konfrontiert sind. Immer mehr schutzsuchende Menschen befinden sich im Status der vollziehbaren Abschiebbarkeit. In vielen Fällen werden persönliche Härten und Bleibegründe im bisherigen Verfahren nicht ausreichend berücksichtigt. Gleichzeitig erhalten Geduldete und Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität kaum einen Zugang zu Beratung und Unterstützung. Das multiprofessionelle Team der Härtefallberatung unterstützt seit 2018 Geflüchtete, die sonst keine Anlaufstelle mehr haben. Es berät umfassend in Härtefall- und Notsituationen in Bezug auf drohende Abschiebungen und Dublin-Verfahren sowie zu den individuellen Möglichkeiten. Ein Seelsorger ist in das Team eingebunden und unterstützt in besonders vulnerablen Fällen oder wenn asyl- oder aufenthaltsrechtlich tatsächlich nichts mehr möglich ist.
Alle haben gute Gründe, eine Rückkehr zu fürchten
Viele der Ratsuchenden haben Unvorstellbares erlebt, leiden unter körperlichen und psychischen Erkrankungen und Traumata. Sie alle haben gute Gründe, eine Rückkehr in ihr Herkunfts- oder ein anderes EU-Land zu fürchten. Für diese anspruchsvolle Beratung erfolgt eine enge Zusammenarbeit mit Rechtsberatungsstellen. Umfassende Netzwerkarbeit wie die Zusammenarbeit mit Gewalt- und Frauen-Beratungsstellen, im Bereich LGBTIQ (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Intersexual, Queer), psychosozialen Beratungsstellen und der Abschiebehaftberatung ist eine wichtige Grundlage, um den komplexen Fällen gerecht zu werden. Laufend befinden sich etwa 40 Fälle im Case-Management. Jeder zur Beratung kommende Fall wird individuell betrachtet.
Eine neue Perspektive nach vielen Jahren der Unsicherheit ergab sich durch die intensive Begleitung der Härtefallberatung auch für Familie Khalil. Im November 2020 erreicht die Kolleg(inn)en der Härtefallberatung ein Anruf der verzweifelten Familie Khalil - es habe einen Abschiebeversuch bei der Familie gegeben. Später wird sich herausstellen, dass die versuchte Abschiebemaßnahme rechtswidrig war. Zu diesem Zeitpunkt lebt die fünfköpfige kurdisch-syrische Familie Khalil bereits seit sechs Jahren in Deutschland, das jüngste Kind ist hier geboren. Die Familie floh 2013 vor dem syrischen Bürgerkrieg zunächst nach Bulgarien. Dort erlebte die Familie Diskriminierung und sah sich schließlich aufgrund von überfüllten Aufnahmezentren und katastrophalen Lebensbedingungen gezwungen, ihre Flucht nach Deutschland fortzusetzen. Da ihnen in Bulgarien internationaler Schutz zugesprochen wurde, wurde ihr Asylantrag in Deutschland abgelehnt und die Rückführung nach Bulgarien angedroht. Die Familie lebt in Hamburg seitdem in zwei kleinen Containerzimmern, die Eltern haben kein Anrecht auf einen Deutschkurs und keine Arbeitserlaubnis. Sie besuchen den ehrenamtlich geführten Deutschkurs der Unterkunft, Frau Khalil engagiert sich im dortigen Frauencafé. Die älteren Kinder gehen zur Schule und haben dort viele Freundschaften geschlossen. Als die Schule von dem Abschiebeversuch erfährt, sind die Mitschüler(innen) und Klassenlehrer(innen) entsetzt. Gemeinsam mit der Schule wendet sich die Härtefallberatung an den Eingabeausschuss der Härtefallkommission der Hamburger Bürgerschaft.
Was wurde in bisherigen Verfahren nicht berücksichtigt?
Dort wird die besondere Notlage erkannt. Der Eingabeausschuss weist die Ausländerbehörde an, den Eltern eine Arbeitserlaubnis zu erteilen. Im Mai dieses Jahres hat Herr Khalil (ein studierter Bürokaufmann) eine Festanstellung bei einem Logistikunternehmen gefunden. Das Ehepaar Khalil kann gute Deutschkenntnisse nachweisen, so dass aktuell ein Antrag auf Aufenthalt bei nachhaltiger Integration (gemäß § 25 b AufenthG) für die Familie geprüft wird - mit sehr guten Erfolgsaussichten.
Die individuellen Härtefallgründe reichen von schweren Erkrankungen über Verfolgung im Herkunftsland bis hin zu familiären Gründen - gemeinsam ist ihnen, dass sie im bisherigen Verfahren noch nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Hier setzt die Härtefallberatung an und lenkt den Fokus auf die ganz spezielle Härtesituation in jedem Einzelfall. In überraschend vielen Fällen, in denen es anfangs kaum noch Hoffnung gab, konnte eine Perspektive entwickelt werden. Für die Klient(inn)en bedeutet das einen neuen Start und eine Lebensperspektive in Deutschland oder an einem anderen Ort der Sicherheit. Oft aber geht es auch um die Begleitung - um das "Nicht-alleine-Lassen".
Obwohl die Nachfrage bei der Härtefallberatung groß ist, bleibt die Zukunft des Projektes ungewiss, da sie sich ausschließlich aus Spenden finanziert.
Anmerkung
1. Namen sind zum Schutz der Personen geändert.
Klimaschutz: Mehr als CO²
Verantwortung lässt sich nicht abschieben
Teilhabe für wirklich alle: Dafür braucht es ein Konzept
Fürsorge für Fremde
Führung braucht Persönlichkeiten
Mit Visionen und Mut zukunftsfähig werden
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