Nur mit mehr Fachpersonal ist eine individuelle Förderung möglich
Die individuelle Unterstützung von Kindern mit Behinderung beim Schulbesuch erfährt spätestens seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Bundesregierung im Jahr 2009 besondere Beachtung. Im Vordergrund steht dabei das Assistenzpersonal für die Lehrkräfte (Schulbegleitung)1 beim Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung - in allgemeinen- und an Sonder-/Förderschulen - in Baden-Württemberg an Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ).
Das Assistenzpersonal unterstützt im Wesentlichen bei lebenspraktischen Hilfestellungen und/oder bei einfacheren pflegerischen Tätigkeiten.2 Der Gesetzgeber lässt sich dabei vom Inklusionsgedanken leiten, denn ohne adäquate Unterstützungsformen gelingt Inklusion nicht.
Dabei treten in der Praxis allenthalben große Probleme auf. Der hehre Anspruch, keine(n) Schüler(in) auszugrenzen, korrespondiert nicht mit dem tradierten Schulsystem, in dem es mehr um Anpassung an eine Norm als um individuell angemessene Förderung geht. Allein die Quote der Schulabbrecher(innen) betrug 2017 6,9 Prozent (mehr als 52.000 betroffene Jugendliche bundesweit mit weiter steigender Tendenz)3 und belegt, dass es mit unserem Schulsystem nicht zum Besten steht. Keine guten Voraussetzungen also für Schüler(innen) mit besonderem Förderbedarf, die häufig ein individuelles Alltagshandeln benötigen, egal welcher Schultyp besucht wird. Der institutionsübergreifende Begriff Förderung deutet im heilpädagogischen Kontext das Prinzip der Individualisierung an.4 Um diesem zu genügen, sind sächliche und personelle Bedingungen am Lernort Schule sicherzustellen.
Pädagogik unter erschwerten Bedingungen
Der gelingende Schulbesuch von Schüler(inne)n mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist wesentlich von den Begleitumständen abhängig. Dabei kommt es besonders auf die Bereitschaft der pädagogisch Handelnden an, sich auf eine Arbeit einzulassen, die keine festgelegten Standpunkte zulässt beziehungsweise persönlich bevorzugte Positionen immer wieder infrage stellt.5 Es geht darum, mit welcher inneren Haltung man sich einer Aufgabe stellt. Dabei können personelle, sächliche, organisatorische und politische Rahmenbedingungen das Personal sehr beeinflussen. Existieren genügend geeignete Räume, damit auch in Kleingruppen gearbeitet werden kann? Sind ausreichend sanitäre Anlagen vorhanden? Sind diese mit den notwendigen Details wie zum Beispiel Dusche, Pflegeliege etc. ausgestattet und nahe genug am Unterrichtsraum? Ist eine Ruhemöglichkeit etwa für anfallskranke Kinder vorhanden und stehen Lifter und andere Hilfsmittel zur Verfügung? Alles Grundvoraussetzungen für einen gut verlaufenden Schulalltag. Mit anderen Worten: Es wird ein an den praktischen Erfordernissen orientiertes Raumkonzept benötigt, das den allgemeinen Schulen häufig fehlt.
In den SBBZ gehören solche Ausstattungsmerkmale zum Standard, ergänzt durch Zusatzräume: Snoezelen, Psychomotorik, Warmwasserbad und Räume für die Physiotherapie, Ergo- und Logopädie. Doch auch die SBBZ stehen vor schwierigen Rahmenbedingungen. Zum Beispiel verdichten sich dort Schüler(innen) mit massiven Behinderungen - eine Folge der Inklusion. Diese Konzentration wird von den in der Praxis Tätigen häufig als extreme Herausforderung erlebt. Der Ruf nach Unterstützung blieb nicht ungehört. Auch in den SBBZ erhöhte sich die Anzahl der Assistent(inn)en deutlich.
Personalgewinnung als weitere Herausforderung
Schüler(innen) mit sonderpädagogischem Förderbedarf stellen sehr unterschiedliche Anforderungen an das Personal. Herausforderndes Verhalten, Kinder mit Sprach- und Sprechstörungen, autistische Schüler(innen) oder mit stereotypischen Verhaltensweisen bringen nicht nur das Lehr-, sondern auch das Assistenzpersonal an seine Grenzen. Deshalb bedarf es eines Personalentwicklungskonzeptes, das in der Praxis gelebt werden muss.
Zudem wird Assistenzpersonal in der Regel nur befristet finanziert und seine Beschäftigung ist an die Anwesenheit des betreffenden Schülers gebunden. Vor diesem Hintergrund erhalten Assistenzkräfte häufig keinen regulären Dienstvertrag, sondern lediglich einen Individualvertrag mit schlechteren Bedingungen als für das Stammpersonal.
Die knappen Zeitressourcen des Lehrpersonals lassen eine systematische Einarbeitung und Begleitung der Assistenzkräfte im Schulalltag kaum zu. Sie sollen vom ersten Tag an alles können, alles sehen und richtig einordnen. Sie sollen pflegen, auf die Bedürfnisse des Schülers eingehen und das Lehrpersonal entlasten. Eigenschaften, die aber unter Berufsfremden kaum umfassend anzutreffen sind. Die Folge ist Überforderung. Private wie öffentliche Schulträger sind mit in der Pflicht, angemessene Voraussetzungen zu schaffen, damit der Schulalltag gut verläuft.
Landauf, landab ist zu hören, dass das behördliche Antragsverfahren auf Bewilligung einer Assistenz kompliziert und langwierig ist. Entscheidungen des zuständigen Sozialhilfeträgers brauchen bis zu sechs Monate.
Schulassistenz wird häufig nur befristet bewilligt, obwohl der Hilfebedarf über längere Zeiträume hinweg offensichtlich ist. Unbefristete oder längerfristige Zusagen würden die Personalplanung vereinfachen und die Motivation aller steigern.
Undurchsichtige Vergütungsregelungen
Mitunter variiert die Kostenerstattung zwischen 13 Euro und 70 Euro je Stunde. Berufliche Laien und gut qualifizierte Fachkräfte stehen nebeneinander, die Aufgaben heben sich deutlich voneinander ab. Es besteht eine generelle Intransparenz, die zur Verunsicherung beiträgt. Eine klare Aufgabenbeschreibung und ein eindeutiges Kompetenzprofil müssen nachvollziehbar an die Höhe der Vergütung gebunden sein. Trägerübergreifende Fortbildungsangebote sollten zum Standard werden.
Pool-Lösungen führen zu häufigen personellen Veränderungen
Auch Personalpool-Lösungen finden Aufmerksamkeit. Damit ist die konzentrierte Einstellung von Assistenzpersonal bei einem oder wenigen Trägern gemeint. Die Hoffnung ist, dass somit flexibel auf das Geschehen in einer konkreten Schule reagiert werden kann und die Einsätze von Assistent(inn)en besser koordiniert werden. Durch die Personalverantwortung eines Trägers ließen sich auch Standards besser vereinheitlichen, heißt es. Aus der Praxis ist wiederum zu hören, dass Poollösungen zu häufigen personellen Veränderungen innerhalb einer Klasse führen und ähnlich wie bei der Einsatzplanung in einer Sozialstation oft pragmatische Lösungen gesucht werden. In der Konsequenz kann eine solche Organisationsform zu einer wesentlich höheren Personalfluktuation führen. Das ist aber der Bildung einer vertrauensvollen Lerngemeinschaft zwischen den Schüler(inne)n, der jeweiligen Lehr- und der Assistenzkraft abträglich.
Insofern arbeitet heute das gesamte Schulpersonal unter erschwerten Bedingungen. In einer solchen Situation ist es notwendig, alle inhaltlichen und organisatorischen Aufgaben genau zu beobachten, zu analysieren und auf deren Effektivität und Effizienz hin zu überprüfen.
Klare Konzepte statt Aktionismus
Schüler(innen) mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben Anspruch auf besondere Unterstützung. Dieser kann Rechnung getragen werden, indem die Personalressourcen stabil den Erfordernissen angepasst sind. Neben baulichen und guten organisatorischen Voraussetzungen stellen die personellen Rahmenbedingungen einen wesentlichen Faktor von Erfolg dar. Entscheidend für einen gelingenden Inklusionsprozess in der Schule ist aber, dass eine klare Konzeption vorliegt. Ansonsten ist die Gefahr von Aktionismus groß. Doch Aktionismus führt oft zu Irritationen und die Folge ist häufig Frustration. Lehrpersonal, Schüler(innen), Eltern, Gesundheits-, Sozial- und Schulamt sind mehr als nur die bloße Ansammlung von Teilen.6 Sie machen das System aus, in dem der einzelne Schüler bestehen muss.
"Solidarität allein reicht nicht aus, wenn das erforderliche Geld fehlt."7 Vieles mag gut gemeint sein, aber es verhindert nicht die mangelhafte Ausführung. Langfristig gelingt eine individuell wirksame Unterstützung erst dann, wenn auch eine gute Beziehung zwischen Schüler(in) und Lehrer(in) beziehungsweise Assistenzpersonal aufgebaut werden kann. Doch die zwischenmenschliche Beziehungsgestaltung benötigt Zeit. Daher bedarf es eines radikalen Umdenkungsprozesses. Anstatt weiter mit vermeintlichen Alibihilfen allenfalls eine temporäre Problemberuhigung zu erreichen, sollte der Personalschlüssel für das pädagogische Fachpersonal systematisch qualitativ und quantitativ erweitert werden.
Anmerkungen
1. Es existieren mehrere Begriffe für Schulbegleitung. Folgend wird nur noch von Assistenz(personal) oder assistierenden Hilfen gesprochen.
2. Vgl. Dworschak, W.: Schulbegleitung. Individuelle Hilfe und Unterstützung beim Schulbesuch - Ein Beitrag zur Inklusion!? www.familienhandbuch.de/kita/inklusion/Schulbegleitung.php
3. Caritas-Studie Schulabbrecher, www.caritas.de/bildungschancen
4. Vgl. Speck, O.: System Heilpädagogik. München: Reinhardt-Verlag, 1998, 4. Aufl., S. 334 f.
5. Vgl. ebd., S. 261.
6. Capra, F.: Lebensnetz. Bern/München/Wien: Scherz-Verlag, 1996, S. 17.
7. Speck, O.: System Heilpädagogik. München: Reinhardt-Verlag , 1998, 4. Aufl., S. 174.
Chancen und Gefahren der Schulbegleitung
Eine inklusive Zwischenlösung mit Risiken und Nebenwirkungen
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