Chancen und Gefahren der Schulbegleitung
Kinder und Jugendliche mit Behinderung können eine Schulbegleitung beantragen, die sie beim Schulbesuch unterstützt. Für viele Kinder mit sogenanntem sonderpädagogischen Förderbedarf ermöglicht erst die Schulbegleitung den Besuch einer allgemeinen Schule und somit einen Schritt in Richtung Inklusion. Die Schulbegleitung ist eine Maßnahme der Eingliederungshilfe beziehungsweise der Kinder- und Jugendhilfe und ergänzt die sächlichen und personellen Ressourcen der Schule. Dieses Nebeneinander lässt neben den Stärken auch kritische Aspekte deutlich werden.
Gesetzliche Grundlagen
Mittlerweile herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung den Einsatz von Assistenzpersonal notwendig macht, das die Lehrkräfte bei dieser herausfordernden Aufgabe unterstützt. In Bayern sind dies bisher vor allem die sogenannten Schulbegleiter(innen), die auf der Grundlage der Eingliederungshilfe (Sozialgesetzbuch (SGB) XII) beziehungsweise der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) beantragt werden können. Neben der Bezeichnung Schulbegleitung finden sich auch die Begriffe Integrationshilfe, Schulassistenz oder Individualbegleitung.1 Schulbegleiter(innen) werden häufig als Unterstützung beim Besuch der allgemeinen Schule eingesetzt. So erhalten zum Beispiel nahezu alle Kinder mit geistiger Behinderung eine Schulbegleitung, wenn sie die allgemeine Schule besuchen möchten. Schulbegleitungen werden aber nicht nur zur Unterstützung der Inklusion eingesetzt. Ein beträchtlicher Teil der Schulbegleiter(innen) in Bayern unterstützt Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der Förderschule.2 Bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung (Förderschwerpunkte geistige Entwicklung, körperlich und motorische Entwicklung, Hören, Sehen) wird die Schulbegleitung auf Grundlage von § 54 SGB XII finanziert. Dementsprechend liegt die Beantragung bei den überörtlichen Sozialhilfeträgern.
Bei Kindern und Jugendlichen mit seelischer Behinderung (Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, Autismus-Spektrum-Störung) bezieht sich die Maßnahme auf § 35 SGB VIII. Die Beantragung erfolgt bei den örtlichen Sozialhilfeträgern, den Städten oder Landkreisen. Die Schulbegleitung ist eine Einzelfallmaßnahme, das heißt, jedes Kind erhält in der Regel seine "eigene" Schulbegleitung. Mit dem Bundesteilhabegesetz (§ 112 SGB IX) ist es seit 1. Januar 2020 möglich, dass Leistungen der Eingliederungshilfe an mehrere Kinder gemeinsam erbracht werden, soweit dies zumutbar ist. Im Rahmen dieser sogenannten Pool-Lösungen ist es also möglich, dass eine Schulbegleitung den Bedarf von mehreren Schülerinnen und Schülern abdeckt und sich somit die Zahl der Erwachsenen in der Klasse reduziert.3
Aufgaben und Qualifikation
Welche Aufgaben eine Schulbegleitung zu erfüllen hat, lässt sich nur mit Blick auf den individuellen Hilfe- und Unterstützungsbedarf des Kindes beantworten. Dabei können die Aufgaben ganz unterschiedlich ausfallen.
Unabhängig vom individuellen Hilfe- und Unterstützungsbedarf des einzelnen Kindes wird seit einigen Jahren intensiv darüber diskutiert, für welche Aufgabenfelder Schulbegleiter(innen) zuständig sein sollen. Da die Schulbegleitung rechtlich nicht zum Schulbereich zählt, erscheint es offensichtlich, dass sie keine pädagogisch-unterrichtlichen Aufgaben im engeren Sinne übernehmen darf und soll. Hierfür hat sich der Begriff "Kernbereich pädagogischer Arbeit"4 durchgesetzt. Laut eines Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) beschränkt sich dieser "eng auf die Unterrichtsgestaltung selbst, das heißt die Vorgabe und Vermittlung der Lerninhalte, die Bestimmung der Unterrichtsinhalte, das pädagogische Konzept der Wissensvermittlung und die Bewertung der Schülerleistungen".5
Dieser Bereich ist den Lehrkräften vorbehalten. Schulbegleiter(innen) sind dahingegen sowohl für "unterrichtsbegleitende als auch sonstige pädagogische Maßnahmen, die […] unterstützenden Charakter haben, sowie nichtpädagogische Maßnahmen" zuständig.6 Damit hat das BSG den Verantwortungsbereich der Schulen recht eng, den der Eingliederungshilfe dahingegen recht weit definiert. Dieses Verständnis deckt sich weitgehend mit den Erfahrungen aus der Praxis, die zeigen, dass die Schulbegleiter(innen) ein sehr breites Tätigkeitsfeld haben, das zumeist auch in den pädagogisch-unterrichtlichen Bereich hineinreicht.7
Hier stellt sich die Frage, über welche Qualifikation Schulbegleitungen verfügen sollten. Diese Frage ist nur eingeschränkt pauschal zu beantworten, da sie vom individuellen Hilfe- und Unterstützungsbedarf der Leistungsberechtigten abhängt. In der Praxis sind dennoch Tendenzen erkennbar. Im Hinblick auf Schulbegleitungen, die auf Grundlage des SGB XII beantragt werden, wird eine berufliche Vorbildung in der Regel nicht vorausgesetzt. So ist beispielsweise in Bayern die überwiegende Anzahl der Schulbegleitungen auf Grundlage des SGB XII als (unqualifizierte) Hilfskräfte eingestuft. Bei Schulbegleitungen im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe greift zum Teil das sogenannte Fachkräftegebot, das heißt, dass dort ein deutlich größerer Anteil als Fachkräfte eingestuft ist.8
Chancen und Gefahren
Die größte Stärke der Maßnahme liegt in der zusätzlichen Hilfe, die ein Kind mit Behinderung beim Besuch der Schule erhält. Besonders im Hinblick auf den Besuch der allgemeinen Schule ist es für viele Schulen eine große Entlastung, dass das Kind mit Behinderung nicht alleine in die Schule kommt, sondern eine Person mitbringt, die es ganz individuell unterstützt. Diese Tatsache ist für viele Schulen das ausschlaggebende Argument, Schüler(innen) mit Behinderung aufzunehmen. Aber genau in diesem Punkt liegt auch ein Risiko der Maßnahme. Inklusion fordert von der Schule eigentlich ein grundlegendes Umdenken. Es soll nicht mehr die Frage gestellt werden, ob ein Kind sich an das bestehende System anpassen kann, sondern das System hat sich dem Kind mit seinem individuellen Hilfe- und Unterstützungsbedarf anzupassen.
Vor diesem Hintergrund ist zu beobachten, dass die Maßnahme der Schulbegleitung den Veränderungsdruck, der auf der Schule lastet, insofern abmildert, als dass die Schulbegleitung dem Kind hilft, sich an das bestehende System anzupassen. Die Notwendigkeit, dass sich die Schule verändern muss, wird durch die Schulbegleitung abgemildert. Daher darf die Schulbegleitung auch keinesfalls als die ideale Lösung für die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems angesehen werden. Sie sollte lediglich als kurz- beziehungsweise mittelfristige Unterstützung gesehen werden, bis die allgemeinen Schulen in der Lage sind, Kinder mit Behinderung angemessen aufzunehmen und zu unterrichten.
Schule braucht multiprofessionelle Teams
Hier wird ein weiteres Problem sichtbar: Häufig wird die Schulbegleitung als Expertin/Experte für das Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf angesehen. Dies erscheint angesichts der noch jungen Bemühungen um inklusiven Unterricht aus Sicht der Regelschullehrkräfte zwar nachvollziehbar, angesichts der Anstellungsbedingungen der Schulbegleitungen (überwiegend keine fachliche Qualifikation) jedoch als nicht vertretbar. Die Regelschullehrkraft muss die Verantwortung für das Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf übernehmen und darf sie nicht den zumeist nicht pädagogisch qualifizierten Schulbegleiter(inne)n überantworten.
Hieraus ergibt sich ein weiteres grundsätzliches Problem des derzeitigen Modells der Schulbegleitung. Angesichts der Konstruktion als Einzelfallmaßnahme geschieht bislang eine starke Fokussierung auf das zu begleitende Kind. Damit kann die Schulbegleitung zu einem störenden Faktor, wenn nicht gar zu einem exkludierenden Faktor bei der sozialen Integration des Kindes werden. Eine Möglichkeit, diesem exkludierenden Potenzial von Schulbegleitung zu begegnen, sind sogenannte Pool-Lösungen, das heißt, dass eine Schulbegleitung mehrere leistungsberechtigte Kinder unterstützen kann. Somit wird die enge Beziehung ‚Kind - Schulbegleitung‘ ein wenig aufgebrochen und es entstehen mehr Möglichkeiten zu Interaktionen zwischen begleitetem Kind und Mitschüler(inne)n.9
Schulbegleitung ermöglicht derzeit vielen Kindern und Jugendlichen mit Behinderung den Besuch einer allgemeinen Schule. Dies ist grundsätzlich positiv zu sehen. Schulbegleitung kann jedoch die notwendige Veränderung der allgemeinen Schule hin zu einer inklusiven Schule nicht ersetzen. Am Ende sollte eine inklusive Schule stehen, in der neben den Lehrkräften verschiedene Professionen (zum Beispiel Assistenzpersonal, Schulsozialarbeit, Jugendsozialarbeit an Schulen) zusammen in einem multiprofessionellen Team arbeiten.
Anmerkungen
1. Dworschak, W.: Schulbegleiter, Integrationshelfer, Schulassistent? Begriffliche Klärung einer Maßnahme zur Integration in die Allgemeine Schule beziehungsweise die Förderschule. In: Teilhabe 49 (3) 2010, S. 131-135
2. Bayerischer Landtag: Schriftliche Anfrage zur Situation der Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter in Bayern. Drucksache 18/1988, 2019. Verfügbar unter: www1.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP18/Drucksachen/Schriftliche%20Anfragen/18_0001988.pdf(4.1.2021)
3. Schönecker, L.; Meysen, T.: Rechtsfragen in der Praxis der Schulbegleitung. In: Baden-Württemberg Stiftung (Hrsg.): Schulbegleitung als Beitrag zur Inklusion. Waldkirch: Burger Druck, 2016, S. 22-99. Dworschak, W.; Lindmeier, B.: Zur Notwendigkeit einer konzeptionellen Weiterentwicklung der Maßnahme Schulbegleitung. In Laubner, M.; Lindmeier, B.; Lübeck, A. (Hrsg.): Schulbegleitung in der inklusiven Schule. Weinheim/Basel: Beltz, 2017, S. 150-159.
4. Schönecker, L.; Meysen, T.: a. a.O. S. 31
5. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 18.7.2019, B 8 SO 2/18 R. Verfügbar unter: www.bsg.bund.de/SharedDocs/Entscheidungen/ DE/2019/2019_07_18_B_08_SO_02_18_R.html (4.1.2021).
6. Ebd
7. Dworschak, W.: Assistenz in der Schule. Pädagogische Reflexionen zur Schulbegleitung im Spannungsfeld von Schulrecht und Eingliederungshilfe. In: Lernen konkret 31 (4) 2012, S. 2-7.
8. Dworschak, W.; Markowetz, R.: Professionalisierung von Schulbegleitung in der inklusiven Schule: Ausgangsbedingungen und Qualifizierungscurriculum. In: Weiss, S.; Syring, M.: (Hrsg.): Lehrer(in) sein - Lehrer(in) werden - die Profession professionalisieren. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2019, S. 195-212.
9. Dworschak, W.; Lindmeier, B.: a. a.O
Eine inklusive Zwischenlösung mit Risiken und Nebenwirkungen
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