Das Telefon kann den persönlichen Kontakt nicht ersetzen
Die Auswirkungen der Coronapandemie waren in der gesamten Gesellschaft mehr oder weniger zu spüren. Dass es allerdings Langzeitleistungsbezieher(innen) besonders stark getroffen hat, zeigt das Forschungsprojekt des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) "Auswirkungen der Coronapandemie auf die Beratung, Betreuung und Begleitung von Langzeitleistungsbeziehenden nach dem SGB II1
Das Projekt mit Laufzeit von September 2019 bis August 2021 wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert und im Rahmen des Fördernetzwerks Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung umgesetzt. In dem Forschungsprojekt wurde der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen die Pandemie auf den Personenkreis der Langzeitleistungsbeziehenden hat. Ebenfalls untersucht wurde, wie sich die Pandemie auf die Bemühungen zur Heranführung an und Integration in den Arbeitsmarkt und zur Förderung sozialer Teilhabe und Beschäftigungsfähigkeit auswirkt. In acht regionalen Fallstudien wurden Expertengespräche mit Vertreter(inne)n aus Jobcentern, kommunalen Stellen und Trägern geführt; zudem fan[1]den Interviews mit Langzeitleistungsbeziehenden statt. Die Fallstudien wurden kriterienbasiert ausgewählt, die Teilnahme an den Interviews war freiwillig.
Bei den individuellen Auswirkungen der Pandemie konnte ein breites Spektrum an Verhaltensreaktionen bei den Menschen beobachtet werden. Es reichte von einer hohen Resilienz bis hin zu Überforderung und gänzlicher Isolation. Eine unmittelbare negative Auswirkung auf die persönliche Situation ergab sich aus einer fehlenden Tagesstruktur, denn mit dem Wegfall aktivierender Angebote war diese nicht mehr gegeben. Durch die zunehmende Isolation verstärkten sich auch psychische Probleme, vor allem dann, wenn die Personen über keine sozialen Netzwerke verfügten. Da ein Anstieg der Arbeitslosigkeit zu erwarten war, fielen die Prognosen der befragten Akteure für eine zukünftige Arbeitsmarktintegration pessimistisch aus. Gründe waren zum einen der fehlende Bedarf an Arbeitskräften aufgrund einer unsicheren wirtschaftlichen Lage für die Betriebe; zum anderen reduzierte sich mit der Pandemie auch das Angebot an Praktikumsplätzen und die Möglichkeit des Probearbeitens. Damit fehlte das praktische Erleben, das ein wichtiger Bestandteil der Integrationsarbeit ist.
Jobcenter organisierten Arbeitsprozesse um
Um den heterogenen Problemlagen zu begegnen, um soziale Teilhabe zu ermöglichen und um die Chancen auf eine Arbeitsmarktintegration zu fördern, sind stabile Unterstützungsstrukturen erforderlich. Doch wie funktionieren diese Strukturen in der Pandemie?
Mit Blick auf die Beratung in den Jobcentern zeigen die Forschungsergebnisse eindrücklich, dass die Pandemie zu vielen Reflexionen hinsichtlich der Arbeitsorganisation und der Beratungsprozesse geführt hat. Wie alle anderen Institutionen mussten auch die Jobcenter versuchen, das Infektionsgeschehen einzudämmen. Im Mittelpunkt stand dabei, Kontakte zu reduzieren, indem Homeoffice eingeführt wurde. Weiter wurden Rahmenarbeitszeiten ausgeweitet beziehungsweise Schichtmodelle umgesetzt, um die Raumbelegung zu entzerren. Nicht selten mussten Mitarbeitende der Jobcenter die Gesundheitsämter unterstützen oder aus dem Bereich der Beratung und Vermittlung in die Leistungsabteilung wechseln, weil sich dort das Arbeitsaufkommen erhöht hat. Dies und Personalausfälle aufgrund von Krankheit, Quarantäne oder Kinderbetreuung führten allerdings dazu, dass wiederum der Arbeitsbereich Beratung und Vermittlung unterbesetzt war.
Weil die Jobcenter für den Publikumsverkehr geschlossen waren, mussten Beratungs- und Integrationsprozesse umgestaltet werden. So wurden Klient(inn)en flächendeckend nicht mehr in Präsenz beraten. Die telefonische Beratung entwickelte sich zu einem neuen Schwerpunkt im Kundenkontakt und stellte die Jobcenter vor Herausforderungen. Ein Problem war der teilweise erschwerte Zugang zu den Ratsuchenden über das Telefon, denn einige nutzten die Situation, um sich dem Beratungsprozess zu entziehen, und konnten nicht mehr erreicht werden.
Träger konnten keine niederschwelligen Angebote machen
Auch das Fehlen von Mimik und Gestik im Gespräch erschwerte den Beratungsprozess, da die Mitarbeitenden die Reaktionen der Kund(inn)en nicht sehen konnten. Damit bestand die Gefahr, dass ein Hilfebedarf nicht rechtzeitig erkannt wurde und der Beratungsprozess ins Stocken geriet. Deutlich wurde, dass die telefonische Beratung eine persönliche Begegnung vor Ort nicht ersetzen, sondern nur ergänzen kann.
Gemeinnützige und kommunale Träger sind ein wichtiger Bestandteil der sozialen Infrastruktur. Vor allem für Langzeitleistungsbezieher(innen) sind sie die zentralen Kontaktstellen bei unterschiedlichen Problemlagen und bieten durch ihr Angebotsportfolio verlässliche Unterstützungsstrukturen. Wegen der Kontaktbeschränkungen während der Pandemie mussten die Träger sowohl ihre Arbeitsorganisation als auch ihr Angebotsportfolio anpassen. Um Kontakte zu reduzieren, führten die Träger Homeoffice ein oder arbeiteten in Schichtmodellen, um den kompletten Ausfall des Personals durch Quarantänemaßnahmen zu verhindern und damit ein Beratungsangebot weiter gewährleisten zu können. Je nach pandemischer Lage wurde die Hilfe telefonisch, digital oder mit reduzierter Teilnehmerzahl angeboten. Offene und niederschwellige Angebote gab es allerdings keine mehr. Damit war die auf Präsenz basierende "Komm- und Geh-Struktur", die für viele Ratsuchende sehr wichtig ist, nicht mehr gegeben.
Trotz dieser Einschränkungen legten die Träger großen Wert darauf, den Kontakt zu den Klient(inn)en aufrechtzuerhalten und als Anlaufstelle zur Verfügung zu stehen. So war das Telefon auch für die Träger ein wichtiges Medium zur Kontakthaltung. Allerdings wurde es als sogenannte "Notlösung" betrachtet. Die Träger waren sehr bemüht, möglichst schnell wieder zu einer Präsenzberatung überzugehen, die in den meisten Fällen jedoch nur mit Terminvergabe funktionierte.
Die Pandemie hatte auch wirtschaftliche Auswirkungen auf die Träger. Insbesondere solche, die stark auf Maßnahmen der Jobcenter fokussiert sind, haben finanzielle Einbußen gespürt aufgrund der zeitweiligen Unterbrechungen der Angebote oder einer verminderten Zuweisung an Teilnehmenden. Einzelne Träger konnten die finanziellen Ausfälle nicht kompensieren und mussten schließen.
Jeder kämpft für sich allein
Die Stabilisierung und Aktivierung von arbeitsmarktfernen Personen erfordert eine intensive persönliche Betreuung von Angesicht zu Angesicht, die aufgrund von Kontaktbeschränkungen in der Form nicht mehr vollumfänglich geleistet werden konnte. Gab es vor der Pandemie ein lokales System von Unterstützungsstrukturen, deren Hilfeangebote sozusagen Hand in Hand gingen, so zeigen die Forschungsergebnisse, dass sich im Verlauf der Pandemie die lokalen Institutionen zunehmend auf sich konzentriert haben. Abstimmungsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Institutionen waren nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt möglich. Vor allem die fehlende oder eingeschränkte Erreichbarkeit kommunaler Angebote wie beispielweise Sucht- oder Schuldnerberatung führte dazu, dass Träger und Jobcenter die Ratsuchenden nicht mehr an diese Stellen verweisen beziehungsweise begleiten konnten. Leidtragende dieser Entwicklung waren die ratsuchenden Personen, da sie nicht mehr umfassend beziehungsweise nur noch lückenhaft unterstützt werden konnten. Kommunale Stellen sahen sich nicht als zentrale Anlaufstelle, sondern verorteten diese Aufgabe bei den Jobcentern und Trägern. Dies führte dazu, dass die Jobcenter deutlich stärker in eine Sozialberatung einsteigen mussten - ein Aspekt, der nicht zu ihrem originären Beratungsauftrag gehört. Bei den Trägern wiederum wurden Beratungsangebote nachgefragt, die nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehören. Dennoch bemühten sie sich, die nicht verfügbaren kommunalen Angebote durch ihr eigenes Portfolio zu kompensieren.
Mit der Pandemie hat sich damit eine zentrale Schwäche im Hilfesystem offenbart: Die Zusammenarbeit zwischen kommunalen Stellen, Jobcentern und Trägern hat nicht stabil funktioniert. Es bestand kein Konsens über die Zuständigkeit in der Begleitung von Langzeitleistungsbezieher(inne)n und die Verantwortung wurde den jeweils anderen Akteuren zugewiesen. Personen mit Unterstützungsbedarf sind aus dem Blickfeld geraten. Das Hilfesystem hatte für sie keinen Fahrplan, um die Pandemie zu bewältigen.
Mit Blick in die Zukunft gilt es daher, ein krisensicheres Unterstützungsnetzwerk mit gemeinsamer Zielsetzung zu etablieren, das die Funktionstüchtigkeit des Hilfesystems sicherstellt und Anlaufstellen zur Problembewältigung zuverlässig zur Verfügung stellt. Darüber hinaus ist ein niederschwelliger Zugang zu Beratungsstellen stets zu gewährleisten, um künftig zu verhindern, dass Menschen mit akutem Hilfebedarf nicht alleingelassen werden.
Anmerkung
1. Mehr zum Forschungsprojekt siehe www.iaw.edu; direkter Kurzlink: https://bit.ly/3nkaJXQ
EU-Außengrenze: Raus aus der Falle!
Künstliche Intelligenz als Sozialarbeiterin
Vernetzte Beratung, unterstützt durch Künstliche Intelligenz
Etwas Kurzarbeit, viel Homeoffice
Männer dominieren weiterhin die Geschäftsführung der Träger
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